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In der Sache Ronya Othmann
Alexandru Bulucz
Bildunterschrift
Alexandru Bulucz

Sie erinnern sich vielleicht: Ronya Othman wurde vor kurzem beim Literaturfest Karachi wieder ausgeladen. Dazu wurde viel geschrieben, aber wenig erklärt, warum es gerade Ronya Othmann getroffen hat. Besser erklärt dieses Tohuwabohu und der Streit um Othmann vielleicht die Laudatio, die ich bereits Ende 2022 anlässlich der Verleihung des Horst Bienek Förderpreises an Ronya Othmann, gehalten habe:

Galante Lügen:  die Lyrikkolumne unter der Federführung von Alexandru Bulucz - frei nach Johann Christian Günther, dem Barockdichter auf der Schwelle zur Aufklärung, der Spötter mit den Worten wiedergab, Poeten seien "nur galante Lügner". Hier wird Dichtung reflektiert und präsentiert werden: in Rezensionen, Essays, Monatsgedichten und gelegentlich auch Bestenlisten.

"Sie wissen vielleicht: Ronya Othmann ist nicht nur Lyrikerin, als die sie heute ausgezeichnet wird. Sie ist auch Romanautorin, Essayistin und Kolumnistin wichtigster überregionaler Blätter, ob in Print oder digital. Diese intellektuelle Ganzheitlichkeit im literarischen und journalistischen Feld teilt sie mit nur wenigen im deutschsprachigen Raum, und sie scheut nicht davor zurück, ihre Textgenres als durchlässig füreinander zu halten. War es die Kolumnistin, die das Gedicht komponierte? Die Dichterin, die in ihrer Kolumne aus dem Ausland berichtete? Das ist in meinen Augen gar nicht von Belang. Von Bedeutung ist, dass aus jedem Text von Ronya eine unverwechselbare Stimme voller ethischer und ästhetischer Qualität zu einem spricht. Es ist ein Ronya-Stil, es ist das faszinierende literarische Amalgam aus verschiedenen Schreib- und Sprechweisen. Die Versuche, auf diese Weise verfahrende Literatur zu disqualifizieren, sind nicht neu. Als die Belarussin Swetlana Alexijewitsch, eine studierte Journalistin, 2015 den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, hieß es auch, sie sei weniger eine Schriftstellerin als vielmehr eine Journalistin. Ich erwähne dies deshalb, weil Ronya Ähnliches widerfahren ist, als sie 2019 beim Bachmannwettbewerb ihren Text Vierundsiebzig las. Eine Figur namens Ronya besucht vier Jahre nach dem Völkermord an den Jesiden aus dem Jahr 2014 kurdische Gebiete und trifft bei ihrer Recherche auf Überlebende.

Einige Jurymitglieder versuchten, den Text als unliterarisch zu disqualifizieren. Ihnen fehlte die Distanz zwischen der Autorin Ronya und der literarischen Figur Ronya. Autorin und Sprecherinfigur miteinander gleichsetzen kann aber nur, wer keinen Unterschied macht zwischen Autobiografie und Autofiktion und auch nicht wahrhaben will, dass die sozialwissenschaftliche Feldforschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung längst zum Repertoire autofiktionaler Texte gehört. Oder: Besagten Jurymitgliedern schien der Text insgeheim zu journalistisch zu sein, zu reportagehaft, zu dokumentarisch.
Das Symbol des Journalismus ist in Ronyas Gedichten das Aufnahmegerät. Es kommt in einem der letzten Texte des Buches vor: dem Gedicht „alles, was du sagen willst, passt in diesen raum“.

einen bodensatz zucker, der zurück
Bleibt im glas, wenn du ausgetrunken hast.
eine linkshändige frau mit einer narbe auf dem
handrücken wie ein pfeil, als würde er auf das deuten,
was sie nicht sagt.
du bist gekommen, um zu notieren: die wände,
mörtel, ziegel und zement, ein haus
ohne haut, und fenster aus plastikplanen,
die aufklaffen im wind.
das klirren von löffeln im glas, das geräusch
von nackten füßen auf beton. der saum
eines kleides, der über den boden streicht.
du schaltest das aufnahmegerät aus.
du bist deinen mördern nichts schuldig,
auch wenn du davongekommen bist.
die narbe bewegt sich mit der hand,
wenn sie spricht und schweigt,
sich eine strähne aus dem gesicht hinter das
ohr streicht oder der pfeil sich im haar verfängt.

Das Gedicht steht exemplarisch für eine Reihe von Texten des Gedichtbandes. Zu dessen Notationssystemen zählen, wie soeben gehört, Listen, mithilfe derer Vorgefundenes, Übriggebliebenes, Davongekommenes inventarisiert werden – unter Zuhilfenahme aller fünf Sinne. Das Inventar und das Schweigen der linkshändigen Frau scheinen aussagekräftiger zu sein als die aufgezeichneten Worte selbst. Mit dem Ausschalten des nutzlos gewordenen Aufnahmegeräts kippt das Gedicht schließlich in die Reflexion über Überlebensschuld – an anderer Stelle ist es die Scham. Und auch das lyrische Du, das dialogische Prinzip, ist typisch für Ronyas Poesie. Es ist kein konstantes Du, sondern pronominales Durchgangsmedium verschiedener Zeugnis ablegender Figuren: eines Vaters etwa oder einer Großmutter. Oder Markierung von Selbstansprache.

Nicht immer ist es möglich, die Figuren eines einzelnen Gedichts auseinanderzuhalten. Manchmal hat man den Eindruck, sie gehen ineinander über, verschmelzen miteinander. Welches Du, um auf das zitierte Gedicht noch einmal zurückzukommen, trinkt aus? Die vernarbte linkshändige Frau? Das investigative Ich, das gekommen ist, um zu notieren? Und welches Du ist eigentlich davongekommen? – Ich meine, diese Lektüreirritationen sind von Ronya beabsichtigt.

Die gelegentliche Ununterscheidbarkeit von investigativem Ich und Überlebenden spricht einen größeren Problemkomplex des Gedichtbandes an: Bis zu welchem Grad kann sich das investigative Ich in die Überlebenden und deren Leid hineinversetzen, hineinfühlen? Bis es identisch ist mit ihnen? Das ist natürlich unmöglich und würde das Leid der Überlebenden relativieren. Die Paradoxie, in der die Gedichte von Ronya gedeihen, ist daher folgende: Das Leid des Überlebenden-Kollektivs, zu dem das investigative Ich qua Herkunft gehört, ist Bestandteil von dessen Identität, auch wenn es sich die Primärerfahrung des Leids nie ganz zu eigen machen kann. Worum es hier geht, wird, insbesondere in den Sozialwissenschaften, als »transgenerationale Traumaweitergabe« diskutiert. Wohin ist das investigative Ich gekommen, um zu notieren? Im Gedichtband werden einige Städtenamen genannt: Afrin etwa, Mossul oder Ninive. Städte also in Syrien und dem Irak – man kann auch sagen: Städte in Kurdistan, wo in der jüngeren Vergangenheit Kurden und Jesiden erneut Opfer von Verfolgung und Spielball der regionalen Konflikte waren. Nachdem 2018 türkische Truppen in Afrin einmarschiert waren, machte Ronya im Übrigen zu Recht darauf aufmerksam, dass dies mit deutschen Panzern geschah und die deutsche Regierung deshalb involviert sei. Ein Gedicht über Afrin endet nun mit den Zeilen:

dies ist nicht die beschreibung einer
stadt. dies ist eine beschreibung, die einmal eine stadt war.
dies ist eine beschreibung einer, die einmal eine stadt war.

Ronyas Vater ist ein vertriebener kurdischer Jeside, er wuchs in einem Dorf nahe der syrisch-türkischen Grenze auf. Ihre Familie musste 2014 vor dem sogenannten »Islamischen Staat« aus Syrien fliehen. Sie selber sei oft dort gewesen und habe viele Erinnerungen an die besuchten Orte, sagte Ronya in einem Interview. Genau diese Erinnerungen dokumentieren nun auch die Gedichte. In ihnen ist, wie im Text zum Bachmannwettbewerb, mehrmals die Rede von den »vier Jahren« danach. Damit ist der Besuch gemeint der Schauplätze des Völkermords an den Jesiden durch den »IS«, vier Jahre nachdem er stattgefunden hat. Ein weiteres trauriges Kapitel in der Geschichte der Jesidenverfolgung, die schon im 15. Jahrhundert begann.

Manche Schreibende verfolgen Themen, und das merkt man als Leser. Manche Themen verfolgen Schreibende, und auch das merkt man als Leser. Die tiefschürfende Auseinandersetzung mit Vertreibung, Flucht und Heimweh, mit Repressionen von und Massakern an Minderheiten weltweit ist das Thema, von dem Ronya aufgrund ihrer eigenen Familiengeschichte verfolgt wird als Schriftstellerin und Journalistin. Es ist ihr Lebensthema. Wir haben es hier, was kurdische und jesidische Schicksale angeht, im Grunde genommen mit einer doppelten Verfolgung zu tun. Aus der physischen Verfolgung ergibt sich für Überlebende und die Nachkommen der Opfer zwangsläufig eine seelische. Die Verbindlichkeit, der Ernst, der Existentialismus von Ronyas Gedichten, aber auch ihres Prosa- und journalistischen Werks dürfte daher nicht verwundern. Es ist der einzige Weg, mit all der Tragik umzugehen.

Und nebenbei sei auch erwähnt, dass Ronya nicht nur in ihren Texten für historisch Marginalisierte eintritt, sondern auch in einer Vita activa. Sie ist seit sechs Monaten im Leitungsgremium des PEN Berlin und leistet seitdem unter großem persönlichen Aufwand praktische Hilfe für verfolgte Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland. Und wie das Schicksal es so wollte, war der erste Fall des PEN Berlin die in der Türkei verfolgte türkisch-kurdische Lyrikerin Meral Şimşek. Mit am intensivsten wird sie von Ronya betreut.
Der heute ausgezeichnete Gedichtband heißt die verbrechen, auch weil Ronya, um sie aufzuklären, eine große, eine regelrecht kriminologisch-forensische Anstrengung unternimmt und das Land, wo sie stattfanden, sich zu eigen macht. Nichts, was nicht der Betrachtung wert wäre, und nicht, dass nicht schon »zu viel gesehen« worden wäre. Die durch die Verbrechen zerstörten Anordnungslogiken von Innenräumen, Gebäuden, Gärten, ganzen Siedlungen werden zentimetergenau sprachlich rekonstruiert und in das archivarische Gedächtnis des Gedichts überführt. Die Methode, die bei diesem poetischen Wiederaufbau einer mutwillig vernichteten, einer untergegangenen Welt angewendet wird, nennt Ronya: »rückwärts lesen«.

man muss die steine
rückwärts lesen. von der kuppel beginnend, sonnenförmig,
die strahlen. die kuppel aber landete, die kuppel ohne kuppelrumpf
und kuppelspitze aber landete nach der detonation
drei meter und zehn zentimeter weiter.
rechnet man den schutt, die steine zurück bis ins gebäude,
bekommt man einen tempel.

Und so werden ganze Straßen, Wege, Wälder, Berge oder Dörfer »rückwärts gelesen«. Alte Karten, Wegekarten, werden zu Rate gezogen, und es wird auch selbst kartografiert. Noch das unscheinbarste Beweismittel wird dem »vernarbten Gelände«, der verbrannten Erde abgerungen. Dort sind relevante Informationen gespeichert. Das Gedicht mit seiner
»verkarsteten Stimme« wird zum Aufschreibesystem nicht nur für die Überlebendenberichte, sondern auch für die Landschaftsprotokolle, das Landschaftsgedächtnis.

was dir abhanden
kam, an diesem vormittag im september.
was seine spuren hinterließ, wie das profil
der reifen in der erde, die stiefel der soldaten,
die deinen bruder mitnahmen, deinen vater, an
diesem tag, so unverändert blau und
an den rändern eingestaubt.

Bei ihrer Kartografierung von Verlust und Trauer beschwören die Gedichte auch mythisch anmutende Landschaften und rücken durch eine Fülle von Details das ländliche Leben in den Vordergrund: die Arbeitsabläufe, den Pflanzenreichtum, die Baumbestände. Haus- und Nutztiere wie Hühner werden zu Chiffren des märchenhafte Züge tragenden Lebens. Doch es bleibt nicht einfach nur bei der Beschwörung, denn immer wieder wird sie mit dem Unheil der Zerstörung konterkariert.
Man fragt sich, wie Ronya an so viel ausgreifendes Wissen herankommt. Sie reist viel, natürlich. Daher auch die beeindruckende Stoffsicherheit ihrer Gedichte und ihr komparatistischer Blick auf bestehende Verhältnisse. Sie schreibt auf, was sie mit ihren eigenen Augen gesehen hat. Doch sie schaut sich auch an, was unsereinem zum Glück meistens vorenthalten wird in den sozialen Medien. Sie betreibt für uns, sozusagen, Content Management. In einem Interview erzählte sie zum Beispiel von Bildern und Videos, die sie fast in Echtzeit erreichten. »Bilder von zerfetzten Kindern, Videos von Morden und ethnischen Säuberungen und von türkischen Faschisten, die Fotos getöteter Kurden posten«.

Sie können sich sicher vorstellen: Ronyas öffentliches Wirken für historisch Marginalisierte macht sie im digitalen Raum zur Zielscheibe von Hass und Hetze. Ich möchte nicht in ihren Schuhen stecken und kann mich nur darüber wundern und dafür bedanken, wie souverän und unbeirrt sie in ihrer Vita contemplativa ihre Vita activa weiterführt et vice versa.

Und auch das, nämlich das Nachdenken über die digitale Vermittlung von Krieg und Unterdrückung, findet Eingang in die Gedichte: »kino der mörder« und »kino der opfer« heißt das dichotomische Paar, mit dem Ronya ihre Medienkritik markiert und ihrer sinnlich aufgeladenen Poesie eine weitere theoretische Dimension mitgibt.

Ronya Othmann | die verbrechen. Gedichte | Carl Hanser Verlag | 20 EUR

Ronyas Literatur fußt auf individuellen Erfahrungen und ist doch Arbeit an kollektiven Gedächtnissen. Ihr fast schon biblischer Benennungsfuror, ihre Wut der Erinnerung an das beschädigte, an das annihilierte Schicksal, ihre poetischen Gänge zu den Gräbern, ihr Verzweifeln an Vermissten- und Gestorbenen-Listen, die sich lesen »wie nummern« – all das ist eine groß angelegte Schmerzdarstellung und natürlich Ausdruck einer unendlichen Klage, auf die keine Antwort angemessen ist.

die verbrechen ist keine Erlebnispoesie, sondern Erleidenspoesie. Es ist ein Monument für die Unschuldigen, und ich glaube, dass Horst Bienek, dem selber historisches Unrecht widerfahren ist, sehr einverstanden wäre mit der Vergabe des Förderpreises an Ronya."