Große Kunst! Große Kunst?

Große Kunst! Große Kunst?

Besprechung einiger besonderer Comics des letzten Jahres
Winfried Weiser
Bildunterschrift
Winfried Weiser by Bravo

Michèle Fischels | Outline | Reprodukt | 208 Seiten | 24 EUR

Ausgezeichnet! Michèle Fischels - Outline: Wer jemals ein Gymnasium besucht hat, der weiß, wie wichtig die korrekte Wahl eines passenden Mottos für den gesamten Jahrgang werden kann. Schließlich ist man der felsenfesten Überzeugung, man müsse der Welt die Bedeutung und Kreativität dieses Jahrgangs unter Beweis stellen: "Wasabi - Scharf im Abgang" ist also das Statement der Schülergruppe, um die es hier geht. Die Graphic Novel erzählt nämlich vom Abschlussjahr einer Jugendgruppe vor dem Abitur und den dadurch aufscheinenden letzten Malen und Neuorientierungen: der letzten Klassenfahrt, der letzten Party, dem Unwissen, was die berufliche Zukunft bringen soll und wird. Dabei folgt Fischels der Clique um Ben, Andreas und Clara, die sich zwischen Abivorbereitung und der Bewerbung für einen Studienplatz neu orientieren müssen. In all dem Durcheinander bahnen sich auch noch Brüche und Neuanfänge in Beziehungen und der Liebe an. Die Schule wird so für die Protagonisten gleichzeitig Tür und Sprungbrett: Prüfungen stehen an, Freundschaften werden in Frage gestellt und Schritte zur Klärung des komplizierten Beziehungsgeflechts müssen unternommen werden.

Michèle Fischels - Outline

Mit Outline hat Michele Fischels damit ein Werk geschaffen, das sich in das boomende Genre der Young-Adult-Literatur einfügt, seine Grenzen aber neu absteckt. Als ihre erste Buchveröffentlichung wurde Outline dafür bereits mit dem Luchs des Monats September 2024 und dem Luchs des Jahres ausgezeichnet, vergeben von Die Zeit und Radio Bremen. In der Laudatio hieß es: "Fischels beweist, dass die Sprachlosigkeit der Jugend nicht das Ende der Kommunikation sein muss, sondern ein Anfang sein kann – voller Bilder, die mehr sagen als tausend Worte." Dieser Satz bringt auf den Punkt, worin die Stärke von Outline liegt: der suggestive Minimalismus. 

Fischels gelingt es, diese Themen mit Subtilität und empathischer Ironie zu behandeln. Im Vergleich mit Tillie Waldens Auf einem Sonnenstrahl verzichtet sie aber auf deren epische, fast märchenhafte Erzählweise und schlägt einen offeneren, weniger auserzählten Weg ein. Sie löst die durchaus strukturierte Handlung zugunsten einer assoziativen, beinahe tagebuchartigen Struktur auf. Die Panels wirken so manchmal wie lose Erinnerungsfragmente, die aber gerade in ihrer nur scheinbaren Unverbundenheit ein größeres Ganzes entstehen lassen. 

Der reduzierte Strich erinnert dabei an die französische Tradition von Künstlerinnen wie Claire Bretécher und Catherine Meurisse, die ebenfalls mit sparsamen Linien und prägnanter Bildsprache arbeiten. Auch der nervöse Strich von Gipi schimmert durch, insbesondere in den Momenten, in denen die innere Zerrissenheit der Protagonisten visuell greifbar wird. Die minimierte Linienführung und die dezente Farbgebung unterstreichen den introspektiven Charakter des Werks. Ihre Linien sind schlicht, aber lebendig, und vermeiden unnötige Verzierungen. Diese Klarheit ist jedoch kein Selbstzweck: Sie dient dazu, die Emotionalität der Geschichte zu verdeutlichen, sie hat damit expressive Funktion (vgl. Bild oben, S. 113). 

Outline fügt sich damit nahtlos in den Boom der Young-Adult-Literatur ein, die sich zunehmend auch grafischer Ausdrucksformen bedient. Fischels beweist mit ihrem Romandebüt, dass sie besonders für junge LeserInnen eine Stimme hat, die gehört werden sollte – und dass ihre Kombination von Bild und Text einen soghaften Resonanzraum schaffen kann. Man darf gespannt sein, welchen Themen sich die junge Künstlerin demnächst zuwendet, wenn sie einmal das Young-Adult-Genre überschreitet.

 

Gipi | Geschichten aus der Provinz | avant Verlag | 208 Seiten | 35 EUR

Gar nicht provinziell! Gipi - Geschichten aus der Provinz: Mit Irgendwie und Sowieso hat Franz Bogner in den 80er Jahren der bayerischen Provinz ein heiter-melancholisches Denkmal im Fernsehen gesetzt. Diese vage Unbestimmtheit findet man auch in Gipis Erzählband wieder. 20 Jahre nach der heimeligen TV-Serie ist aber zumindest in Italien ganz und gar Schluss mit lustig in der Provinz. Schon die Hauptepisode Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte (Appunti per una storia di guerra), die einen zentralen Bestandteil von Gipis Werk darstellt, zeichnet ein eindringliches Bild von Gewalt, Macht- und Überlebenskämpfen in einem von Konflikten und Bandenkriminalität geprägten Umfeld. 

Die Geschichte spielt in einem nicht näher benannten Landstrich, der von sozialen und politischen Unruhen erschüttert wird. Jedoch wird der Konflikt nie detailliert benannt. Vielmehr bleibt er als diffuse, bedrohliche Präsenz im Hintergrund, die die Lebensrealität der Charaktere bestimmt. Die Handlung bezieht sich also nicht auf einen spezifischen Krieg, sondern nutzt dessen unheimliche Präsenz eher als Bild für die alltägliche Gewalt, die Menschen erleben. Im Mittelpunkt der Erzählung steht eine Gruppe von jungen Männern, die sich in diesem destruktiven Milieu bewegen und so eine Reihe von Überlebensstrategien entwickelt haben, letztlich auch von Gewaltakten nicht zurückschrecken. Es geht um ihren Ein- und Aufstieg in eine kriminelle Struktur, die in diesem System das Sagen hat. 

Gipi - Geschichten aus der Provinz

 

Gipi stellt dabei die psychologische Entwicklung dieser Jugendlichen und ihren Umgang mit der fortwährenden Bedrohung durch Gewalt und Macht in den Vordergrund. Ihre Welt ist von einer unaufhaltsame Abwärtsspirale im Rahmen dieses Systems bestimmt. Die Geschichte fokussiert sich auf den alltäglichen Kampf um ein sogenanntes besseres Leben und auf die Suche nach männlicher Identität (vgl. z.B. Bild oben, S. 66). In den Bandenstrukturen finden die Jugendlichen Zugehörigkeit, erhalten selbst Macht und zahlen dafür auch den Preis: Angst und der ständige Druck, sich in dieser Welt zu behaupten, indem sie sich ihren Regeln unterwerfen. 

Der dabei im Hintergrund schwelende Krieg, der die Lebensrealität der Jugendlichen prägt, ist eine düstere, vage Atmosphäre von Unsicherheit, Angst und bedrohlicher Stille. Diese Unbestimmtheit lässt den ihn als Metapher für das oft chaotische und von Machtkämpfen geprägte Leben der Jugendlichen stehen. Die Frage nach dem „Warum“ der Gewalt bleibt unbeantwortet, was die Konflikte aber nur umso beklemmender macht. Dieser Krieg ist eine Bedrohung, die aus verschiedenen Quellen stammt: Bandenkriminalität, soziale Ungleichheit, Zerbrechlichkeit von Beziehungen, allgemeine Hoffnungslosigkeit, die besonders Jugendliche nicht nur in der italienischen Provinz erleben: Der deutsche Osten schwingt im Hintergrund gedanklich immer mit. Der Krieg ist allgegenwärtig, er ist manchmal unsichtbar und bleibt unscharf, aber er ist immer da. Die Provinz, in der die Geschichte spielt, ist somit weniger ein konkreter geographischer Raum, sie symbolisiert vielmehr das Gefühl der Isolation und das Fehlen von Perspektive. In der Provinz ist der Raum für Entfaltung und Entwicklung begrenzt, es herrschen Strukturen vor, die den Protagonisten kaum eine Wahl lassen. 

Gipi verwendet in dieser Geschichte seine charakteristische Zeichentechnik, die oft schnell im Strich und stark reduziert erscheint. Die Figuren wirken so meist schemenhaft oder grob skizziert. Diese Reduktion schafft einerseits eine gewisse Distanz, so gelingt es aber, das einzelne Bild auf das Wesentliche einer Person oder Situation zu fokussieren. Andererseits zwingt sie den Leser zugleich dazu, sich intensiv mit ihren emotionalen und psychologischen Dimensionen auseinanderzusetzen. Die Deformation der Welt und der Psyche der Charaktere wird durch den Zeichenstil umso intensiver spürbar. Die Bilder erinnern nicht umsonst immer wieder an die Charakterstudien eines George Grosz. Gestützt wird all das durch flächige Grauschattierungen, die die Grundstimmung der Handlung auf den Punkt bringen. 

Auch die anderen Episoden Die Unschuldigen (Gli innocenti), Sie haben das Auto gefunden (Hanno trovato l'auto), Zwei Pilze (Due funghi) und Die tote Hand (La mano morta) thematisieren die Lebensfaktoren Gewalt und moralische Ambiguität. Sie sind gekennzeichnet von der Suche nach Identität und Zugehörigkeit in einem Umfeld von Isolation und Entfremdung. Starke Symbole, die motivisch eingesetzt werden (wie das Auto oder der Pilz), unterfüttern die Handlung mit einer bildhaften Ebene und verstärken deren emotionale Wirkung.

Joe Sacco | Palästina | Edition Moderne | 302 Seiten | 29 EUR

Immer noch aktuell! Joe Sacco - Palästina: Kein Comic-Künstler hat das journalistische Erzählen so sehr geprägt wie der maltesisch-US-amerikanische Zeichner und Autor Joe Sacco. Sein Band Palästina (1993–1995 als Einzelcomics publiziert, erstmals in deutscher Übersetzung 2004) gilt als eines der bedeutendsten Werke im Genre des dokumentarischen Comics. Seine Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind düster, detailreich und wirken oft nahezu überfrachtet. Sie sind damit aber vor allem ein Spiegelbild der Komplexität der dargestellten politischen und menschlichen Tragödie. Der Reporter und Zeichner Joe Sacco reist in den 90er Jahren ins Westjordanland und in den Gazastreifen, um den Alltag der Menschen unter der israelischen Besatzung zu dokumentieren. Er führt Interviews mit palästinensischen Zivilisten, die von den Auswirkungen der Besatzung berichten, und zeichnet die Geschichten von Leid, Angst, Hoffnung und Widerstand auf. Sacco wechselt zwischen Interviews, persönlichen Erlebnissen, Sachinformationen und investigativen Momenten, was aus dem Comic eine klassische Reportage macht. Er ist damit nicht nur eine Sammlung von Einzelberichten, sondern auch eine kritische Reflexion darüber, wie der Konflikt überhaupt entstanden ist, welche historischen Missverständnisse und politischen Entscheidungen die Spannungen immer weiter verstärkt haben und welche Machtverhältnisse hier auf dem Spiel stehen. Während Sacco selbst als westlicher Ausländer stets eine gewisse Distanz zu den Erzählungen hat, gelingt es ihm doch, eine empathische Perspektive einzunehmen, die es dem Leser ermöglicht, sich in die oftmals ausweglos erscheinende Situation der Palästinenser hineinzuversetzen (vgl. Bild unten, S. 150). 

Joe Sacco - Palästina

Die Ereignisse vom 7. Oktober 2023, als die Hamas einen groß angelegten Terrorangriff auf Israel startete, sind in der Neuauflage von 2024 nicht direkt thematisiert, da sie nach den dargestellten Ereignissen stattfanden. Jedoch lässt sich die Relevanz von Saccos Werk gerade auch im Kontext der Ereignisse von 2023 ableiten. In gewisser Weise kann Palästina als eine Art Vorgeschichte angesehen werden, die einige der Wurzeln des aktuellen Konflikts beleuchtet: ungelöste politische Fragen, die Gewaltspirale und die komplexen gesellschaftlichen Auswirkungen für die Menschen auf beiden Seiten. Die Auseinandersetzung mit diesen langfristigen Spannungen ist nämlich ein zentrales Anliegen von Saccos Werk. In seinem Vorwort zur Neuauflage von 2024 schreibt er daher: „Für beide Völker steht immer mehr auf dem Spiel. Man kann nur beten, dass gute Menschen auf beiden Seiten zueinander finden, vom Abgrund weggehen und einen gerechten Weg suchen.“ Joe Saccos grafischer Stil ist unaufdringlich und präzise. Die Zeichnungen sind realistisch, aber gleichzeitig stilisiert und bewusst reduziert. Sie erinnern an Chris Ware, Charles Burns und am Rande auch an Robert Crumb. Der Fokus liegt auf den Gesichtern der Menschen und auf zentralen Details der Umgebung, die die Ausdruckskraft der jeweiligen Situation betonen sollen. Zwar sind die Szenen oft in einem klassischen, vierspaltigen Layout angeordnet, doch experimentiert Sacco auch mit wechselnden Perspektiven und Bildgrößen. Panels werden aufgelöst, Sprechblasen dominieren streckenweise die Handlung oder sie werden nach Bedarf völlig zurückgedrängt, um der Atmosphäre einer Situation Raum zu geben. Auch zeichnerisch wird damit der journalistischen Vielfalt der Reportage Rechnung getragen. Wer also mehr an den Hintergründen eines schier unlösbaren Konflikts interessiert ist als an den aufgeheizten tagespolitischen Debatten, der kann hier seinen Horizont erweitern.

 

Reinhard Kleist | Low | Carlsen | 176 Seiten | 25 EUR

Bowie, our hero! Reinhard Kleist - Low: "I, I can remember / Standing, by the wall / And the guns, shot above our heads / And we kissed, as though nothing could fall." Sofort sind die hypnotischen Klänge wieder im Kopf. "We can be heroes, just for one day!" So sang Bowie in seiner Berliner Zeit - und wir alle fühlten uns wie Helden mit David Bowie. Diesem Gefühl der späten 70er Jahre spürt nun dieser Band nach und nimmt uns wieder in diese Zeit zurück. 

Reinhard Kleist ist hierzulande der Meister der biographischen Graphic Novel und hat mit Low ein Werk vorgelegt, in dem er sich erneut dem Leben der Musiklegende David Bowie widmet. Low ist aber nicht nur eine Biographie in Comicform, sondern auch eine künstlerische Auseinandersetzung mit der komplexen Persönlichkeit und den wechselhaften Lebensphasen Bowies. Starman von 2021 behandelte Bowies Aufstieg in den 1970er Jahren, insbesondere seine Zeit als Ziggy Stardust und seine Transformation zur ikonographischen Figur. Mit Low folgte 2024 nun der zweite Teil. Der Band widmet sich der Phase nach dem großen Erfolg von Ziggy Stardust, als Bowie eine kreative Krise durchlebte und sich nach Berlin zurückzog. Der Comic konzentriert sich auf die Entstehung seines bahnbrechenden Albums Low, das den Beginn der sogenannten „Berlin-Trilogie“ markierte und einen damals neuen, experimentellen Weg in Bowies Musik einleitete. Kleist fängt die düstere und gleichzeitig innovative Atmosphäre dieser Zeit ein, als Bowie mit persönlichen Problemen und kreativen Experimenten kämpfte. Der fluchtartige Aufenthalt in Berlin bedeutete für Bowie eine Art Befreiung von den Zwängen seines bisherigen Lebens.
 

Reinhard Kleist - Low

Die Erzählung ist dabei nicht linear, sondern springt immer wieder zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her. Kleist beginnt mit Bowies Wohnungssuche und einer Szene, in der er in einem Studio in Berlin an den Aufnahmen zu Low arbeitet. Er montiert dann farblich nahezu monochrom abgesetzte Rückblenden ein, um die Entwicklungen in Bowies Leben zu zeigen, die zu diesem Album führten. Themen wie Drogenabhängigkeit, kreative Blockaden und das Gefühl der Entfremdung von seinem Umfeld und seiner eigenen Rolle werden zur Sprache gebracht. Und immer wieder schwebt der Starman als Ikone der Vergangenheit durchs Bild. Diese Fragmentierung der Handlung spiegelt auch die Zerrissenheit und den Chaoszustand in Bowie selbst wider und reflektiert gleichzeitig das Album Low in seiner Mischung aus experimentellen Klängen, introspektiven Momenten und emotionalen Ausbrüchen.
Insgesamt zeichnet sich der Stil von Reinhard Kleist durch eine klare und expressive Linienführung aus. Er verzichtet weitgehend auf detaillierte Bildeffekte und setzt stattdessen auf eine minimalistische Gestaltung, die sich eher auf die Figuren konzentriert, Hintergründe oft ausblendet. Die Darstellung von Bowie, Iggy Pop, Brian Eno oder Romy Haag, seinen Berliner Freunden, bekommt so eine Plastizität, die an ikonografische Fotos dieser Personen erinnern. Mehrfach übernehmen die Bilder sogar die Dialogführung, sind quasi selbstredend (vgl. Bild links, S. 61). Visuelle Metaphern, wie z.B. der schwarz rot goldene Mauerblick, schreiben dazu einen Subtext. Diese Bildmotive, seien es Bildern von Schallplatten, Spiegeln oder Fenstern, sind Verweise auf Selbstreflexion, Selbstsuche und Entfremdung.
Ein auf den ersten Blick irritierender Aspekt des Werkes ist die schon fast grelle Verwendung von Farbe. Wer Kleist lange verfolgt, kennt ihn in der Expressivität seiner klassischen schwarzweiß Kontrastierung. Hier nutzt er eine grelle Farbgebung, die in ihrer Intensität an die Ästhetik der 1970er-Jahre, die Albumcover und das visuelle Erscheinungsbild von Bowie in dieser Zeit erinnert. In vielen Szenen überfluten kräftige Farben wie Pink, Blau und Orange mit fast psychedelischem Charakter die Seiten. Es gibt Momente, in denen die Farben regelrecht explodieren, was besonders in den Szenen auffällt, die Bowies Drogenexzesse oder seine ekstatischen musikalischen Momente darstellen. Der Einsatz dieser Farben ist dabei sicher nicht dekorativ gedacht, sondern trägt die Stimmung der Geschichte mit. Die Farben verstärken die Atmosphäre der Verwirrung, der Intensität und der psychischen Anspannung, die Bowie in dieser Lebensphase durchlebte. Allerdings geht dabei ein wenig die düstere Kargheit und Melancholie verloren, die gerade in Kleist Schattierungen und harten Kontrasten aufscheint. Die Darstellung von psychischer Dunkelheit und innerer Zerrissenheit, wie sie sich auch im Cover von Heroes zeigt, dem zweiten Album der Berliner Trilogie Bowies, kommt da nicht voll zum Tragen, weil die grelle Farbgebung mitunter überwältigend ist und den ureigenen grafischen Stil Kleists überlagert. 

Dennoch: Wer Bowie verstehen will, wird hier nicht enttäuscht. Track-Empfehlung zum Lesen des Bandes: Subterraneans von Low - und Heroes geht natürlich sowieso immer!

Christophe Dabitch & Piero Macola | Der Schleuser | schreiber&leser | 224 Seiten | 29,80 EUR

 Das andere Venedig! Christophe Dabitch & Piero Macola - Der Schleuser: Markusplatz, Dogenpalast, Rialto und Seufzerbrücke sind tabu: Hier lernt man Venedig von einer eher unbekannten Seite kennen. Verrostete Hafengelände, verfallene Baracken auf verlassenen Inseln, die Lagune selbst und ihre gefährlichen Untiefen, an denen man tödlich stranden kann, all diese Ort spielen Hauptrollen in dieser besonderen Graphic Novel. Und so wie Venedig von einer ungewöhnlichen Seite wahrgenommen wird, so gehen die Autoren auch das Thema Menschenhandel und Schleusertum von einem unüblichen Blickwinkel an: Paolo sucht seinen Vater. Der ist Fischer, kennt die Lagune in- und auswendig, ist aber seit Wochen verschwunden. Niemand scheint eine Ahnung zu haben, wo er sich aufhält, doch schon bald hat man den Eindruck, dass das Schweigen nur eine Mauer um ein düsteres Geheimnis bildet. So fragt sich Paolo durch die Bars und Hafenkneipen der Stadt, schippert durch die Lagune und hofft, in den schmutzigen Randbezirken der Stadt und in abgelegenen Häusern auf einsamen Inseln Informationen zu bekommen. Schließlich geht auch noch ein Drogendeal seiner Clique schief. Paolo gerät in eine Spirale geheimnisvoller krimineller Machenschaften. Die Mafia und Schleuser haben ihre Finger im Spiel, die Polizei schaut weg oder hilflos zu. Seine Freundschaft zu seinem Kumpel Ahmad, der ihn immer tiefer in diesen gefährlichen Kreislauf hineinziehen will, steht auf dem Spiel. Paolo selbst wird in diese Welt hineingezogen, nicht aus eigenem Antrieb, sondern aufgrund der Suche nach seinem verschwundenen Vater. Doch die Realität ist komplexer, und die Verstrickung von kriminellen Netzwerken, Mafia und Korruption wird ihm bald immer bewusster. Die Geschichte stellt die Frage nach den moralischen Entscheidungen von Einzelnen, die in einem System von Macht und Ohnmacht leben, in dem die Grenze zwischen Täter und Opfer oft verschwimmt. Und Paolo muss sich entscheiden, ob er mit seiner Suche fortfahren will, auch wenn ein tödlicher Ausgang droht. Aber gibt es überhaupt einen Ausweg? 

Venedig, als Stadt der Zerrissenheit, spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Stadt ist hier kein Ort der Schönheit, sondern auch ein Ort des Verfalls, der verlassenen Inseln und der gefährlichen Untiefen der Lagune, die tödlich werden können, wenn man nicht vorsichtig ist. Die verwahrlosten Teile der Stadt, in denen sich der größte Teil der Handlung abspielt, fungieren als perfekte Metapher für die Geheimnisse und die dunklen Ecken, in denen nicht nur das Schleusergeschäft gedeiht. In dieser unerbittlichen Landschaft geht es nicht nur um das Überleben in der physischen Welt, sondern auch um die Frage, wie weit jemand bereit ist zu gehen, um Antworten zu finden – und welche Kompromisse er dabei schließen wird. 

Christophe Dabitch & Piero Macola - Der Schleuser

Piero Macola bringt die düstere Atmosphäre dieser Situation meisterhaft zum Leben. Sein Zeichenstil ist auf den Punkt reduziert, und er schafft es, die tristen und gleichzeitig lebendigen Details der venezianischen Lagune in all ihrer Verfallenheit darzustellen. Die verlassenen Gebäude, die verwitterten Kanäle und die geheimen, dunklen Ecken der Stadt sind nicht nur Kulissen, sondern selbst aktive Elemente der Erzählung (vgl. z.B. Bild links, S. 120). Die gefährlichen Untiefen der Lagune werden zum Symbol für das ungewisse Terrain, das Paolo physisch und moralisch auf seiner Suche durchquert. Die Farbpalette ist dafür bewusst gedämpft gewählt – vor allem Braun-, Grau- und Blautöne dominieren die Seiten. Diese Farben spiegeln nicht nur die Stimmung der Handlung wider, sondern unterstreichen auch das Gefühl von Verfall und Verlust, das die gesamte Erzählung durchzieht. Macola nutzt seinen klaren Zeichenstil, um den emotionalen Zustand der Charaktere und die bedrückende Atmosphäre der venezianischen Hinterhöfe und Laguneninseln zu transportieren. Aber auch die Gesichter der Charaktere sind oft von Schmerz, Wut oder Resignation gezeichnet, kleine zeichnerische Details verstärken das Gefühl von Verlorenheit, das nicht nur Paolo während seiner Reise durchlebt. Der Stil von Piero Macola erinnert dabei in gewisser Weise an die Arbeiten von Gipi, insbesondere in seiner Fähigkeit, Emotionen und Atmosphären durch einfache, subtile, aber kraftvolle Zeichnungen zu vermitteln. Der Schleuser ist so nicht nur ein fesselndes Abenteuer, sondern auch ein Werk, das die Frage aufwirft, welche Position wir selbst zum globalen Handel mit flüchtenden Menschen einnehmen. Machen wir uns auf die Suche nach einer unbequemen Antwort oder verschließen wir einfach nur die Augen, weil es angenehmer ist?

 

Maren &Ahmadjan Amini | Ahmadjan und der Wiedehopf | Carlsen Verlag | 240 Seiten | 26 EUR

Vom Ankommen! Maren & Ahmadjan Amini - Ahmadjan und der Wiedehopf In einer Welt, in der über die Themen Flucht, Migration und das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen täglich von den Medien berichtet wird, ist es keine Überraschung, dass diese komplexen Fragen auch zunehmend in der Literatur und im Comicbereich aufgegriffen werden. Auch dieses Werk ist eine intime Auseinandersetzung mit den Themen Heimat und Identität. Maren und Ahmadjan Amini nutzen die Figur des Wiedehopfs – ein Symbol für Hoffnung und Verwandlung – als roten Faden, um ihre bewegende Geschichte zu strukturieren. 

Maren Amini, eine deutsche Karikaturistin, Illustratorin und Comiczeichnerin, arbeitet unter anderem für Die Zeit, Der Spiegel und die Washington Post. Sie studierte an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg und spezialisierte sich auf Illustration und Comic. Ihr Vater Ahmadjan Amini ist selbst Grafiker. Er wurde in Kabul, Afghanistan, geboren und wuchs in einem nicht unmittelbar von Krieg betroffenen Umfeld auf. Er kam 1972 von dort nach Europa. Er selbst sagt dazu: „Für Deutschland brauchte man nämlich kein Visum und konnte drei Monate bleiben. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern waren hervorragend. Ich bin von Kabul mit dem Flugzeug bis Taschkent geflogen, dann weiter nach Moskau, und von dort mit der Eisenbahn über Polen nach Ostberlin. Dort hat mich eine Beamtin in Empfang genommen und mich direkt in die Bahn nach Westberlin gesetzt.“ Anders als viele Menschen aus Afghanistan, die vor den Konflikten und Kriegen fliehen mussten, hatte Ahmadjan also das Glück, zu einer Zeit nach Deutschland zu kommen, als die politischen Beziehungen zwischen Afghanistan und der DDR noch stabil waren. 

Ahmadjan Amini hat sich während seiner Zeit in Deutschland auf seine berufliche und künstlerische Entwicklung konzentriert. In dieser Hinsicht ist seine Biografie weniger von einer dramatischen Fluchtgeschichte geprägt, sondern von einer kulturellen Wanderung und der Suche nach Identität als Migrant in einem neuen Land (vgl. z.B. Bild unten, S. 108 f.). Dabei ist der Wiedehopf, ein Symbol aus Fariduddin Attars Die Konferenz der Vögel, eine zentrale Figur, die Ahmadjan auf seinem Weg begleitet. Der Wiedehopf fungiert hier nicht nur als Symbol für Ahmadjans Reise, sondern auch als Bild für die spirituelle und identitätsstiftende Suche des Protagonisten. Der Wiedehopf, der in der persischen Dichtung als Führer und Weisheitsbringer auftritt, führt die Vögel auf eine Reise der Selbstfindung. In ähnlicher Weise wird der Wiedehopf in diesem Comic zum Wegweiser für Ahmadjan, der zwischen seiner afghanischen Herkunft und seiner neuen Identität in Deutschland hin- und hergerissen ist. Der Vogel erinnert Ahmadjan an seine Wurzeln und hilft ihm gleichzeitig, sich in seiner neuen Umgebung zu orientieren und seine eigene Identität zu finden.

Maren & Ahmadjan Amini - Ahmadjan und der Wiedehopf

Maren Amini setzt ihren klaren, fast minimalistischen Zeichenstil dafür ein, die komplexen Themen der Migration und der kulturellen Identität prägnant und pointiert darzustellen. Vorbilder sind dabei sicher der französische Karikaturist Georges Wolinski, ein Zeichner der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, und Sempé in seiner sanften, aber präzisen Karikaturkunst. Besonders im Hinblick auf die feine Balance zwischen Humor und Ernst kann er als Referenz dienen. Amini nutzt in ihren Comics einen ähnlichen Weg. Ihre überzeichneten und karikaturhaften Figuren und Szenen sind geprägt von einer entsprechenden Mischung aus Witz und Ernsthaftigkeit, die schnell Zugang bieten, den Leser nicht überfordern, ihn aber gleichzeitig dazu einlädt, sich auf die Geschichte einzulassen, ohne von der Schwere des Themas überwältigt zu werden. Der Vergleich von Ahmadjan und der Wiedehopf mit Der Schleuser von Christophe Dabitch und Piero Macola bietet interessante Einblicke in völlig unterschiedliche Herangehensweise an das Thema Migration im Comic. Während Der Schleuser in einem düsteren, spannungsgeladenen Realismus die Geschichte eines Jungen erzählt, der in die Welt des Menschenhandels gerät, ist Ahmadjan und der Wiedehopf von einem hoffnungsvolleren und versöhnlicheren Blick auf das Thema geprägt. Der Wiedehopf, der in Die Konferenz der Vögel als Führer zu höherer Erkenntnis dient, wird hier zu einem Symbol des Überlebens. Auch wenn Ahmadjan vor vielen Herausforderungen steht, bleibt die Botschaft des Comics eine der Hoffnung und des Durchhaltevermögens.

 

Dinah Wernli | Louise | Edition Moderne | 168 Seiten | 34 EUR

Muse. Modell. Objekt! Dinah Wernli - Louise: Mit Louise wagt sich Dinah Wernli an eine Meta-Erzählung über Kunst und Leben. Die ungewöhnliche narrative Struktur des Bandes, in dem expressive Bildflächen mit kappen schlaglichtartigen Textpassagen konfrontiert werden, reflektiert die innere Zerrissenheit der Protagonistin zwischen ihrem Leben als Bäuerin und ihren Sehnsüchten, ausgelöst durch ihre Rolle als Modell des Malers Cuno Amiet. Man sieht Louise einerseits quasi mit den Augen des Malers / der Zeichnerin und andererseits wird dies kontrastiert durch die Kommentare eines auktorialen Erzählers. Amiet, einer der bedeutendsten Schweizer Künstler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ist bekannt für seine Werke, die den Übergang vom Realismus bis hin zum Expressionismus markieren und in denen die Malerei des französischen Postimpressionismus eine tragende Rolle spielt. 

Der Band von Dinah Wernli widmet sich einer ganz besonderen Begegnung in der Geschichte der Schweizer Kunstwelt: jener zwischen dem berühmten Maler und seiner Muse, der jungen Frau Louise Grütter, die in der Nachbarschaft von Cuno Amiet lebte, einem Ort im Aargau. Louise Grütter stand Amiet ab 1905 häufig Modell, auch als stillende Mutter mit ihrem Kind. Später entstanden experimentelle Halbakte. 

Dinah Wernli - Louise

Wernli zeigt Louise als eine Figur, die auf der Grenze zwischen Objekt und Subjekt steht – als Modell, das auf der Leinwand verewigt wird, und zugleich als Mensch mit eigenen Gedanken und Gefühlen. Der Band taucht tief in die Atmosphäre dieser Begegnung ein und zeigt uns Amiets Werk durch die Augen von Louise und umgekehrt. Dabei geht es weniger um die chronologische Darstellung eines historischen Moments als vielmehr um das Einfangen von Emotionen, die während dieser Zusammenarbeit entstanden sind. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kunst und Leben, zwischen Objekt der Malerei und autonomem Subjekt wird immer wieder aufgeworfen: Was löst das Modell im Maler aus und was das Malen im Modell? 

"Während sie dasitzt 

und sein Blick auf ihr ruht, 

beginnt auch sie

sich zu sehen. 

Mit seinen Augen. 

Mit ihren Augen“ (S. 68 f.). 

Die Bilder, die Wernli in diesem Band präsentiert, verknüpfen das künstlerische Erbe von Amiet mit der expressiv-narrativen Kraft ihrer eigenen Darstellung. Dinah Wernlis Zeichenstil in Louise ist im Wesentlichen flächig und expressiv. Ihre Bildsprache ist von starken, kräftigen Farben geprägt, die die Emotionen und die Atmosphäre der dargestellten Szenen unterstreichen. Im Vergleich zu klassischen Comics arbeitet Wernli nicht mit der Darstellung von Bewegung und Action, sondern fokussiert sich auf das Erfassen von Momenten und Stimmungen. Die Zeichnungen erscheinen fast wie eingefangene Wahrnehmungen – ruhig und introspektiv. Es geht dabei aber nicht um die technische Reproduktion eines Gemäldes von Amiet oder um die Authentizität der künstlerischen Beziehung zwischen Model und Maler, eher um das Erkunden einer emotionalen Verbindung, wodurch die historische Perspektive zu einer persönlichen wird. 

Ob Louise dabei nun als Comic oder nicht vielleicht doch eher als Bilderbuch betrachtet werden sollte, ist dabei letztlich irrelevant. Der Band verzichtet konsequent auf die klassischen Merkmale eines Comics – etwa auf serielles Erzählen oder ein erkennbares Panel-Layout. Stattdessen setzt Wernli auf große atmosphärische Bilder, die eine gewisse Langsamkeit in der Erzählweise aufbauen. Die Bilder sind, obwohl sie immer wieder mit Texten und Dialogen kombiniert werden, eher statisch als filmisch. Die Frage, ob dieser Band nun tatsächlich als Comic betrachtet werden sollte oder nicht, bleibt offen. Wernli lädt die Leser ein, sich auf die visuelle Darstellung der Gefühle und Stimmungen einzulassen, statt sich auf eine lineare Geschichte zu konzentrieren. Dadurch entsteht eine andere Art der Lesererfahrung – eine, die mehr Wert auf die Wahrnehmung und Reflexion der Bilder legt als auf den Fortgang einer narrativen Handlung.

 

Craig Thompson | Ginseng Wurzeln | Reprodukt | 456 Seiten | 39 EUR

Roots! Craig Thompson - Ginseng Wurzeln: Craig Thompson ist für seine epischen, persönlichen Erzählungen bekannt. Der Comic verbindet autobiografische Elemente – Thompsons Kindheit in einer konservativ religiösen Familie – mit einer globalen Perspektive auf den Ginseng-Handel. Das Buch bietet einen Rückblick auf die Kindheit und Jugend des Autors und gleichzeitig eine Reise in die Tiefen der amerikanischen Natur und Kultur. Dabei gelingt ihm der Spagat zwischen intimen Momenten und gesellschaftskritischen Betrachtungen. Die Graphic Novel stellt sich damit in die Tradition eines John Steinbeck, an dessen Früchte des Zorns sie immer wieder erinnert. 

Craig Thompson - Ginseng Wurzeln

Die Handlung beginnt mit der familiären Situation, dass der junge Craig und sein Bruder beim Jäten und Ernten in den Ginseng Feldern mithelfen müssen, um zur Existenzsicherung der Familie beizutragen. Den eigenen kargen Verdienst setzen sie Woche für Woche in Comics um. Damit sind die Leitlinien für Craigs Leben gesetzt: Im Verlauf der Erzählung zeigt sich nämlich schnell, dass die Arbeit auf den Feldern weit mehr als ein ökonomisches Unterfangen darstellt. Sie wird zum Mittel der Selbstfindung, zur Konfrontation mit der Vergangenheit und zu einem Bindeglied zwischen den Generationen. Dabei wird die Ernte des Ginsengs auch als ein Ritus dargestellt, der für den Autor einen wichtigen Entwicklungsprozess symbolisiert. Die Kinder müssen sich im Verlauf der Handlung immer wieder zwischen dem tief verwurzelten Traditionsbewusstsein ihres Vaters und den eigenen Vorstellungen von Freiheit und Unabhängigkeit entscheiden. Es wird schnell deutlich, dass der Ginseng nicht nur eine Quelle des Lebens darstellt, sondern auch eine Quelle der Konflikte und Herausforderungen innerhalb der Familie, er wird zum Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft. Der Vater ist sowohl eine schier unerschütterliche Autorität, als auch eine verstörende Figur mit reaktionären Ansichten – das Verhältnis zu ihm ist nie einfach, sondern immer von Ambivalenz geprägt (vgl. z.B. Bild oben, S. 75). Thompson gelingt es, die emotionale Intensität dieser Beziehung auf jeder Seite des Buches spürbar zu machen. Das Ginseng-Wachstum in Marathon, Wisconsin, wird zu einer Metapher für die Bewältigung von Herausforderungen, die der Autor zu meistern hat. Nicht umsonst sagte Thompson einmal selbst: „Meine Comic-Kunst ist aus Schmerz entstanden.“ 

Craig Thompsons zeichnerische Handschrift ist in Ginseng Wurzeln ebenso markant wie in seinen früheren Werken. Die klare Linienführung und der andererseits detailreiche Stil führen zu einer realistischen Darstellung, die aber auch durch karikaturistisch-humoristische Reduktion und Pointierung besticht. Er steht damit in der Tradition eines Will Eisner. Dafür nutzt es primär kontrastreiches Schwarzweiß, das immer wieder durch Rottöne ergänzt wird. Besonderen Wert legt Thompson auf die Darstellung von Landschaften, die personalen Charakter bekommen, sie werden mehrfach zu mystischen Orten. Die Bäume, die Hügel, die Flüsse – sie sind so nicht nur Kulissen, sondern fast schon handelnde Charaktere, die die Geschichte maßgeblich prägen. 

Craig Thompson knüpft thematisch an sein Meisterwerk Blankets von 2003 an. Hier wie dort erzählt Thompson die Geschichte seiner eigenen Jugend, seine religiösen Konflikte und seine Auseinandersetzung mit der Liebe und der familiären Bindung. In beiden Werken geht es um die Konfrontation mit privaten, gesellschaftlichen und religiösen Prägungen und mit den Erwartungen der Herkunft. Es zeigt einen gereiften Thompson, der keine Scheu hat, sich auch mit seinen eigenen Widersprüchen auseinanderzusetzen.

 

Jacques Lob & Georges Pichard | Odysseus | avant Verlag | 160 Seiten | 39 EUR

Überholt! Jacques Lob & Georges Pichard - Odysseus: Der Band Odysseus von Jacques Lob und Georges Pichard, erschienen in den frühen 1970er Jahren, ist ein Produkt seiner Zeit. Er nimmt sich der Geschichte des griechischen Helden an und interpretiert sie in einem primär erotischen Rahmen. Diese Verbindung von Mythologie und expliziter Erotik war damals ein Versuch, die zu dieser Zeit vorherrschenden Normen in Literatur und Kunst zu hinterfragen und zu dekonstruieren – quasi ein subversiver Akt, der sich im Geiste der Gegenkultur und des sexuellen Befreiungstrends der 60er und 70er Jahre bewegte. So kann der Band als künstlerisches Experiment der Zeit verstanden werden, es stellt sich aber, nicht zuletzt wegen der problematischen Darstellung von Frauen, die Frage, ob sein durchaus sexistischer Blick noch angemessen ist. 

Im Nachwort ‚Weder Gott noch Staat. Ode an die Anarcho-Erotik‘ schreiben Boris Battaglia und Paolo Interdonato: „Das weiche Fleisch der Zeichnungen von Georges Pichard hat uns schon in jungen Jahren erregt. Und bis heute haben wir uns nicht daran satt gesehen.“ Das Statement ist nicht frei von Peinlichkeit und klingt doch sehr nach altem weißen Mann. Hier wäre eine kritischere Reflexion angemessen: Die Darstellung von Frauen in Odysseus ist nämlich zweifellos objekthaft-problematisch. Schon allein in ihrem Aussehen sind z.B. Penelope, Circe und Kalypso praktisch nicht voneinander zu unterscheiden. Sie werden bei Pichard zu Frauenfiguren stilisiert, die weniger aus einer mythologischen Perspektive beleuchtet werden, sondern vielmehr als Lustobjekte des Helden fungieren. 

Jacques Lob & Georges Pichard - Odysseus

Während sich diese Ästhetik in den 70er Jahren unter dem Schirm der sexuellen Revolution und einer weitgehenden Liberalisierung von Körperlichkeit und Sexualität als anarchisch und befreiend inszenierte, wird sie heute zunehmend kritisch hinterfragt. Im Kontext der sexuellen Revolution sollte die Darstellung von Erotik zwar wohl als eine Form der Befreiung von alten moralischen Normen verstanden werden. Jedoch muss die allzu oft rein objekthafte Darstellung der Frauenfiguren heute als problematisch und sexistisch wahrgenommen werden. Symptomatisch dafür steht die Schlusssequenz, als Penelope die Erektionsprobleme von Odysseus schuldhaft auf sich projiziert (vgl. Bild rechts oben, S. 139). 

Hier liegt ein Spannungsfeld, das auch den Diskurs um die Wiederveröffentlichung dieser Werke begleitet. Während Homers Odyssee eine komplexe Erzählung von Heimat, Verlust und Entbehrung darstellt, die sich über weite Strecken in einer patriarchalen Welt entfaltet, deren Stereotype in vielen modernen Adaptionen immer wieder thematisiert und hinterfragt werden, scheint Pichards Band dieses thematische Geflecht zu ignorieren und sich gänzlich auf die sinnliche, lustvolle Seite des Mythos zu konzentrieren. Wo Homers Werk noch die dramatischen Konflikte der Figuren und die Opfer ihrer Entscheidungen thematisiert, ist Pichards Erzählung weitaus simpler. Die tiefere philosophische und psychologische Dimension, die das Original ausmacht, geht in der Comicadaption weitgehend verloren. 

Jacques Lob & Georges Pichard - Odysseus

Obwohl Odysseus primär als ein erotischer Comic wahrgenommen wird, lassen sich durchaus Elemente von Science-Fiction in der Adaption finden. Die Verwendung des mythologischen Rahmens von Homer ist für Pichard eine Gelegenheit, den Mythos in eine futuristische oder spekulative Richtung zu erweitern. Aber auch hier dominiert eine sehr zeitbedingte und überholte pseudowissenschaftliche Vorstellung, erinnernd an Erich von Däniken: Im ursprünglichen Text von Homer ist z.B. der Hades ein düsterer, geheimnisvoller Ort, an dem Odysseus mit den Schatten der Toten kommuniziert, um einen tieferen Einblick in die menschliche Existenz zu gewinnen. Im klassischen Werk sind die Toten Zeugen der Vergangenheit und die Botschaften, die Odysseus erhält, sind oft Weisheiten, die die menschliche Natur betreffen. Doch Pichard, der sich nicht nur auf das Mythologische stützt, sondern auch eine moderne, spekulative Lesart einführt, transformiert den Hades zu einem Schauplatz, der die Entwicklung des gesamten menschlichen Wesens thematisiert – und das auf eine krude futuristische Weise: Die Götter haben hier einen Filmvorführraum, in dem Aufzeichnungen der Evolution zu betrachten sind, die verdeutlichen, dass sie sie immer wieder lenkend steuern (vgl. Bild oben, S. 93). 

Die Frage, ob die Neuauflage von Werken wie Odysseus oder die erotischen Comics von Guido Crepax heute noch sinnvoll ist, muss daher aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Genügt es, den Band in Hinblick auf eine kulturelle Relevanz in einer bestimmten Zeit zu edieren, wenn die kritische Auseinandersetzung mit Geschlechterbildern und sexuellen Normen ein völlig andere Wendung genommen hat? Wahrscheinlicher ist: Es gibt es noch immer einen Markt für diese Art von Comics, die als Erinnerungsstücke einer älter gewordenen Leserschaft fungieren, die eine nostalgische Bindung zu den Werken hat.