"Ich denke, dass das Schöpferische stärker ist als das Zerstörerische!"

"Ich denke, dass das Schöpferische stärker ist als das Zerstörerische!"

Nach vielen Jahren ist das Hauptwerk von Manès Sperber, seine Romantrilogie "Wie eine Träne im Ozean", endlich wieder verfügbar. Der Herausgeber Rudolf Isler erklärt im Gespräch, warum Sperber auch heute noch so wichtig ist
Rudolf Isler
Zur Person

Rudolf Isler war zuerst Lehrer, dann Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich mit den Schwerpunkten Geschichte der Pädagogik, Allgemeine Didaktik und Berufspraxis. Er war Präsident des Senats, war in internationalen Bildungsprojekten tätig (Ukraine, Ghana, Bhutan, Moldawien, Bahrain) und hatte Lehraufträge an der FU Berlin. Er ist Autor von zahlreichen Publikationen zu Schulpädagogik, Didaktik, Lehrerbildung und beruflicher Identität von Lehrerinnen und Lehrern. Daneben publiziert er zu literarischen Themen, hauptsächlich zu Manès Sperber, über den er den Dokumentarfilm "Manès Sperber – ein treuer Ketzer" gemacht hat. Er ist Mitherausgeber der dreibändigen, 2024 erschienenen Neuausgabe von Manès Sperbers Werken. 
Rudolf Isler lebt und arbeitet in Zürich, wo Axel Timo Purr ihn für das Gespräch über Sperbers Leben, Sperbers Bedeutung für frühere und heutige Generationen und sein Meisterwerk Wie eine Träne im Ozean traf. 

Wie eine Träne im Ozean

Manès Sperber | Wie eine Träne im Ozean | Sonderzahl Verlag | 1000 Seiten | 49 EUR

Axel Timo Purr: Ich möchte ganz provokant beginnen: Warum sollte man heute noch Manès Sperber lesen? Einen Schriftsteller, dem man am Ende seines Lebens zwar mit Preisen förmlich überschüttete, darunter mit dem Büchner-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der aber selbst kurz vor seinem Tod im Jahr 1984 meinte: "Wenn man große Preise bekommt, bedeutet das, man hat nicht mehr sehr viel zu sagen."  Und das hat sich ja kurz darauf fast schon prophetisch bewahrheitet.  Seine Bücher schienen in den Jahren nach seinem Tod den neuen Zeiten nichts mehr zu sagen zu haben, es gab sie nur mehr antiquarisch. Bis zu der jetzt erschienenen Neuausgabe, deren mittleren Band, das Hauptwerk Sperbers, seine knapp 1000-seitigen Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean, Sie als Herausgeber betreut haben.  Warum also einen Schriftsteller heute noch lesen, der seine Leser schon vor langer Zeit verloren hat und der den Sprung ins digitale Zeitalter nicht geschafft hat?

Rudolf Isler: Um diese Frage zu beantworten, liest man am besten seine Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Dort merkt man ganz besonders, weshalb man ihn gerade heute wieder lesen sollte. Denn die Fragen, die er dort stellt, sind hochaktuell. Wie die Frage, wie man autoritären oder totalitären Mächten in der Welt begegnen soll. Kann man mit einer pazifistischen Haltung etwas ausrichten oder ist es nicht vielmehr notwendig, dass man selbst wehrhaft bleibt gegenüber totalitären oder autoritären Systemen? Das Kennzeichen der totalitären Systeme ja ist der Versuch, Totalität zu erreichen. Und totale Macht heißt:  Macht, die sich auch ausdehnt und die eingeschränkt werden muss, und das mit Gegenwehr, so Sperbers Position. Und genau das hat er in dieser Preisrede dargelegt, damals noch im Angesicht der Sowjetunion, einem autoritären System, dem gegenüber sich Europa wehrhaft zeigen musste. Diese Frage, wie man sie auch immer beantwortet, ist natürlich hochaktuell, gerade in der heutigen Welt.

Da haben Sie recht, da muss man auch gar nicht nur in die Ukraine schauen, sondern sich einfach den letzten, 2023 herausgegeben Demokratie-Index   ansehen, wonach nur mehr 7,8 Prozent der Weltbevölkerung in Volldemokratien leben. Was einen fragen lässt, ob wir nicht fast wieder in den Zeiten angekommen sind, über die Sperber seinen Roman "Wie eine Träne im Ozean" geschrieben hat. Aber vielleicht sollten wir erst einmal abklären, worüber genau Sperber in Wie eine Träne im Ozean eigentlich schreibt...

Es ist die Geschichte von Menschen, die sich durch totalitäre Ideologien verführen lassen und von der Katastrophe, die daraus entsteht, also Nationalsozialismus und Stalinismus. Und es ist die Geschichte, wie man aus den Zwängen einer totalen Ideologie auch wieder herausfindet und eine neue Welt findet, und zwar eine demokratische Welt. Daniel Cohn-Bendit  hat das Buch einmal im Schweizerischen Literaturclub vorgestellt und gemeint: Man kommt gut dabei heraus. Es ist zwar ein dramatisches, ein mörderisches Jahrhundert, dass hier beschrieben wird, aber trotzdem kommt man in diesem Roman, nach diesen 1000 Seiten, gut heraus. Weil man etwas findet. Und das ist die Demokratie. Eine demokratische Gesellschaft. Es ist nicht nur ein Plädoyer gegen totale Ideologien, sondern es ist auch ein Plädoyer für eine demokratische Gesellschaft, die sich in mühsamen, langsamen Prozessen weiterentwickelt. Und das ist einfach sehr, sehr hoffnungsvoll. Sperber sagt selbst: "Ich bin ein skeptischer Optimist. Und ich denke, dass das Schöpferische stärker ist als das Zerstörerische." Und das ist es, was in diesem Buch steht, unter anderem steht...

Ja, das stimmt. Ich habe auf dem Weg nach Zürich die ersten 100 Seiten wiedergelesen. Und mir ist aufgefallen, wie spannend dort die internen Strukturen des kommunistischen Machtapparates beschrieben werden. Und man muss das betonen, wie gut, wie spannend hier erzählt wird, anders etwa als Köstlers Sonnenfinsternis, das mir heute kaum mehr zugänglich scheint, oder ein viel späteres Werk, das um diese Thematik kreist, Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands, das schon bei seinem Erscheinen schwer lesbar war. Sperbers Roman ist das ganze Gegenteil und auch heute noch ein echter Page Turner. Sein Werk ist gut gealtert. Allein schon, wie auf den ersten 100 Seiten Hierarchien und Ausschlussverfahren demaskiert werden, das ist nicht nur spannend, sondern unfassbar gegenwärtig, weil es an all das erinnert, was wir heute Cancel Culture und Wokeismus nennen, die zunehmende Verkrustung und Reibungsintensität unserer sozialen Blasen.

Gerade am Anfang des Romans gibt es ja diese Diskussionen zwischen den skeptischen Kommunisten und den gläubigen Kommunisten. Das sind zwar großartige Dialoge, aber manchmal habe ich mich gefragt, ob das junge Menschen heute noch verstehen. Aber wenn man hineinkommt in diesen Text, dann versteht man es, dann versteht es jeder, ob jung oder alt. Gerade das erste Kapitel, in dem ein Kurier nach Kroatien reist, eine völlig vergebliche geheime Reise, weil den Gegnern schon alles bekannt ist. Aber darum geht es eben nicht nur, sondern es geht um diesen jungen Kommunisten Josmar Goeben, den Kurier, der die Realität nicht erkennen kann, weil ihm die Realität durch den Glauben an die stalinistische Ideologie verbaut ist. Und genau deshalb ist diese Reise auch so vergeblich, weil sie ihm eben nicht hilft, die Realität zu erkennen. Und das ist nun einmal sehr gegenwartsbezogen, wie es ja so viele Hypes, so viele Ideologien im Moment gibt. Und nur noch nebenbei: Josmar heißt der Protagonist wohl nicht umsonst, es ist die Kurzform von Josef-Maria.

Völlig richtig. Nur ein persönliches Beispiel: mein Sohn, der durch eine neue, stark feministisch sozialisierte Freundin plötzlich auch "feministisch" denkt und einen Streit zwischen meiner Freundin und mir plötzlich ganz anders beurteilt als noch vor einem Jahr... Ideologie ist heute vielleicht nicht mehr in den ideologischen Blöcken von vor 80 oder 90 Jahren fassbar, aber es hat die gleiche Intensität und sehr ähnliche Auswirkungen auf das Private.

Das würde ich auch so sehen. Es hat die gleiche Intensität, vor allem, wenn es dann um Identitäten geht, um Geschlechtsorientierungen etwa, dann ist da die gleiche Heftigkeit und Unnachgiebigkeit in der Diskussion.

Die Unnachgiebigkeit und das nicht mehr Zuhören wollen. So wie der erwähnte Kurier, der in Sperbers Roman nach Kroatien reist, und der sich der Wahrheit verschließt, weil er sie nicht erträgt.  

Das sind natürlich zeitlose Elemente. Und die finden sich überall, nach der zweiten Lektüre vielleicht sogar noch mehr, weil nach der ersten Lektüre das Politische im Vordergrund steht. Die Geschichte des Kommunismus, des Stalinismus und die Erinnerung daran. Das ist großartig und so voller feiner Details. Man sieht, dass Sperber diese Welt des kommunistischen Untergrunds in Deutschland selbst gut gekannt hat. Aber beim zweiten Lesen erkennt man die zeitlosen Elemente seines Schreibens. Da ist mir plötzlich aufgefallen, dass es ganz viele Liebesgeschichten gibt...

Oh ja. Das macht Sperber ganz großartig, diese Verschränkung von der Vergeblichkeit und Vergänglichkeit in der Liebe und die der Politik. Das ist schon fast hyperreal, wie er das beschreibt, sich erschreibt. Und das macht auch den sogartigen Charakter des Buches aus...

Dazu fällt mir eine wichtige Nebenfigur ein. Herbert Sönnecke, der Chef der deutschen Kommunisten. Auch der wird genauso beschrieben. Einerseits als politischer Aktivist, dann wird er aber auch beschrieben in seiner persönlichen Beziehung, in seiner Ehe, die scheitert, und wie das zusammenspielt mit seinem politischen Engagement. Das wird noch intensiviert durch die Beschreibung seines ganzes Innenlebens, etwa was mit ihm passiert, als er merkt, dass er selbst beteiligt ist am Untergang der kommunistischen Idee. Es sind so viele Dimensionen der Persönlichkeit, die erfasst, die ergründet werden und so ist es bei ganz vielen Personen in diesem Roman.

Ich glaube, das ist auch der Tatsache geschuldet, das Sperber vor seiner politischen Arbeit Therapeut, Psychologe und Meisterschüler von Alfred Adler  war, der von Adler in den frühen 1920er Jahren aus Wien nach Berlin geschickt wurde, um dort dann mit dem Kommunismus in Berührung zu kommen... Und auch das ist ja mit unserem Heute zu vergleichen. Denn Adler verstieß Sperber, als der sich mehr und mehr kommunistisch orientierte, so wie heute auch die Risse ideologisch durch Familien und alte Freundschaften gehen. Sperber hat das  später erneut eingeholt, die Streits mit seinem Sohn aus erster Ehe, Vladimir, der zeitlebens der kommunistischen Idee treu geblieben ist und dann auch die Streits mit seinem Sohn aus zweiter Ehe, mit Dan Sperber, als der sich während der Mai-Aufstände im Paris der 1960er Jahre zu radikalen Ideen bekannte...

Das finde ich auch hochinteressant. Tatsächlich wissen die meisten Menschen, dass Sperber Kommunist gewesen ist, aber nicht, dass er auch mit Adler zusammen gearbeitet hat. Und dass ihm dieser Bruch sehr nachgegangen ist, das hat er immer bereut. Er hätte so gerne eine Versöhnung mit Adler gehabt...

Aber das hat er ja dann in seinem Roman bewerkstelligt.

Genau das hat er gemacht. Es gibt zwei Protagonisten, die oft miteinander diskutieren. Das ist der Held, Dojno Faber und dann gibt es seinen Lehrer, Professor Stetten. Und die tragen die Merkmale von Manès Sperber selbst und von Alfred Adler. Wobei das natürlich immer schwierig ist, so etwas eins zu eins zu setzen. Trotzdem ist es so, dass in dem Roman genauso eine Wiederannäherung stattfindet. Diese findet im Roman kurz nach dem realen Todesdatum von Adler statt, und am Ende schreiben beide in Harmonie zusammen Bücher. Das kann man durchaus als Wunschtraum von Sperber für die Beziehung zu Adler ansehen.

Aber das kam für das wirkliche Leben zu spät, Adler war da bereits tot.

Ja, Adler ist bereits 1937 gestorben, da hatte Sperber noch nicht mit dem Kommunismus gebrochen. Später hat Sperber übrigens immer von Adler als seinem Meister gesprochen. Es gibt etwa ein Fernsehinterview mit Frank A.  Meyer im Schweizer Fernsehen, 1983, ein Jahr vor Sperbers Tod, da sprach er ebenfalls von "seinem Meister".

All das Vergangene

Manès Sperber | All das Vergangene | Sonderzahl Verlag | 692 Seiten | 44 EUR

Welche Sprache war für Sperber eigentlich seine alltägliche Verkehrssprache? Die "Träne" hat er ja 1949 selbst ins Französische übersetzt, auf Deutsch erschien sie erst 1961. Ich denke manchmal, das ist bei ihm wie mit dem später geborenen W.G. Sebald, der sich ja auch aus Deutschland entfernte und dem damit auch die "deutsche Aufmerksamkeit" abhanden kam. Das ist wie im Fußball früher, Legionäre durften lange Zeit nicht in der Nationalmannschaft spielen. Was hat Sperber eigentlich die Jahre nach der "Träne" gemacht, hat er weiter geschrieben, hat er als Therapeut gearbeitet?

Zuerst zur Sprache. Seine Schreibsprache war fast immer Deutsch, nur wenige Texte sind original in Französisch, noch weniger in Englisch. Aber Sperber ist mit einem Gemisch von Sprachen aufgewachsen und hat in einem Gemisch von Sprachen sein Leben gelebt.  Im Elternhaus Deutsch, allein schon, um die österreichischen Zeitungen lesen zu können,  dann Jiddisch und ab drei Jahren Hebräisch (Cheder). Ruthenisch wird wohl zur Kommunikation mit der ukrainisch-nicht-jüdischen Umwelt unverzichtbar gewesen sein - wie auch Polnisch. In der zweiten Lebenshälfte war Französisch dann dominant; allerdings hat er in Frankreich auch Jiddisch-Schulungs-Sendungen im Rundfunk gemacht. 
Und zu dem, was er nach der „Träne“, die er 1952 beendet hat, gemacht hat: Als Therapeut hat er nie mehr gearbeitet. Er hat eine Anstellung beim Verlag Calmann-Levy gehabt. Dort war er verantwortlich für die nicht-französische Literatur. Er hat dort sehr lange gearbeitet, das war sein Broterwerb. Daneben hat er weiter geschrieben, auch nach der "Träne".  Es gibt noch viele Texte von ihm. Er hat 1970 zum 100. Geburtstag von Alfred Adler eine Adler-Biografie herausgebracht. Kurz nach seinem Tod ist ein Band mit Essays herausgekommen, philosophischen Betrachtungen, die zum Teil in den dritten Band der jetzigen Neuausgabe integriert sind.

Der im Juni 2024 erscheinen wird...

Warum Sperber dann nach diesen Essays und seinem Tod in Vergessenheit geriet, liegt vielleicht auch an dem, was dann weltpolitisch passierte. Denn der Zusammenbruch der Sowjetunion einige Jahre später hat dazu geführt, dass seine Kritik am Stalinismus, die ja durchaus im Zentrum steht, nicht mehr die gleiche Bedeutung hatte. Viele hatten plötzlich das Gefühl, dass das jetzt das Ende der Geschichte sei, dass endlich alles gut ist. Erst jetzt merkt man, dass dem nicht so ist. Wir hatten ein Sperber-Symposium 2021 in Wien und St. Pölten und dort intensiv Sperbers Werk diskutiert. Dort habe ich dann gefragt: Weshalb machen wir das eigentlich? Wir diskutieren über Dinge, die nur noch unseren Kreis betreffen und gleichzeitig schreibt Sperber so spannende und aktuelle Sachen, aber man kann seine Bücher gar nicht mehr bekommen. Sollten wir unsere Energie nicht dafür verwenden, dass es wieder eine Neuausgabe gibt?

Das war der Anfang der Neuausgabe?

Ganz genau. Dann haben wir uns zu dritt zusammengetan und der österreichische Staat, der viel für die Kulturförderung ausgibt, hat das mehr oder weniger finanziert und ein kleiner österreichischer Verlag gibt es nun heraus.

Warum gerade der Sonderzahl Verlag? 

Österreichisches Geld, also auch ein österreichischer Verlag (lachend). Zwei oder drei Jahre vorher hätte der Hanser Verlag eine noch umfangreichere Ausgabe von Sperbers Werken gemacht - es wären dann noch seine psychologischen Schriften wie die Adler-Biografie mit dabei gewesen - doch dafür hat uns der Sohn die Rechte nicht gegeben.

Dan Sperber, der jüngere Sohn, der Anthropologe und Linguist, den wir eingangs schon erwähnt hatten? 

Genau, er wollte einen Literaturprofessor als Mitherausgeber und es universitär gut abgesichert haben. Hanser wäre natürlich viel besser gewesen, weil Hanser ein Marketing hat und ein mächtiges Vertriebssystem. Das ist ein wenig schade.

Ja, das stimmt natürlich, denn gerade die "Träne" würde sich gerade in den heutigen Zeiten gut im heutigen Literaturkanon an den Schulen machen... 
Der Gedanke an die Schulen bringt mich dann wieder auf die Frage, warum Sperber in den letzten Generationen so an Bedeutung verloren hat und ich muss an Ulrich Beck  denken, an seinen Gedanken der reflexiven Moderne, den Beck ja auch auf die Mitte der 1980er Jahre verortet, als die Individualisierung, die riskanten Freiheiten in den Vordergrund traten und Menschen sich nicht mehr nach ihrer Klasse oder über Gewerkschaften zu definieren begannen, sondern jeder nur mehr für sich selbst verantwortlich ist. Was sich dann ja auch in der Literatur widergespiegelt, dem immer stärker werden autofiktionalen Format und dem absoluten Höhepunkt dieses Genres, mit  Karl Ove Knausgårds  Min Kamp, der ja so monumental wie Sperbers "Träne" ist, aber gegensätzlicher nicht sein könnte. In dem einen ist alles Gemeinschaft, Gewerkschaft und Partei, in dem anderen gibt es nur mehr das solitäre Ich. Und nach dieser Fragmentierung der Gesellschaft setzt nun wieder eine gegenteilige, Ich-rückläufige Entwicklung ein, gibt es zwar keine Parteiideologien und Gewerkschaften mehr, dafür aber all die sozialen Blasen, die einen ähnlichen starken identitätsstiftenden Charakter haben.

Ich finde den Bezug zu Ulrich Beck auch sehr spannend, weil Sperber genau das in seinen Essays beschreibt, wie er sich lange in festgefügten Gemeinschaften bewegt hat. Erst individualpsychologischen Kreisen, dann in der kommunistischen Partei, und wie dann daraus herausgegangen ist – und mehr oder weniger zum Individuum geworden ist. Und dabei dieses Gefühl gehabt hat, nun völlig allein zu sein. Denn das ist ja zum Teil auch gut: ein Volk, eine Klasse, das gibt einen zweifelhaften Rückhalt.

Exakt. Aber ohne diesen Rückhalt ist man dann natürlich viel verführbarer durch totalitäre Gedanken, denn wer will denn schon für seine eigene Misere immer nur selbst verantwortlich sein?

Ja, dieser Individualisierungsprozess brauchte auch bei Sperber seine Zeit, bis er dann langsam realisierte, dass er gar nicht allein war, dass es noch andere "Freischützen" wie ihn gab, die gegen alle Ideologien kämpfen, und man irgendwo dann doch zusammengehört. Und Sperber beschreibt das ja auch in der "Träne" fast schon akribisch und äußerst spannend. Auch wie man gemeinsam Widerstand leistet.

Das sind regelrechte Betriebsanleitungen, die für jede der gegenwärtigen "Widerständler" wie meinetwegen Fridays for Future   oder die Letzte Generation oder was noch kommen mag, von Nutzen sein kann. Und wie heute bei all diesen Gruppen, hat ja auch die Träne durchaus eine "globale" Perspektive, allein schon durch den Kroatien-Handlungsstrang. Und Sperber als Jude und in einem Schtetl der heuten Ukraine geborener Bewohner des K.u.K.-Reichs war natürlich gewissermaßen  ein "Weltbürger"...

Ja, Sperber ist mindestens ein großer Europäer, der den Osten und den Westen verbindet. Das ist ja auch seine ganz persönliche Fluchtbewegung. Von dem östlichen ukrainischen Schtetl bis ins westliche Paris. Und er ist dann ja auch weitläufig übersetzt worden: ins Italienische, Spanische, Portugiesische, aber auch ins Russische, ins Griechische, und dann ins persische Farsi, wo einige tausend Bücher verkauft worden sind.

Also ist Sperber auch ein Autor für den sogenannten globalen Süden, der ja von autokratischen Systemen regelrecht geflutet ist?

Absolut. All die Werte, die er vertritt, sprechen dafür. An einigen Stellen sagt er: "Ich habe fast alle Gewissheiten verloren, aber eine Gewissheit bleibt, dass man sich einsetzen soll für Gerechtigkeit und Demokratie, für einen gewissen Wohlstand, für Gesundheit und Überwindung von Not und Erniedrigung." Und das, denke ich, ist etwas völlig Globales, etwas, das alle Menschen betrifft.

Das erinnert mich an Ihr Nachwort in der Neuausgabe der "Träne", in dem Sie ja aus einem späten Essay von Sperber zitiert haben: "Ich bin nie einer Idee begegnet, die mich so überwältigt und die Wahl meines Weges so beeinflusst hat wie die Idee, dass diese Welt nicht bleiben kann, wie sie ist, dass sie ganz anders werden kann und es werden wird. Diese einzige, fordernde Gewissheit bestimmt, seit ich denken kann, mein Sein als Jude und Zeitgenosse."

Sperber ist ein Kämpfer. Bis zum letzten Atemzug gilt seine Aktivität dem, was ich ab und zu kurz mit ”Verbesserung der Welt” bezeichnet habe. Mit seinem Bezug zum Judentum im vorausgehenden Zitat spricht er auch die für ihn revolutionäre Idee von der Gleichheit der Menschen, bei Sperber etwas zutiefst Säkulares geworden, er überwindet mit einem widerständischen Engagement alle Grenzen, auch die religiösen.

Damit hat er ja stets gehadert. In dem schönen Interview mit Peter Stephan Jungk in der Welt regt er sich ja unmäßig über Jungk auf, weil der wegen eines jüdischen Festtags zu spät kommt, er solle sofort eine Therapie machen... 

Ein ideale Vorgabe von Ihnen, Sperber war selbst tatsächlich überhaupt nicht mehr gläubig, er hat das von sich gewiesen. Es gab zum Beispiel katholische Interviewer, die über den Glauben eine Gemeinsamkeit im Gespräch schaffen wollten, da hat er ganz empfindlich reagiert. In einem Interview hat er etwa gesagt: "Höchstens wenn ich geisteskrank werde, könnte es noch passieren, dass ich wieder gläubig werde." Aber trotz allem hat er sich zu seiner jüdischen Herkunft und zur jüdischen Tradition bekannt. Die war ihm sehr wertvoll. Er hat sich dann auch sehr intensiv mit dem Zionismus auseinandergesetzt. Das war ganz früh so, in Wien, in der jüdischen Jugendbewegung, das kann man sehr schön in dem ersten Band der Neuausgabe nachlesen. Dann hat er das lange weggeschoben, weil er der Meinung war, dass sich die jüdische Frage nicht über den Staat Israel lösen würde, sondern über die Gesellschaft, in der wir leben. In einer klassenlosen Gesellschaft, in der diese Dinge keine Rolle mehr spielen. Später hat er sich dann mit diesen Fragen wieder mehr beschäftigt. Er war kein Zionist, aber er war auch kein Anti-Zionist. Er hat Israel vier Mal besucht, er hat mit vielen Leuten dort gesprochen, und auch in Essays darüber geschrieben. Und das war durchaus auch kritisch. Er meinte, wenn der Zionismus zu Macht kommt, dann ist er genauso in Gefahr wie alle anderen Ideologien, die zu Macht kommen.

Auch das erinnert mich natürlich an die "Träne", an eine meiner Lieblingspassagen: "Um einen Lebenden zu verstehen, muss man wissen, wer seine Toten sind. Und man muss wissen, wie seine Hoffnungen endeten – ob sie sanft verblichen oder ob sie getötet wurden. Genauer als die Züge des Antlitzes muss man die Narben des Verzichts kennen." Das ist ja auf Gesellschaften genauso anwendbar wie auf Individuen. Und es beinhaltet ja auch diesen tragischen Komplex der transgenerationalen Traumata, den ja auch die zionistische Bewegung prägt.

Ich habe eine Veranstaltung anlässlich des Erscheinens der drei Bände hier in Zürich organisiert, während der mich ein Besucher fragte: was würde Sperber zu den Konflikten heute sagen? Zu Israel und zu Gaza. Es ist nicht einfach, auf so etwas zu antworten, weil es natürlich hypothetisch ist. Aber was man mit einer relativ großen Sicherheit sagen kann, ist, dass er eine differenzierte Stellungnahme abgegeben hätte, so wie er das stets gemacht hat. Er hat das Lebensrecht des Staates Israel absolut befürwortet. Es hat eine Bedeutung für die Juden auf der ganzen Welt, dass es dieses Israel gibt und gleichzeitig - was ich vorhin gesagt habe - war er auch nicht bereit auf Kritik zu verzichten, auch nicht an den "seinigen". Und ich denke, wenn man das überhaupt sagen kann, würde er weder Pro-Palestine noch Pro-Israel argumentieren.

So wie in seinem Roman. Er zeigt alle Facetten, alle Wahrheiten, die möglich sind. Und dass jeder immer wieder seine eigene Wahrheit bzw. Überzeugung hinterfragen muss.

Genau, er sagt das auch in diesem schon erwähnten Interview im Schweizer Fernsehen: "Ich habe vieles bereut, ich habe vieles falsch gemacht, aber was ich am meisten bereut habe, ist, dass ich solange in der kommunistischen Partei geblieben bin. Ich habe gedacht, es ist die einzige Möglichkeit, den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Man kann es nicht allein machen, man braucht eine starke Organisation. Aber schon 1932 hätte ich mich distanzieren sollen und nicht erst 1937 nach den Moskauer Prozessen." Das erzähle ich jetzt nur, um zu sagen, dass er durchaus in der Lage war, eigene Fehleinschätzungen zu thematisieren und sich selbst zu befragen. Auf keinen Fall hatte er diese ja sehr geläufige Position, dass er alles noch einmal und genauso machen würde.

Das ist ja auch eine grundsätzliche Frage, bei der man auch grundsätzlich so viel falsch machen kann: wie begegnet man politischer Gewalt? Muss man mit Rechten, gewaltbereiten, die Demokratie ablehnenden Menschen reden? Sicherlich eine der streitbarsten Fragen unserer Gegenwart im Angesicht der Konflikte in der Ukraine, Taiwan, Israel und all den politischen Radikalisierungen wie der AFD in Deutschland oder Trump in den USA. Und dabei zeigt Sperber ja sehr deutlich in der "Träne", dass wenn man Gewalt mit Gewalt begegnet, man sich fast noch unheilvoller in etwas kaum mehr Lösbares verstrickt.

Der Roman stellt diese Frage ganz gewiss und Sperber hat sie gewissermaßen auch durch seinen Lebensalltag beantwortet. Er ist sehr weit gegangen, mit wem er gesprochen hat. Er hat mit Leuten gesprochen, die sehr konservativ rechts waren. Es hat schon viel gebraucht, bis er jemanden als Nationalsozialisten oder Faschisten bezeichnet hat. Heute hingegen ist man ja sehr schnell in dieser Entscheidung. Gleichzeitig hat er gesagt, dass man verteidigungsfähig bleiben muss, dass man in der Lage sein muss, sich gegenüber Gewalt wehren zu können. Und bezüglich der rechtsextremen, deutschen AFD  hätte er mit Sicherheit für das Sprechen, für einen Dialog, aber für einen standfesten Dialog, votiert. Aber wie schon gesagt, das alles ist hypothetisch.

Nachdem unser Gespräch mit der Frage begonnen hat, warum man heute noch Sperber lesen sollte, würde ich zum Abschluss gerne wissen, warum Sie selbst damals Sperber gelesen haben?

1968 war ich gerade 16, mein Deutschlehrer war Führer der Fortschrittlichen Studentenschaft (FSZ)  hier in Zürich. Er hat die erste große Demo hier organisiert, den sogenannten Globuskrawall,  und er war so etwas wie der Dutschke von Zürich. Das hat mich natürlich fasziniert, ich bin dann selbst auf Demos gegangen und habe mir dann irgendwann dieses rote Mao-Büchlein gekauft. Aber als dann bekannt wurde, das der Autor des Vorwortes, ein gewisser Lin Biao, bei einem Flugzeugabsturz umkam, wohl, um ihn zu "entsorgen", ist mir aufgegangen, dass vielleicht doch nicht alles das Gelbe vom Ei ist, was in China passiert. In dieser Distanzierungsbewegung von meinen kommunistischen Ideen bin ich dann auf Manès Sperber gestoßen. Das ist sehr typisch. Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit haben ihn auch gelesen. Joschka Fischer musste einmal im Deutschen Bundestag erklären, weshalb er im Häuserkampf in Frankfurt Polizisten verprügelt hat. Er hat gesagt: "Wenn ich Manès Sperber schon früher gelesen hätte, hätte ich früher auf Gewalt verzichtet." Diesen biografischen Bezug hat dieses Buch auch für mich, wie für so viele andere aus der Generation der 68er. Dann habe ich festgestellt, dass sich Sperber auch mit Psychologie beschäftigt. Und das war dann die Gelegenheit – ein bisschen an den Haaren herbeigezogen – meine Dissertation in der Pädagogik über Manès Sperber zu schreiben. Und dann habe ich hier in Zürich auch bei einer psychologischen Bewegung mitgemacht, die ein wenig sektiererisch war und von der ich mich dann auch distanziert habe. Das war dann die zweite Distanzierung. Also zwei Distanzierungsbewegungen, die ich auch bei Sperber gefunden habe.

Vielen Dank für dieses Gespräch!