Die Vernunft der Couchecke

Die Vernunft der Couchecke

Das Kosmopolitische und das Provinzielle, das Universalistische und das Partikulare - Philipp Felsch über seine Biographie zu Jürgen Habermas
Philipp Felsch
Bildunterschrift
Philipp Felsch
Zur Person

In seiner Biographie des Philosophen Jürgen Habermas (geboren 1929) skizziert Philipp Felsch das intellektuelle Gesicht einer Epoche - der Bundesrepublik zwischen 1949 und 2023. 
Felsch liest in einem kaum zu überblickenden Oeuvre nach, folgt dessen Autor in die intellektuelle Kampfzone der Bundesrepublik und fragt ob die Ideen dieses Stichwortgebers in der Krise der deutschen 'Zeitenwende' neue Relevanz bekommen?

Rüdiger Suchsland traf Felsch zum Gespräch in Berlin.

Philipp Felsch | Der Philosoph. Habermas und wir | Ullstein Verlag | 256 Seiten | 24 EUR

Rüdiger Suchsland: Du beginnst Dein Buch mit der Beschreibung Deines ersten persönlichen Besuchs bei Habermas. Vielleicht kannst Du das mal erzählen? Wie kamst Du zu diesem Projekt, wie begann Deine persönliche Beziehung zu Habermas?

Philipp Felsch: Das hat mit einem Besuch bei Habermas in seinem Privathaus in Starnberg angefangen. Das war für mich, der ich von meiner ganzen intellektuellen Bildungsgeschichte her eigentlich nie ein Habermasianer gewesen bin, eine sehr überraschende Begegnung. Ich hatte mich dort angekündigt – weil ich zur frühen Suhrkamp-Kultur recherchierte –, und Habermas lud mich ein. Ich klingelte, Habermas öffnete persönlich die Tür zu seinem Mid-Century-Gebäude, mit khakifarbenen Hosen und Reebok-Laufschuhen, nicht wie ein deutscher Emeritus, sondern eigentlich wie ein amerikanischer Ostküsten-Intellektueller; mit seiner gradlinigen Ansprache, der schnörkellosen Art, der immer noch starken Beweglichkeit... Das war der erste Eindruck – der "Hegel der Bundesrepublik" ist eigentlich ein Amerikaner.

Dann kommt ein zweiter hinzu, der auch wichtig ist, auch für den Entschluss dann dieses Buch zu schreiben: Wir gingen in die Couchecke des Wohnzimmers. Habermas hat sich dort oft fotografieren lassen. 
Die Habermas-Couchecke ist sozusagen das ikonographische Epizentrum und als solches schon mal ein Erinnerungsort der bundesrepublikanischen Ideengeschichte, denn Habermas ist in dieser Couchecke auch der Kommunikation und dem Dialog nachgegangen. Dann kam seine Frau Ute Habermas hinzu, wir aßen Marmorkuchen und tranken Kaffee und ich fühlte mich plötzlich wie in einem kleinen Deja-vue ins Wohnzimmer meiner Großeltern zurückversetzt. Hierzu muss man wissen, dass meine Großeltern auch in Gummersbach, sogar in derselben Straße gewohnt haben.

Gummersbach ist auch der Ort, aus dem Habermas stammt...

Genau. 1929 geboren ist er genau 10 Jahre älter als mein Vater. Diese Erinnerung und der leichte oberbergische Akzent trug dazu bei, das neben diesem Bild des kosmopolitischen Ostküsten-Amerikaners auch das Bild meiner kleinen bürgerlich provinziellen Großeltern trat, obwohl deren großes Wohnzimmer ganz anders aussah als das von Habermas, das im Stil der klassischen Moderne eingerichtet ist. 
Der Eindruck hat mich gefesselt: das Kosmopolitische und das Provinzielle, das Universalistische und das Partikulare.

Das ist auch etwas sehr typisch westdeutsches, und Habermas ist sicher ein Philosoph, dessen Werk und Lebensgeschichte man nicht trennen kann von der Geschichte der Bundesrepublik – auch diese Hinwendung zu den USA und dieses positive Amerika-Bild, das Du beschreibst, ist ja durchaus typisch für seine Generation, die westdeutsche Nachkriegsgeneration. Habermas ist eindeutig ein Repräsentant derjenigen jungen Deutschen, die nach 1945 durch  die Zeit der Reeducation geprägt wurden.
Mein Bildungserlebnis ist mit Habermas verbunden: Der Historiker-Streit und die Studentenstreiks um 1990 mit selbstorganisierten Seminaren. Man lernte dort das kommunikative Handeln und die Unausweichlichkeit des Konsens am praktischen Objekt. Er war immer da, er hat sich immer geäußert und seit dieser Zeit ist er eigentlich der wichtigste deutsche Intellektuelle mit seinen öffentlichen Äußerungen. Ich kann es mir gar nicht vorstellen, dass er einmal nicht mehr da ist...

Als der Historikerstreit sich 1986 abgespielte, war ich 13 – ich erinnere mich an Tschernobyl im Frühling, da durften wir danach nicht mehr draußen spielen. Danach war die Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko. Und ich glaube 10 Tage nach dem von der deutschen Fußballnationalmannschaft verlorenen Endspiel gegen Argentinien publizierte Habermas diesen wirklich epochalen Artikel, der den Historiker-Streit auslöste.

In den frühen 90er Jahren war Habermas dann für mich erst einmal immer der Gegner: Ich bin intellektuell groß geworden zwischen Michel Foucault und Niklas Luhmann, zwei Theoretikern, mit denen Habermas jeweils große Kontroversen ausgefochten hat. Insofern kann man auch von deren Werk und deren Zugang zu Gesellschaft, Geschichte, Sprache und Kommunikation immer schnell auf Habermas. Aber nur als jemand, den man herbeizitiert, um die Theoretiker, die man interessant fand, von ihm abzugrenzen. Insofern war er immer da – aber als Antipode.

Kurz vor meinem Besuch hatte Habermas sich nach längerem Schweigen sehr lautstark in der Öffentlichkeit zu Wort gemeldet, zum Ukraine-Krieg und hatte scharfe Kritik geerntet für das, was viele als "Appeasement" bezeichneten. Also für das Insistieren darauf, hier ganz vorsichtig vorzugehen und sich nicht etwa von Kriegsbegeisterung hinreißen zu lassen und die Ukraine etwa bedingungslos zu unterstützen.

Auch diese Haltung war für mich ein Sinnbild der alten Bundesrepublik. Und ich hatte für mich selber auch das Bedürfnis, mir einmal darüber klar zu werden, woran es eigentlich liegt, dass Habermas die alte Bundesrepublik idealtypisch zu verkörpern scheint – eben als "Hegel der Bundesrepublik". Dem wollte ich auch für mich selber nachgehen.

Du bestätigst diese These ja auch in deinem Buch: dass Habermas für die alte Bundesrepublik steht. Vielleicht kannst Du insbesondere auch für unsere Leser, die keine Deutschen sind, kurz beschreiben, was die alte Bundesrepublik ist, und was sie unterscheidet von der neuen, gegenwärtigen Berliner Republik .

Historisch ist die alte Bundesrepublik erstmal der deutsche Teilstaat, der nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg gegründet worden ist, der sicherlich eine ganz eigene Kultur ausgebildet hat: die Bonner Republik, die wir mit vielen Attributen belegen können, die dann gut zu Habermas passen. Zivil und postheroisch, 
Es gab ja eine Symbolik, die ganz bewusst auf Repräsentativität verzichtete: eine Ästhetik, die ganz bewusst den Pomp der alten Staatsästhetik unterlaufen hat. 
Die grün-braunen Uniformen der Polizei –  es war das Gegenteil von den schnittigen von Hugo Boss geschneiderten SS-Uniformen. 
Für Habermas waren das letztendlich Tugenden dieses Landes: Kein Manko, sondern Garantien dafür, dass diese Bundesrepublik zumindest in den späten 80er Jahren, als die großen Kämpfe zwischen seinem eigenen linksliberalen Lager und dem konservativen Lager gekämpft waren – die letzte große Auseinandersetzung dieser Art war der Historikerstreit – da hatte Habermas, glaube ich, ein paar Jahre lang das Gefühl, dass diese postnationale politische Kultur und universalistische Identität – er hat damals den Begriff des "Verfassungspatriotismus" wieder aufgegriffen – in der Breite angekommen war. Das lag eben zum Teil auch daran, dass wir jetzt keine Hauptstadt hatten, die durch monumentale, betont repräsentative Architektur geprägt ist. Natürlich hat Habermas sich dann Anfang der 90er Jahre auch massiv gegen den Umzug der Hauptstadt nach Berlin ausgesprochen. 
Das sind so einige Charakteristika der alten Bundesrepublik.

Am Ende des Buches sprecht ihr wieder in der Couchecke – vermutlich im Herbst 2023, weil von den Folgen des Ukrainekriegs die Rede ist, und auch von anderen Dingen, dem Verhältnis zu den USA z.B., der Gefahr, dass Trump zurückkehren könnte. Da spricht Habermas ganz offen über den Eindruck, dass ihm ein Großteil seines Lebenswerks ein bisschen zwischen den Händen zerrinnt, und davon, dass er fast resigniert, das Scheitern seiner ganzen Ideen zu sehen glaubt.
Das ist ein pessimistisches Fazit, das mich traurig gemacht hat.

Ja unbedingt, ich sehe das auch als ein pessimistisches Fazit.

Glaubst du, das wird Habermas gerecht? In seiner Bedeutung und Wirkung, die ja auch über die Bundesrepublik hinausgeht, als Philosoph wie als politischer Intellektueller?

Das werden wir sehen, denke ich. Die internationale Rezeption ist ja höchst lebendig, Habermas ist innerhalb der Fachphilosophie sehr etabliert. Da hat er nach den universalistischen Prinzipien der kommunikativen Vernunft gesucht. 
Wenn man jetzt mal ausklammert und wir über Habermas als politischer Intellektueller sprechen, dann müssen wir feststellen, dass er eigentlich jemand war, der sich exklusiv um Deutschland gekümmert hat, und um deutschen Probleme. Er war ein Erzieher der Deutschen. Zugleich hat er natürlich ein besonderes Verhältnisse zu den USA entwickelt - Stichwort: Westbindung. 
Habermas ist auch ein Theoretiker der postheroischen Gesellschaft. Krieg ist für ihn eine überholte atavistische Form des Politischen. Darum war für ihn die Reaktion großer Teile der deutschen Öffentlichkeit auf sein Statement zum Ukraine-Krieg so schockierend. Weil er hier einen Rückfall in heroische Formen des politischen Selbstverständnisses sieht, die er längst für überwunden hielt.

Ich möchte in einem Punkt etwas widersprechen. Du hast gesagt: "Erzieher der Deutschen". Das ist er ganz sicher. Ich glaube nur, dass auch in diesen politischen Texten vieles drin ist, was über die Kritik an den Deutschen hinausgeht. 
Seine Texte zum Politischen bilden den teilweise utopischen, in jedem Fall aber idealisierten Entwurf einer bürgerlichen Gesellschaft, die für alle westlichen Gesellschaften gilt. Und Habermas bindet das ja in ganz vielen Büchern auch zurück an die Philosophiegeschichte also an sein eigentliches Fachgebiet. 
Das ist doch eine Kritik, die sich an das Publikum der ganzen Welt richtet. Mir scheint, dass hier zwischen den politischen Tagesschriften und seinen philosophischen Schriften eine enge Verbindung besteht.

Ja, das stimmt. Obwohl ja Habermas seit den 80er Jahren mit einer erstaunlichen Vehemenz darauf gedrungen hat, diese beiden Rollen bei ihm zu unterscheiden. 
Man hat tatsächlich bei er Lektüre fast das Gefühl, es mit zwei unterschiedlichen Autoren zu tun zu haben: auf der einen Seite der Philosoph, der bedeutende philosophische Bücher schreibt, und auf der anderen Seite der politische Intellektuelle, dessen gesammelte politische Interventionen ja inzwischen auch zwölf Bände umfassen.
Die philosophischen Fachtexte sind geradezu willentlich trocken und spröde. Das ist schlimmstes Wissenschaftsdeutsch, könnte man sagen. Dagegen zeichnen sich seine philosophisch-politischen Texte durch ausgeprägte rhetorische Brillanz aus. Habermas findet oft kräftige Bilder. Als Gegner von Habermas musste man zittern, dass er einem ein Attribut anheftet, das man nie wieder los wird. Er hat ja auch angefangen als Kritiker, er hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung viele Kritiken geschrieben und die sind unüberhörbar vom Heidegger-Sound geprägt. 
Dann geht er ans Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Adorno wird auf ihn aufmerksam, weil er nämlich ebenfalls in der FAZ eine vehemente Kritik an Heidegger äußert.

Dem, was man mal als die Postmoderne zusammenfassen kann, setzt Habermas einen emphatischen Begriff der Moderne entgegen. Der ist bis heute sehr anschlussfähig für die Diskurse des Politischen und Praktisch-philosophischen in vielen Ländern. Zum Beispiel ist recht bekannt, dass Habermas in den 90er Jahren nach China gereist ist und dort eine Vorlesungsreihe hatte. Seitdem gibt es auch chinesische Habermasianer. 
Das ist nur ein Beispiel für die globale und weltweite Wirkung dieses Philosophen und seiner Philosophie. Kannst Du andere Beispiele nennen für seine Wirkung in dem Teil, der Welt, den wir heute den "Globalen Süden" nennen? Warum müsste man den lesen, zum Beispiel in Afrika, in Lateinamerika oder in Südostasien?

Ich muss gestehen, dass ich mit der Wirkungsgeschichte von Habermas im außereuropäischen Teil der Welt nicht sehr gut vertraut bin. Gerade weil sie eben sehr groß ist. Habermas ist natürlich nicht der Vertreter der postkolonialen Theorie. Das sind seine französischen Widersacher, die da eine ganz andere Rezeptionsgeschichte haben. 
Habermas ist natürlich ein Universalist – wobei das Etikett vom "Hegel der Bundesrepublik" auch in der Hinsicht stimmt, dass er sich immer auch dafür interessiert hat, wie diese universalistische Vernunft, der er in seinem Gesamtwerk nachspürt, in immer neuen Anläufen, und die daraus folgenden, abstrakten Normen und Gesetzmäßigkeiten sich in historischen Formen des Praktischen und der Institutionen, der Sittlichkeit wie es Hegel nennt, verkörpern und auch verkörpern müssen, Das macht ihn zu einem Philosophen, der ganz stark seiner Gegenwart verhaftet ist. Weil er sich nämlich dafür interessiert, wie sich abstrakte Namen verwirklichen lassen können. 
Die postkoloniale Theorie und die überall aufbrandenden Identitätskämpfe und der Partikularismus tauchen natürlich gerade in dem Augenblick auf, in dem der Westen abgewirtschaftet hat. Trotz alldem müssen wir uns die Frage stellen: Wo bleibt dieses universalistische Erbe? Müssen wir so etwas wie den universalistischen Anspruch der Vernunft aufgeben? Verfallen wir in einen ungebremsten Kultur-Relativismus? Da ist Habermas natürlich auch eine wichtige Referenz.

Eine unverzichtbare geradezu, weil Habermas ja zu den Denkern gehört, die an der Einheit der Welt jenseits der partikularen Identitäten, der Religionen, der Mächtigen, jenseits von Nord und Süd festhalten. Herzlichen Dank für dieses Gespräch.