Wladimir Wladimirowitsch fährt spazieren

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Wladimir Wladimirowitsch fährt spazieren

Eine Kurzgeschichte aus den USA, geschrieben im Jahr 2019, bevor Wladimir Wladimirowitsch mit der Besetzung der Ukraine begann, die Krym aber schon eingenommen hatte
Radha Vatsal

Es ist Sommer im globalen Norden (und Winter im globalen Süden), und im August bringt Literatur.Review beide zusammen und veröffentlicht bisher unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt.

Radha Vatsal ist die Autorin der Kitty Weeks-Mystery-Krimis, die in New York zur Zeit des Ersten Weltkriegs spielen. Ihre Texte wurden in The New York Times, The Atlantic, Los Angeles Review of Books, CrimeReads und anderen  Publikationen veröffentlicht. Geboren und aufgewachsen in Mumbai, Indien, promovierte Radha in Filmgeschichte an der Duke University. Früher sprach sie fließend Russisch, das sie im Haus der sowjetischen Kultur in Mumbai (damals Bombay) gelernt hatte. Sie ist mit der Transsibirischen Eisenbahn gefahren und arbeitete einen Sommer lang als Übersetzerin im äußersten Osten Russlands, nahe der russisch-chinesischen Grenze. 
Radha lebt und arbeitet heute in New York City. Ihr neuer Roman "No. 10 Doyers Street" erscheint im März 2025.

Eines Morgens im August joggte ich langsam auf der Stelle, während ich wartete, dass die Ampel an der 34th Avenue umsprang. Langsam, weil es draußen schon um sieben Uhr schwül war und ich mich nicht gerne bewege. Aber in meinem Alter – ich bin in den Vierzigern, eine schwierige Zeit für viele Frauen, mit Gewichtszunahme und dergleichen – hat man kaum eine andere Wahl. Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich wischte ihn mit dem Handrücken weg.

Das "Geh"-Signal blinkte, aber ich ging erst los, nachdem ich die Avenue sorgfältig von links nach rechts gescannt hatte. Auf einer Straße mit Gegenverkehr wie dieser muss ich mit allen entgegenkommenden Autofahrern den Augenkontakt suchen. Nur so weiß ich sicher, dass sie mich gesehen haben. Heutzutage kann man ja nicht vorsichtig genug sein, jedenfalls nicht angesichts all der Verkehrsunfälle, von denen man hört.

Zufrieden, dass die Luft rein war, joggte ich auf den Fahrbahnteiler zu und wollte gerade die Straße überqueren, als ich über meine rechte Schulter im Augenwinkel ein Fahrzeug erhaschte, das sich von Osten her näherte und in der frühen Morgensonne strahlend glänzte. Nachher konnte ich mich nicht mehr erinnern, ob es hell- oder dunkelgrün war, weidmannsgrün oder was man "moosgrün" nennt, denn meine ganze Aufmerksamkeit galt dem Gesicht hinter der Windschutzscheibe. Das Auto wurde langsamer, als es sich der Kreuzung näherte. Erst blinzelte ich ein paar Mal ungläubig. Der Wagen kam zum Stehen.

Er war es. Das war eindeutig er. Diese arktisch blauen Augen und das schüttere gelbblonde Haar, das flach am Haupt klebte, waren nicht zu verwechseln. Auf Fotos sah er so muskulös und überlebensgroß aus, hemdsärmelig und majestätisch auf einem Hengst galoppierend – aber jetzt war er hier und kutschierte durch meine Gegend, Jackson Heights, Queens, in einem kurzärmeligen Leinenhemd mit Knopfleiste. Ohne Personenschutz. 
Er kurbelte sein Fenster herunter. Ich nahm den Duft von Herrenparfüm wahr. Etwa Pour Homme von Paco Rabanne? 
"Wo geht's zum Northern Boulevard?" Selbst um diese Tageszeit und trotz seiner lockeren Kleidung, strahlte er eine befehlerische Aura aus.
Ich schaute mich um, sah aber sonst niemanden. 
Da war nur ich. Er sprach mit mir. "Haben Sie kein GPS?" 
Verdrossen verengten sich die blassen Augen. 
"Waze? Google Maps?" 
Nein, hatte er nicht.
Ich geriet in Panik. "Es ist gleich um die Ecke." Und wies ihm die richtige Richtung. 
Die Ampel schaltete um, und er gab Gas.

Kaum war er verschwunden, befürchtete ich, einen schrecklichen Fehler gemacht zu haben. Was machte Wladimir Wladimirowitsch in meiner bescheidenen, ausgesprochen unglamourösen Nachbarschaft? Alleine und ohne Begleitung. Hatte er sich verfahren? Was wollte er von uns?

Mein Herz pochte schneller als sonst beim Training, und ich joggte wieder an Ort und Stelle auf dem Fahrbahnteiler, denn jetzt saß ich fest und musste wieder auf meine Chance zum Überqueren warten. Ich sagte mir, ich sollte mir keine Sorgen machen. Es muss eine rationale, vernünftige Erklärung geben. Ich würde sie morgen in der Post lesen. RUSSISCHER ZAR DURCHSTREIFT QUEENS und so weiter und so fort.

Noch immer hatte ich erhebliche Zweifel. Kaum ein oder zwei Minuten später sah mich der Northern Boulevard. Es war mir schleierhaft, was Vlad hierher bringen würde. Es ist eine deprimierende Aneinanderreihung von Autohäusern, Autozulieferbetrieben und Drogerieketten. Vielleicht musste sein Auto gewartet werden, sagte ich mir. Oder vielleicht war er auf dem Weg nach Manhattan – aber warum nicht auf dem Highway und dann via Tunnel nach Mid-Town?
Abgesehen von Autohändlern gibt es auf diesem kleinen Fleckchen Erde ein verschlafenes Einkaufszentrum mit Postamt, eine MRT-Klinik und eine Santander-Bank mit Self-Service. Nachdem man seine Innereien fotografiert hat, kann man in einer ausgezeichneten Patisserie, geführt vom ehemaligen Patissier des Waldorf Astoria, Gebäck kaufen. Vielleicht war es das. Vlad war früh aufgewacht und hatte beschlossen, die Konsulatsmitarbeiter mit einem Frühstückskorb zu verwöhnen – mit Croissants, Brioche, Wiener Baguette, vielleicht auch dänischem Plundergebäck mit Guave. In Anbetracht der Lage des Konsulats sind die Backwaren sehr preiswert.

Ich konnte ihn mir einfach nicht beim Einkaufen ein paar Blocks weiter bei Bed, Bath and Beyond oder Home Depot vorstellen. Nicht, weil ich nicht glaube, dass er seine Einkäufe selbst erledigt, sondern weil ich vermute, dass er kein großes Interesse an Verbesserungsarbeiten im eigenen Heim hat. Dafür gibt es keinen besonderen Grund. Es ist nur eine Vermutung.

Ich setzte meinen Weg in Richtung Landing Lights Park fort. Der Park ist nur eine von Bäumen gesäumte viereckige Grünfläche, die hie und da mit dünnen Masten versehen ist für die Scheinwerfer, die ankommende Flugzeuge leiten. Die Flugzeuge nähern sich im Tiefflug, sodass selbst so eine Kleine wie ich das Bedürfnis verspürt, sich zu ducken.

Und dann entdeckte ich ihn wieder. Am Straßenrand. Den Citroën. Und etwa hundert Meter entfernt, die Daumen in den Gürtelschlaufen seiner beigen Bundfaltenhose: Vlad, den Hals in den Nacken gelegt, in den Himmel blickend. 
"Hey!" rief ich.

Das Geräusch der herannahenden Düsentriebwerke übertönte meine Stimme. Der monströse Vogel war fast über uns. Beinahe hätte ich nach oben greifen und seinen schimmernden Bauch kitzeln können – aber pfeilschnell glitt er über die Bäume und landete auf LaGuardia.
Vlad nahm die Hände von den Hüften. Einen Moment lang hingen sie lose hinab. Dann griff er in die Hosentasche und zog die Autoschlüssel heraus. Er klimperte damit abwesend und kehrte in gemächlichem Tempo zu seinem Wagen zurück, während Flughafenarbeiter erst über das Gras trotteten und dann auf den betonierten Bürgersteig. Er griff nach dem Türgriff, zog die Tür auf (er hatte sie unverschlossen gelassen) und fuhr wieder los, diesmal die 25th Avenue hinunter in Richtung Manhattan.

"Lauf", befahl mein Telefon. Es ist auf ein Geh-/Laufprogramm eingestellt. Ich fing an zu joggen. Eine andere Möglichkeit hatte sich aufgetan: Herr Putin hatte womöglich Interesse an der Luftfahrt und wollte sich selbst ein Bild machen, welche Auswirkungen der Erweiterungsplan für LaGuardia auf die Flugrouten hatte. Diese Idee klang schon überzeugender: technisch und anspruchsvoll genug für einen Mann von seinem Kaliber in der Welt, und dennoch auch so vertraut, dass es Sinn machte. Die meisten Auswärtigen kommen nach Queens aus einem Grund, der irgendwas mit Flughäfen zu tun hat.

Während ich zuhause meine Joggingschuhe auszog, erzählte ich, was ich erlebt hatte. Wen ich gesehen hatte.
"Das gibt's doch nicht", sagte mein Mann, als ich fertig war. "Ich kann es nicht glauben." Er schüttelte den Kopf. "Ich glaube einfach nicht, dass er einen Citroën fährt. Heutzutage fährt doch niemand mehr einen Citroën. Bist du sicher, dass es kein Lada war?"
Ich dachte ernsthaft darüber nach.
"War er kastenförmig?" Er war auf dem Sprung zur Arbeit. "Sah er altmodisch aus?"
"Hmm, ja." 
"In diesem Fall ist es definitiv ein Lada."

Das Fabrikat des Wagens war für mich nicht von Belang. Etwas anderes beunruhigte mich. Etwas, das ich nicht genau benennen konnte. Es wurde mir klar, als ich auf meinen Computerbildschirm starrte. Vlad hatte auf Russisch nach dem Weg gefragt, und ohne darüber nachzudenken, hatte ich ihm in gleicher Sprache geantwortet. Ich ließ das Gespräch noch einmal Revue passieren. Spürte den Klang seiner Worte, die mir im Mund herumschwirrten. Zweifellos hatten wir uns in seiner Muttersprache unterhalten.

Aber woher hatte er gewusst, dass ich in der Lage sein würde, ihn zu verstehen, geschweige denn zu antworten?

Erinnerungen an die Jahre, in denen ich die Sprache in Indien gelernt hatte, kamen wieder auf. Ich war damals ein leicht beeinflussbarer Teenager gewesen, die Sowjetunion existierte noch, und Mumbai war noch Bombay – aber das konnte er auf keinen Fall wissen. Oder hatte er gar einen sechsten Sinn für solche Dinge? Nur so viel: Als ich ihm auf Russisch antwortete, hat er nicht einmal mit der Wimper gezuckt. 
Ich musste ihn wiedersehen. Ich bin kein Fan seiner Politik, aber, wie man vielleicht schon erraten konnte, bin ich russophil. Das Land von Turgenjew, Dostojewski, Tolstoi, der Steppen und Sibiriens hat mich schon immer angezogen, und jetzt war sein Oberboss hier, und noch dazu bei mir im Hinterhof.

Ich konnte mich nicht konzentrieren. Konnte kein einziges Wort schreiben. Ich fragte mich, ob ich ihn ein drittes Mal sehen würde, wenn ich das Haus wieder verließ. 
Im Café herrschte reges Treiben, als ich eintrat, der Gemeinschaftstisch war voller Gäste, die in ihre Tastaturen klapperten oder gebannt auf ihre Bildschirme starrten – und mein Herz machte einen Sprung. Da war er. Wieder allein, an einem Tisch im hinteren Teil. 
Ich gebot meinen zitternden Händen stillzuhalten und nahm meine Tasse Kaffee mit hinüber. "Mojhno?" Darf ich? Ich hoffte, dass ich lässig klang, und wartete nicht auf eine Antwort, als ich mich setzte. "Wie ist der Tee – schmeckt er?" 
Er zog eine Grimasse. "Schrecklich. Überhaupt keine Kraft. Selbst ein kleiner Junge kann kann den besser machen." 
Ich sah auf das Etikett, das am Tassenrand baumelte. Er war fair gehandelt, eine individuell hergestellte Mischung, aus in Sri Lanka und Assam von Hand gepflückten Blättern.
"Ich würde nächstes Mal Irish Breakfast probieren. Der ist etwas kräftiger." 
"Mag sein." 
Ich versuchte, lässig zu klingen. "Werden Sie den Tag in Queens verbringen?"
"Ich denke schon. Ich komme oft nach New York. Bin immer in Manhattan. Ich denke, es ist höchste Zeit für eine Erkundungstour."
"Offizieller Besuch?"
Keine Antwort.
"Also, wie oft kommen Sie hierher? Nach New York, meine ich."
Er lächelte verschmitzt. Er rührte den Tee um, trank aber nicht. "Alle paar Wochen. Keiner weiß es, weil es keiner merkt. Hier schaut niemand den anderen zweimal an." 
Ich ließ meinen Blick schweifen. Die anderen Gäste waren noch immer in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft. Er hatte Recht.
"In der U-Bahn tippen mir die Leute manchmal auf die Schulter und sagen: 'Hey, du siehst aus wie Wladimir Putin'; einmal rief ein Landstreicher meinen Namen. Aber das war's auch schon." 
"Sie fahren mit der Subway?"
"Die ist dreckig. Nichts im Vergleich zur Moskauer Metro. Ehrlich gesagt, nichts ist mit der Moskauer Metro zu vergleichen. Aber U-Bahn fahren ist viel schneller als Auto fahren oder ein Taxi nehmen."
"Was machen Sie noch so, wenn Sie hier sind?"
Er schaute auf das Gebräu in seiner Tasse.
"Los, Sie können es mir schon sagen. Ich werde es keiner Menschenseele erzählen."
"Versprochen?"
"Ehrenwort."
"Ich trainiere im Fitnessstudio Equinox. Es ist sehr schön, und von Zeit zu Zeit spiele ich Schach in den Parks. Sie wissen es vielleicht nicht, aber ich bin gut darin. Ich habe schon Hunderte von Dollar gewonnen. Glauben Sie mir nicht?" Zum Beweis zeigte er eine prall gefüllte Brieftasche. Feines Alligatorleder, vollgestopft mit Bargeld. "Wollen Sie spielen?" Es war eine Kombination aus Einladung und Aufforderung. "Ich habe ein Spiel im Auto."

Er schlug mich in sieben Zügen – wobei ich erstaunt war, dass ich überhaupt so lange durchgehalten hatte – und fügte meine mickrigen Scheine seinem Vorrat hinzu. Er klappte das Reiseschachbrett zu, schaute auf seine Uhr und stand auf. 
"Darf ich Ihnen nur noch zwei Fragen stellen, Vladimir Vladimirovich?" 
"Machen Sie's kurz."
"Was ist Ihnen lieber - Home Depot oder Bed, Bath and Beyond?"
"Home Depot hat ein paar nützliche Dinge, aber Bed, Bath and Beyond ist Schrott."
Genau wie ich dachte. 
Aber ich war noch nicht fertig. "Warum kommen Sie hierher? Warum kommen Sie wirklich hierher?"
"Was glauben Sie denn?" Er warf mir einen Blick zu, als wäre das die dümmste Frage, die er je gehört hatte. "Weil ich es kann. Ich kann tun, was ich will."

Ich folgte ihm zu seinem Auto, das er auf einem gebührenpflichtigen Platz geparkt hatte. Die Zeit war fast abgelaufen.
"Wo wollen Sie jetzt hin? Möchten Sie eine Wegbeschreibung?"
"Nicht nötig." Er winkte ab. "Überall, wo ich hingehe, öffnet mir die Welt ihre Türen. Heute Morgen habe ich eine Joggerin angesprochen und genau wie Sie hat sie mir auf Russisch geantwortet. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, es ist Magie. So aber weiß ich, dass ich das meinem Charisma zu verdanken habe."

Ein Teil meines Egos war enttäuscht, dass er mich von unserer letzten Begegnung nicht wiedererkannt hatte.
Aber das war von geringer Bedeutung angesichts der größeren Sache. Die große Neuigkeit war, dass Wladimir Putin hier war und sich in New York City herumtrieb, ohne dass es jemand mitbekam.

Ich spielte mit dem Gedanken, die Behörden zu informieren. Schließlich sollten sie alarmiert werden, wenn er unterwegs ist, um Schach zu spielen und Touristen und Einheimische um ihr hart verdientes Geld bringt. Wer weiß, vielleicht fährt er schwarz und springt über Drehkreuze, weil es ihm Spaß macht. Hat er überhaupt für seine Equinox-Mitgliedschaft bezahlt? Oder blufft er einfach, um hineinzukommen?

Ich bezweifle, dass mir die Behörden glauben würden. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Sie mir glauben. Aber eines sage ich Ihnen: Halten Sie die Augen offen. Er könnte Ihre Straße hinunterbummeln, Ihren Block entlang fahren oder sogar neben Ihnen in der U-Bahn sitzen.