Ich habe Angst vor dem Grauen hinter Mauern

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Ich habe Angst vor dem Grauen hinter Mauern

Eine Geschichte aus Ghana
Dr. Martin Egblewogbe

Es ist Sommer im globalen Norden (und Winter im globalen Süden), und im August bringt Literatur.Review beide zusammen und veröffentlicht bisher unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt.

Martin Egblewogbe verfasste die Kurzgeschichtensammlung The Waiting (lubin & kleyner, 2020) und Mr Happy and The Hammer of God and other Stories (Ayebia, 2012). Seine Texte sind in einer Reihe von Sammlungen erschienen, darunter The Gonjon Pin (2014 Caine Prize Anthology), PEN America's Passages Africa (2015), All The Good Things Around Us (Ayebia, 2016), Litro #162: Literary Highlife (2017), Between The Generations (2020), Shimmering At Sunset (2021) und Voices That Sing Behind The Veil (2022). Martin war der Herausgeber der Anthologie Resilience: A Collection (2021) und Mitherausgeber der Kurzgeschichten-Anthologie The Sea Has Drowned the Fish (2018) sowie der Gedichtbände Look where you have gone to sit (Woeli, 2010) und According to Sources (Woeli, 2015). Er ist Mitbegründer und Direktor des Writers Project of Ghana und Direktor des Pa Gya! A Literary Festival in Accra. Außerdem moderiert er die Radiosendung Writers Project auf Citi FM. Er ist Dozent am Fachbereich Physik der Universität von Ghana in Legon.

Crash
Ke war gerade dabei, am Straßenrand einzuparken, als ein Honda Crosstour anfuhr und gegen seinen Corolla stieß. Er brachte den Wagen in die richtige Position und stieg aus. Die Fahrerin des Crosstour sprach in ihr Handy. Nach einigen Minuten öffnete sie schließlich die Tür und stieg aus. Währenddessen überprüfte Ke den Schaden: Sein Auto hatte eine leichte Delle in der Fahrertür. Damit konnte er leben. Beim Crosstour hing die vordere Stoßstange an der Seite nach unten.

"Sie haben mein Auto gerammt", sagte die Fahrerin, die einige Meter von Ke entfernt neben ihrem Auto stand. Sie war klein und schlank, wirkte aber durch die hohen Absätze größer, trug Stretchjeans, eine Art Rüschenbluse und eine geradezu lächerlich große, rosa getönte Brille. Ihre Afrofrisur war so prächtig wie die einer amerikanische Soulsängerin der 1960er.

Es war ziemlich klar, dass ihre Schilderung des Vorfalls nicht stimmte. Man könnte höchstens differenzieren: Sie waren zusammengestoßen, und man konnte ihr nachsehen, dass sie sich beim Abbiegen im toten Winkel befunden hatte.

"Ich glaube, Sie sind abgebogen", antwortete er.

"Nein", erwiderte sie und hob ihr Telefon für einen weiteren Anruf. "Er ist mir in die Stoßstange gefahren", sagte sie ins Telefon. "Und jetzt ist sie kaputt." Sie hörte aufmerksam zu, legte auf und sagte erneut: "Sie ist kaputt."

Das rechte Ende der Stoßstange hing am Boden, und die Plastikabdeckung über dem Nebelscheinwerfer hatte einen Sprung. Kaum zu glauben, dass das alles erst jetzt passiert sein sollte.

Es war 14:30 Uhr in Accra im April – heiß, hell und schwül. Die Blätter der Bäume, die träge in der stillen Luft hingen, warfen zaghafte Schatten auf die Straße. Ke, dessen Nerven aufgrund einer Reihe unvorhergesehener und belastender Ereignisse ohnehin schon blank lagen, bemühte sich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Zu seiner Überraschung gelang es ihm.

"Vorschäden gab es nicht?", fragte er.

"Ich bin für ein paar Wochen in Ghana und möchte dieses Auto verkaufen. Was sonst? Ist doch eine Kleinigkeit." Sie war ruhig, aber es war nicht schwer zu erraten, dass sie versuchte, ihn zum Narren zu halten.

Sie befanden sich in einer ruhigen Straße in East Legon, die auf beiden Seiten von Restaurants, Imbissbuden, Cafés, kleinen Geschäften und anderen Läden dieser Art gesäumt war. Ke ging hier normalerweise Mittagessen, wie andere aus der Mittelschicht, die in den nahe gelegenen Büros arbeiteten.

Ke hatte fünfzehn Minuten für das Mittagessen eingeplant, von denen bereits vier Minuten verstrichen waren. Noch vier Minuten, und das Mittagessen war vom Tisch. Er überlegte, wie er diese Angelegenheit, die er für eine verdammt überflüssige Zeitverschwendung hielt, am besten beenden könnte.

Zwei Männer kamen aus dem Restaurant und beobachteten die Szene. Einer fragte:

"Alles unter Kontrolle?"
"Er hat mein Auto angefahren", bot die Frau zur Antwort.  "Und jetzt ist die Stoßstange kaputt."
"Oh Mann", wandte sich der Mann an Ke und sagte: "...so was passiert halt. Tut mir leid, Kumpel." Dann waren die beiden weg.

Ke war sauer. Erstens hatte die Frau keine Beweise dafür, dass er der Übeltäter war. Tatsächlich sprachen die Fakten eher für das Gegenteil. Immer wieder zu behaupten, er habe ihr Auto angefahren und die Stoßstange sei beschädigt, war allein schon Verleumdung. Hinzu kam, dass er gar nicht wusste, wie die Stoßstange zuvor ausgesehen hatte.

Es hatte so viel um die Ohren, und es fehlte ihm gerade noch, sich mit dieser Art von Dingen beschäftigen zu müssen. Außerdem musste er in acht Stunden einen Flug erreichen.

"Und was werden Sie jetzt tun?", fragte sie. "Ich arbeite als Krankenschwester in Finnland. Ich bin für ein paar Wochen hier und möchte das Auto vor meiner Rückkehr verkaufen. Wenn es nicht repariert wird, ist es weniger Wert."

Was meinte sie damit, "was er jetzt tun werde?" Warum war das plötzlich sein Problem? Und was interessierte ihn ihre Situation, dass sie ihm diese Dinge über sich erzählte? Nach Helsinki flog er allerdings auch. Ein interessanter Zufall, aber was hatte das damit zu tun?

Er flog heute Abend ab Accra, mit einem Zwischenstopp in Amsterdam, und würde am Mittwoch in Helsinki sein. Am Donnerstagmorgen hatte er eine Marketing-Präsentation.

Was sollte er ihr da sagen?

Natürlich könnten sie die Polizei rufen. Und die Versicherung.

"Das sieht nach einer Sache für die Versicherung aus", sagte er. Er wollte sich nicht darauf einlassen, wer Recht oder Unrecht hatte und wann und wie und ob es tatsächlich einen Vorschaden gab. Er schaute auf seine Uhr. Noch acht Minuten. Jetzt musste er ohne Mittagessen gehen.

"Sie werden vielleicht einen Polizeibericht verlangen. Das wird dauern. Und Sie haben Ihr Auto bewegt. Sie hätten das Auto stehen lassen sollen, damit wir Fotos machen können."

Ach, du großer Gott, dachte Ke, dann hätte ich aus der Beifahrertür klettern müssen.

"Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich in ein paar Tagen nach Finnland zurück muss. Ich kann nicht warten. Sagen Sie mir jetzt, was sie tun wollen." Dann ging sie wieder ans Telefon. "Der Mann spricht von Versicherung", sagte sie ins Telefon, hörte zu, schüttelte den Kopf und legte auf.

"Die Versicherung ist Zeitverschwendung", sagte sie. "Also..."

Ein Bild blitzte in seinem Kopf auf, wie er sich auf sie stürzte und sie zu Tode würgte, was er schnell verdrängte.

"Hier, meine Karte ...", er kramte in seiner Brieftasche und hielt ihr das kleine weiße Rechteck hin. "Schreiben Sie mein Autokennzeichen auf. Lassen Sie uns darüber ..."

"Nein", sagte sie. "Jedenfalls kann ich den Wagen nicht wegfahren."

Er war fassungslos. "Warum können Sie das Auto nicht bewegen?"

Sie legte ihre rechte Hand auf ihre Designer-Sonnenbrille und hob sie leicht an.

"Weil die Stoßstange kaputt ist."

Er fluchte leise vor sich hin. Wieder verdrängte er das Bild. Nur vier Minuten blieben ihm von seiner Mittagspause. Er musste nach Hause, um sich auf seine Reise vorzubereiten. Für all den Blödsinn hatte er keine Zeit mehr. Es musste das Problem zu seinem machen, wenn er loswollte.

"Haben Sie einen Mechaniker ..."

"Ich wohne doch nicht hier."

Warum fuhr er nicht einfach weg? Nun, zum einen war das sein Revier hier, und es hätte einen schlechten Eindruck gemacht. Schließlich war die Frau eine Fremde.

Er ging zum Auto, hob die Stoßstange an der Kante und klemmte sie wieder an ihren Platz. Sie hing schief.

"So kann man das nicht reparieren", sagte die Frau.

"So können sie jetzt aber fahren", antwortete er.

"Es muss repariert werden", beharrte sie. "Die Stoßstange muss ersetzt werden. Ich möchte dieses Auto verkaufen. Bringen Sie es zu Honda Place."

"Nicht doch", sagte er schließlich. "Sie bringen es zu Honda Place und lassen sich eine Rechnung geben. Ich muss jetzt gehen. Nehmen Sie jetzt meine Karte?"

In diesem Augenblick kam der Besitzer des Restaurants heraus und steuerte auf die beiden zu. Er war ein türkischer Einwanderer, schlaksig, bebrillt, mit schütterem Haar. Sein Auftreten war genauso zurückhaltend wie das von Ke.

"Ist alles in Ordnung?", fragte er Ke.

Ke wartete, bis die Frau mit den Vorwürfen durch war. Dann sagte er: "Ich muss jetzt gehen, aber sie kann meine Karte nehmen, und wir klären das." Ke wandte sich an die Frau. "Das ist der Besitzer hier, er kennt mich. Ich bin Stammgast."

"Wie wollen Sie das regeln?"

"Versicherung", antwortete Ke.

"Nein ...", begann die Frau. Ke hatte schon zwei Minuten überzogen. Er drückte dem Türken die Karte in die Hand und ging zu seinem Auto.

Die Frau schnappte nach Luft und stieß hervor: "Hey, ... Sie?"

Aber weg war er. Sie setzte ihm nicht nach.

Zigarette
Etwa zehn Minuten später steckte er im Verkehr fest. Als er auf die Navigations-App sah, versicherte sie ihm, dass er sich trotz des Verkehrs immer noch auf der besten Route befand. Starten, stoppen, starten, stoppen, im Kriechtempo zur Unterführung, auf die Spintex Road fahren und weiter zu den Regimanuel Estates. Dann musste er packen, was er bis zur letzten Minute aufgeschoben hatte, und die letzte Minute kroch immer näher an die Abfahrtszeit heran ...

Er kam kurz vor 16:00 Uhr zu Hause an und ging direkt in sein Schlafzimmer, in dem nach dem Packversuch in der Nacht zuvor Chaos herrschte. Er brauchte nur einen kleinen Koffer – er reiste immer mit leichtem Gepäck, und er war sowieso nur ein paar Tage weg. Ein dicker Pullover, eine Jacke, zwei Hemden, zwei Hosen, ein Paar Jeans – die zu bügeln waren. Ab zum Bügelbrett. Schuhe, Hausschuhe, Toilettenartikel.

Sein Laptop. Er musste sich vergewissern, dass die Präsentationen auch wirklich auf dem Computer gespeichert waren und dass die Dateien in Ordnung waren, wegen efie fuɔ und so weiter. Das Treffen in Helsinki war geschäftskritisch. Apropos, seinem Geschäftspartner und Leiter ihres Tech-Start-ups war das Einreisevisum für Finnland verweigert worden. Dieses Missgeschick schob er direkt auf einen Konsularbeamten in der Botschaft, einen kleinen, streitbaren Mann, der eine eckige Brille trug und nach Kaffee roch. Ninsin, sein Partner, hatte ihn am Freitagnachmittag angerufen und ihm die schlechte Nachricht überbracht. "Ke", sagte Ninsin, "ich habe das verflixte Visum nicht bekommen. Alles hängt jetzt von dir ab."

Das war der zweite Schlag, den Ke in dieser Woche einzustecken hatte.

Der erste Schlag war am Donnerstagnachmittag erfolgt, als er zum Militärkrankenhaus 37 eilen musste, um seinen im Sterben liegenden Freund zu besuchen. Obwohl zwischen ihnen ein Altersunterschied von mehr als zwanzig Jahren lag, war Freddie seit vielen Jahren ein Freund. Als ehemaliger Koch hatte er sein ganzes Berufsleben der Versorgung der feinen Gaumen der feinen Gesellschaft gewidmet, ein ziemliches Vermögen verdient und sich im Ruhestand in ein ruhiges Leben zurückgezogen.

Doch leider war Freddie, während er sich nach dem Mittagessen bei einem Bier in seinem Garten entspannte, von einer Kobra gebissen worden.

Wie aber war das genau passiert? War Freddie vielleicht eingenickt, und die Schlange war von der Palme gefallen, unter der er saß? Oder hatte sich die Schlange unbemerkt herangeschlichen? Aber welche Schlange würde den großen Freddie für eine Beute halten, es sei denn – wie die Familienmitglieder später andeuteten – sie wäre geschickt worden?

Auf jeden Fall schrie Freddie bei dem Biss vor Schmerz auf und alarmierte den Hausboy, der aus dem Haus in den Garten gerannt kam, gerade noch rechtzeitig, um zu beobachten, wie die Schlange sich schnell in das Palmenwäldchen zurückzog. Freddie war in den rechten Oberschenkel gebissen worden, den er nun mit beiden Händen umklammerte, während er heulte: "Aua, aua, w'aka me."

Der Hausboy hatte keine Ahnung von Erster Hilfe bei Schlangenbissen. Daher gingen wertvolle Minuten verloren, während er Freddie in ein Taxi verfrachtete und zum Krankenhaus fuhr, wo der einzigartige Vorfall eine kleine Krise auslöste.

– Ein Schlangenbiss? In Labone, hier in Accra? Ausgerechnet hier! 
– Welche Art von Schlange? Das müssen wir wissen. 
– Ich habe sie nicht gut gesehen.
– Aber hast du sie überhaupt gesehen?
– Als sie wegkroch.
– Welche Farbe?
– Schwarz.
– Ooooh, eine Mamba? Esi, haben wir Mamba-Serum?
– Nancy, wir haben kein Gegengift-Serum. Legt einen Kochsalz-Tropf an! Ruf sofort den Arzt.
– Sie hatte einen gelben Hals.
– Esi, schau auf Google "schwarze Schlange, gelber Hals".
– Gentleman, schau dir das Bild an, war sie so?
– Ja.
– Ooooh, Speikobra! Esi, haben wir Kobraserum?
– Wir haben kein Gegengift-Serum.
– Bist du dir sicher? Wir sollten rumfragen. Ruf in den Läden an! Hast du den Arzt gerufen?

Als Ke eine Stunde später ins Krankenhaus kam, lag Freddie in der Notaufnahme im Bett und hatte einen Infusionsschlauch am Arm. Er sah überhaupt nicht gut aus. Er konnte sich kaum bewegen und hatte eine Sauerstoffmaske auf.

"Ich fürchte, er wird es nicht schaffen", sagte der Arzt zu Ke im Behandlungszimmer. "Das Gegengift ist immer noch nicht geliefert worden. Es ist ein Wunder, dass er noch atmet. Das Bier war nicht gerade hilfreich."

Am Abend war Freddie tot. Das war am Donnerstag.

Ke hatte seitdem nicht mehr richtig geschlafen. Da er derjenige war, der zum Zeitpunkt des Todes im Krankenhaus war, wurde er zum Hauptansprechpartner von Freddie Familie, die die Verantwortung für die Dokumentation und andere Angelegenheiten nur zu gerne auf ihn abwälzte. Sein Telefon hatte die ganze Nacht hindurch ununterbrochen geklingelt. Diese unfassbare Schicksalswendung führte dazu, dass viele Familienmitglieder die Einzelheiten direkt von Ke erfahren wollten. Sie konnten es allerdings kaum glauben. Einige schrien Ke an, einige sagten, das könne nicht wahr sein, wiederum andere, die Schlange sei geschickt worden. Von wem, sagten sie aber nicht.

Am Freitag wurde Ninsin dann mitgeteilt, dass er nicht nach Helsinki reisen könne. Das bedeutete, dass Ke dessen Präsentation zusätzlich zu halten hatte. So mussten sie das Wochenende damit verbringen, die Präsentationen, die Codes, die App, den Businessplan durchzugehen – was sehr anstrengend war. Noch schlimmer: Ke trauerte auch noch.

Wenigstens rief die Krankenschwester aus Finnland nur einmal an: "Wie konnten Sie einfach so weggehen, Sie sind überhaupt kein Gentleman. Wir haben das Auto zu Honda Place gebracht und werden Ihnen die Rechnung schicken."

Ke war nicht in der Verfassung, sich damit näher zu befassen. "Warum schicken Sie mir die Rechnung?", fragte er.

"Weil Sie mir Ihre Karte gegeben haben", sagte die Krankenschwester.

Die Situation war unmöglich. "Das werden wir ja sehen", sagte Ke.

"Die Zukunft wird's schon zeigen", konterte die Krankenschwester.

Ke legte auf. Aber das Telefon spielte selbst dann noch verrückt, und er schaltete es für einige Zeit aus.

Um 18:15 Uhr war Ke bereit, zum Flughafen zu fahren. Er trug ein hellblaues Hemd, eine schwarze maßgeschneiderte Hose und schwedische Turnschuhe. Er rief seine Mutter an und berichtete ihr von der Reise; sie wünschte ihm alles Gute und wollte ihn nach seiner Rückkehr besuchen.

Er rief einen Uber, schätzte, dass er mindestens anderthalb Stunden in dem verdammten Spintex-Verkehr brauchte, um zum Flughafen zu kommen, und setzte sich auf die Veranda zum Rauchen, während er die zehn Minuten bis zur Ankunft des Ubers abwartete. Die Zigaretten waren eine mentholhaltige Marke aus Ägypten – ein Geschenk des verstorbenen Freddie – und hatten einen bemerkenswerten Geschmack. Die arabischen Aufschriften auf der Packung trugen zum Mysterium der ganzen Sache bei. Aromatischer Rauch umnebelte seinen Kopf.

Der Uber kam kurz nach 18:20 Uhr an, und Ke dachte, er könne froh sein, wenn er vor 20:00 Uhr am Flughafen sei. Der Nachtflug nach Helsinki über Amsterdam hob um 22:00 Uhr ab, und er musste bis 20:00 Uhr eingecheckt haben. Er könnte tatsächlich nichts mehr zu essen bekommen. Vielleicht im Flugzeug. Die einstündige Zwischenlandung um 4 Uhr morgens in Amsterdam versprach nicht mehr als einen Kaffee und Gebäck. Er würde hungrig am Ziel eintreffen.

Flug
Es war eine Raserei durch den Check-in. Er musst auch noch zur Abflughalle rennen, was ihn Zeit kostete, da er am Eingang sofort angehalten, befragt und durchsucht wurde. Dann war es ein Wettlauf durch die Abfertigung. Die Flugbegleiterin blickte ihn wenig verständnisvoll an und checkte ihn ein. "Haben Sie Gepäck?", fragte sie. "Ich nehme das hier mit", sagte er und deutete auf seinen Handgepäckkoffer. Sie wog ihn. 8,5 kg. Sie sah ihn an. Er lächelte sparsam. Sie reichte ihm sein Ticket. "Ich wünsche Ihnen einen guten Flug." Er war der letzte Passagier für den Flug. Als er ging, packte sie schon ein.

Der Aufruf zum Boarding hallte von den Lautsprechern, als er durch die Sicherheitskontrollen ging. Gerade hatte er die Abflughalle erreicht, als der letzte Aufruf zum Einsteigen ertönte. Die anderen Passagiere standen bereits vor ihm in der Schlange. Er gesellte sich zu ihnen und wischte sich zum x-ten Mal den Schweiß von der Stirn.

Das grelle Licht begann ihm in den Augen zu schmerzen, und auch das leise Brummen der Klimaanlage empfand er plötzlich als bedrückend, jetzt, da er ruhig auf einem Fleck stand. Die Leute in der Warteschlange sahen schlafbedürftig aus. Es war immerhin schon kurz vor 22:00 Uhr. 21:28 Uhr, um genau zu sein.

Im Fernsehen lief eine Wochenschau mit Bildern von startenden Kampfjets. Auf dem Ticker stand so etwas wie "EINSATZ VON F-15-FLUGZEUGEN ALS REAKTION ..."

Die Schlange bewegte sich.

Drei weitere Personen waren vor ihm. Einige der Passagiere in der Abflughalle schienen aufmerksam auf den Bildschirm zu schauen, aber Ke war das egal. An Bord gehen wollte er und sich hinsetzen. Selbst das beengte Sitzen in der Economy-Class wäre eine willkommene Erholung nach dem Stress der letzten Tage. Vielleicht könnte er sogar schlafen, allerdings funktionierte das bei ihm beim Fliegen nie.

Der Fernseher war wieder in seinem Blickfeld. Da war ein Podium, schwarz und imposant, mit einem glitzernden Wappen auf der Vorderseite. Hinter dem Mikrofon saß ein dicker weißer Mann in Militäruniform. Streng sah er aus. Ke konnte ihn in der Aufnahme nicht erkennen. Auf dem Ticker stand: "... ALARMIERENDE EREIGNISSE DER LETZTEN STUNDEN. PRÄSIDENT BEKRÄFTIGT 'EISERNE ENTSCHLOSSENHEIT' ..."

Er war an der Reihe. Die beiden Frauen am Schalter überprüften kurz seine Papiere, dann wurde ihm mit einem Lächeln und den Worten "Guten Flug" sein Pass ausgehändigt. Er folgte den anderen die Treppe hinunter nach draußen.

Es regnete leicht und wehte ihm die Tropfen ins Gesicht. Ke fand das recht erfrischend. Sie wurden zu dem wartenden Bus geleitet, der abrupt und schnell losfuhr. Er ergriff die Stange im Bus mit einem Arm und hielt sich fest, als der Bus auf das Rollfeld düste.

Vor den Augen der großer Vogel – eine 737 – glatt und glitzernd im Regen, als der Bus in einer weiten Kurve auf das Flugzeug zuflog. Ein schöner Anblick – Ke spürte, wie beim Betrachten die Spannung von ihm abfiel. Er atmete tief durch. Auch sein Griff um seine Tasche lockerte sich.

Er hatte einen Fensterplatz links. Er schob seine Tasche unter den Sitz und schnallte sich gleich an, lehnte sich zurück und schloss die Augen. In der Kabine herrschte Aufregung, aber er wollte alles ausblenden.

Hinter ihm fand bedächtig und leise ein interessantes Gespräch statt.

"Tapferkeit im Krieg..." "...hat unterm Strich keinen Wert..." "Wir vergessen den Zweiten Weltkrieg..." "Die Schrecken können nicht hingenommen werden..." "Ein Schiff wurde im Pazifik torpediert... Wochen auf offener See..."

Er konnte dem Gespräch nicht richtig folgen, und außerdem schaltete sich der Lautsprecher ein und der Pilot grüßte. Die Motoren drehten höher. Mehr Stimmen kamen aus dem Lautprecher, und auf allen Bildschirmen wurde das Sicherheitsvideo eingeblendet.

Dann rollten die Räder, waren in der Luft und stiegen von Kotoka aus steil über das Meer auf.

Whiskey 
Ke trank gerade sein zweites Bier, nachdem ihm ein Whiskey verweigert worden war (die Verweigerung wurde von einem vielsagenden Nicken der Hostess begleitet, einer hübschen, großen Rothaarigen mit distanzierter Haltung), die ihn stattdessen mit drei Dosen Bier besänftigte. Ke war es sehr angenehm, Bier nach Mitternacht zu trinken, während man mit 700 km/h durch die Atmosphäre raste. Whiskey wäre ihm allerdings lieber gewesen.

Im Fluggastraum war es ruhig geworden, die meisten Passagiere versuchten, es sich gemütlich zu machen. Ein paar Leute lasen. Jemand auf der anderen Seite des Ganges war auf das Navigationsvideo fixiert.

Ke nahm noch einen Schluck, und als Schatten auf seine Seite fielen, war sein erster Gedanke, dass das Bier so stark gar nicht sein konnte.

Aber dann begann die Kabine heller zu werden, Licht strömte von unten herein, berührte zuerst die Decke und wurde dann sehr schnell strahlender, rot, dann bernsteinfarben, brüllend bernsteinfarben und ein gleißend grelles Gelb, das durch die Wände des Flugzeugs zu lodern schien und die Kabine von einem Ende zum anderen ausleuchtete –

heller als das Licht von tausend Sonnen ...

und plötzlich gellten Schreie in der Kabine. Gekreische, Schimpfwörter in bekannten und unbekannten Sprachen, Rufe nach Christus, Allah, der Mutter Gottes, ein glossolalischer Ausbruch, der aus ungekannten Gründen schnell erstickt wurde, doch niemand rührte sich – alle schienen auf ihren Sitzen festgenagelt oder, selbst wenn sie auf den Füßen waren, im Stehen.

Das Flugzeug flog ruhig weiter ...

Die Wolke stieg, von unten erhellt, in Schwaden wie ein Pilz in die Höhe, funkelte und blitzte, und dann begann am Boden nach und nach der Glanz zu erlöschen ...

Ke hatte instinktiv den Kopf geneigt und sich seine Augen zugehalten, aber selbst dabei glühte das Blut in den Adern seiner Hände hell in seinen Augen, und der Schatten der Knochen war gleich ein Röntgenbild ...

Aber nach nur wenigen Augenblicken begann die Helligkeit zu schwinden, und als Ke die Augen öffnete, sah er durch die Steuerbordfenster die feurige, todbringende Wolkenballung, den Weltenzerstörer ...

Sie flogen immer noch ruhig, wenn man bedenkt, was um sie herum alles geschah und angesichts der inzwischen gedämpften Panik an Bord, dieses absoluten Schocks ...

Ke, jetzt scheinbar Herr seiner Gefühle, leerte die Dose, öffnete eine weitere und betrachtete die Dinge aus Pilotenperspektive. Wie lange würde es dauern, bis die Schockwelle das Flugzeug traf, und würde es das Schütteln, Rütteln und die Erschütterungen aushalten, wäre es sinnvoll, höher zu fliegen, sogar über die Betriebsgipfelhöhe, wo die Luft dünner war, oder wäre es besser, vom Epizentrum abzudrehen, um eine Breitseite zu vermeiden, oder wäre es am besten, auf Kurs zu bleiben, der einzigen Route, für die der Tower eine Freigabe erteilt hatte, ... und war diese Dreifaltigkeit an Optionen die einzig mögliche ...

Die Lautsprecheranlage knisterte. Die meisten Schreie waren verklungen, aber es gab untröstliches Weinen und Stöhnen in der ganzen Kabine, und von Zeit zu Zeit hörte man Erbrechen.

Hier spricht Ihr Kapitän [unverständlich].

Fuck [Rauschen]. Fuck [unverständlich].

[Rumsen] Es scheint einen [unverständlich] gegeben zu haben.

[Pause] Kabinenbesatzung, Notfallstationen.

Die Flugzeugcomputer melden keine Fehler und wir haben das Flugzeug unter Kontrolle. Es scheint einen ernsten Zwischenfall am Boden gegeben zu haben. Wir haben den Funkkontakt verloren.

[Rauschen]

Hier spricht der erste Offizier [unverständlich].

[Weinen].