Die Witwe des Ausländers
Es ist Sommer im globalen Norden (und Winter im globalen Süden), und im August bringt Literatur.Review beide zusammen und veröffentlicht bisher unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt.
Iman Humaidan, geboren in Ain Anub im Libanon, studierte Soziologie und Anthropologie an der American University of Beirut. Sie hat fünf Romane und verschiedene Kurzgeschichten veröffentlicht, die alle in internationale Sprachen übersetzt wurden. In ihren Romanen lässt sie Frauen zu Wort kommen und ihre eigenen Geschichten erzählen. Ihr vierter Roman ‚50 Gramm Paradies‘ wurde 2016 mit dem Katara-Preis (Katar) ausgezeichnet. Sie unterrichtet Arabisch und kreatives Schreiben an europäischen und nordamerikanischen Universitäten. Ihr Kurs für kreatives Schreiben an der Universität Saint Denis in Frankreich ist der erste Kurs, der in arabischer Sprache gehalten wird. Humaidan war Jurymitglied beim Internationalen Preis für arabische Belletristik IPAF 2022. Sie ist Mitbegründerin des libanesischen P.E.N.-Zentrums, dessen Präsidentin sie von 2015 bis 2022 war, und Vorstandsmitglied von Pen International von 2017 bis 2023. Humaidans vier ins Deutsche übersetzten Romane sind im Lenos Verlag erschienen.
Ihren Koffer hinter sich herziehend, verliess sie durch Tür Nummer vier die Ankunftshalle des Flughafens Beirut. Glühendheisse Sommerluft schlug ihr entgegen. „Jetzt bist du allein hier… Zum ersten Mal kommst du hier allein an. Daran wirst du dich gewöhnen müssen“, flüsterte sie vor sich hin. Die nicht sehr zahlreichen Taxifahrer liessen sich vernehmen: „Taxi, Madame? “
Im Taxi gab es keine Klimaanlage oder der Fahrer hatte keine Lust, sie einzuschalten. Von ihrem Platz auf dem Rücksitz aus betrachtete sie den Hinterkopf des Fahrers. An seinem Nacken lief ein dünner Schweissfaden hinab. Ab dem Stadtrand schien an ein Weiterkommen, auch nur im Schritttempo, kaum mehr zu denken. Plötzlich bemerkte Mona, dass der Fahrer ein Gespräch führte, sie wusste nicht, wann und wie es begonnen hatte. Der Mann schien mit allem unzufrieden, ja, wütend auf alles. Sie stand noch unter dem Eindruck des Todes ihres Freundes und Lebenspartners und war nicht in der Lage zuzuhören. Zwei Wochen war sie weg gewesen, die ihr wie lange Monate vorkamen. Das Wetter in der Schweiz, in Basel, war grau gewesen. Sie war zur Kremierung des Toten hingefahren. Am Tag danach überreichte ihr der Angestellte des Krematoriums ein silberfarbenes metallenes Gefäss. Es enthalte die Asche, erklärte er – alles, was von Thomas noch übrig war. In jenem Augenblick wusste sie nicht, was sie zu tun hatte, wohin sie das Gefäss stellen, was sie damit anfangen sollte. Mehrfach war sie drauf und dran, dem Mann zu sagen, sie wolle das nicht haben. Bei sich in Beirut würde das eher negativ gesehen. In ihrer Kultur verbrenne man einen Toten nicht, sondern bestatte ihn und lasse ihn ruhen, so dass die Familie und die Freunde Blumen zum Grab bringen und zu dem Toten sprechen und ihn beweinen könnten. Was würde ihre Tante dazu sagen, die fest glaubte, dass die Seelen der Toten bei den Lebenden bleiben. Ihre Tante, die immer und bei jedem Unglück ein Lichttor entdeckt. Aber am Ende sagte Mona dem Mann nichts, zumal er ihr seine Hand hinstreckte – Beileid und Abschied. Er, der seine Aufgabe bestmöglich erfüllt hatte, machte kehrt und schritt von dannen, während sie schweigend mit der metallenen Urne in der Hand dastand, nicht wissend, was sie damit anfangen sollte. Sie blickte der Silhouette des Mannes nach, dem sie nur zweimal begegnet war. Er schritt zu dem langgezogenen, eher finsteren Gebäude und verschwand darin.
Jahrelang hatte Thomas in Westbeirut gelebt. Man nannte ihn Tom, den Ausländer. Wahrscheinlich hat der Portier diesen Namen in Umlauf gebracht, der dann allgemein geläufig wurde für den Bewohner von Apartment Nr. 2 im ersten Stock des Haddâd-Blocks. Als Mona bei ihm einzog, nannte man sie die Frau des Ausländers. Auch sie hatte keine Familie und praktisch keine Angehörigen, etwas, was im Libanon nicht alltäglich ist, wo Beziehungen zur Familie, zur Verwandtschaft und zur Religionsgruppe sehr präsent sind. Vielleicht war es diese Gemeinsamkeit, das Fehlen familiärer Beziehungen, die sie und Thomas einander näher brachte, ohne dass ihnen das bewusst war. Thomas erzählte ihr, er sei Einzelkind und habe keinerlei Verwandtschaft in der Schweiz. Sie ihrerseits hatte lediglich eine Tante, eine Schwester ihres Vaters, die in einem kleinen Dorf weit weg in der westlichen Bekaa-Ebene lebte. Sie glaubte an die Seelen, betrieb bei Frauen Dschinnen-Exorzismus, lebte in der Vergangenheit und erzählte die Geschichten der Familie, von der niemand mehr am Leben war. Bei Monas seltenen Besuchen versicherte ihr die Tante, dass sie noch immer die Schritte der verstorbenen Familienmitglieder in den verschiedenen Zimmern ihres Hauses hörte. „Die Seelen wohnen noch immer hier.“ Diese Geschichten, die Mona schon viele Male gehört hatte, schloss die Tante immer mit einem langen Seufzer ab und fügte noch hinzu: „Schliesslich enden wir doch alle auf dem letzten Abfallhaufen, alle ohne Ausnahme.“
Mona spürte keine Lust, dem Taxifahrer zuzuhören oder gar etwas zu entgegnen. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen. In wenigen Monaten musste sie ausziehen, musste Möbel und persönliche Dinge aus der Wohnung räumen, in der sie mit Thomas über fünfzehn Jahre das Leben geteilt hatte. Sie konnte sich die Miete nicht weiter leisten, nicht einmal ihren monatlichen Anteil am Lohn des Portiers. Thomas hatte nichts hinterlassen, zum Beispiel eine Lebensversicherung oder eine Rente. Einen Grossteil ihrer gemeinsamen Ersparnisse auf der Bank hatte ihre Reisekosten verschlungen. Sie hatte den Toten in seine Heimatstadt begleitet und dort zwei Wochen lang in einem Hotel gewohnt, bis die Kremierung samt allen Modalitäten abgeschlossen waren. Thomas war nach seiner Frühpensionierung, um in Beirut bleiben und leben zu können, als freier Journalist tätig gewesen, wie man so sagt. Das heisst, er wurde für jeden einzelnen Artikel bezahlt, den er an die Zeitungen in Europa schickte. Sie, Mona, gab Arabischkurse für ausländische Studenten und Journalisten, die kamen und gingen. So hatte sie eines Tages auch Thomas kennengelernt. Zunächst hatte sie ihm Arabisch beigebracht, und nachdem sich ihre Beziehung gefestigt hatte, war sie bei ihm eingezogen. Jetzt musste sie Abschied nehmen von ihrem Gefährten, der gestorben war, ohne ihr etwas zu hinterlassen, ausser einem kleinen Blatt Papier, auf dem er ihr alle seine Habseligkeiten und sein Bankkonto vermachte. Mit alldem könnte sie nicht einmal die Miete für ihre gemeinsame Wohnung bezahlen. Sie würde entweder ausziehen oder irgendwelche Mitbewohnerinnen akzeptieren müssen, wie früher einmal, als sie an Studentinnen untervermietete. Doch inzwischen hatte sie das Studentinnenalter hinter sich gelassen und würde es nicht mehr ertragen, das Bad zum Beispiel mit einer anderen Person zu teilen. Sie mochte auch nicht mehr am Morgen, gleich nach dem Aufwachen einer fremden Person begegnen und dieser einen guten Morgen wünschen.
Obwohl in ihrer Beziehung nie ganz klar wurde, ob sie auf Liebe, Geschwisterlichkeit, Freundschaft oder Nachbarschaft basierte, lebte Mona sehr gern mit Thomas zusammen, wohl auch, weil er in persönlichen Dingen nicht sehr mitteilsam war. Er sprach viel lieber über Gott und die Welt als über sich selbst, und eigentlich löste sich der Knoten in seiner Zunge erst nach einer Flasche Wein oder mehreren Flaschen Bier.
Jahrelang hatten sie keinen körperlichen Kontakt. Nur zu Beginn ihrer Beziehung hatten sie ein paarmal miteinander geschlafen. Danach reduzierte sich, sie weiss nicht warum, ihr Intimleben auf nächtliche Berührungen. Er liess seine Hände über ihren ganzen Körper gleiten, und wenn sie in seinen Armen einschlief, dachte sie, ihr gemeinsames Leben sei doch schön, aber irgendwie so etwas wie ein Kinderspiel. Nach seiner Festnahme an der libanesisch-syrischen Grenze hörte er sogar auf, sie zu berühren. Was ihm dort passiert war, wie schlimm er gefoltert wurde, erfuhr sie nicht, aber sie erlebte nur allzu deutlich, dass er sie danach nicht mehr anfasste und den Grossteil der Nacht in seinem Arbeitszimmer verbrachte und erst spät ins Bett kam.
„Ich mag die Farbe von deinem Nachthemd“, sagte er, auf dem Bettrand sitzend und bereit, sich hinzulegen. An Sätze wie diesen gewöhnte sie sich. Wollte er sie ermutigen, sich nicht mehr nackt ins Bett zu legen? Vielleicht. Auch an andere liebenswürdige Bemerkungen gewöhnte sie sich, für die er immer eine Gelegenheit fand. Freundliche Bemerkungen wie Entschuldigungen für etwas, wozu er nicht imstande war. Entschuldigungen, die er jede Nacht auf die eine oder andere Weise vorbrachte, bevor er ihr den Rücken zudrehte und einschlief.
Auch sie begann, sich im Bett alt zu fühlen. Zu alt sogar, um ihn zu bitten, doch mit ihr zu schlafen oder ihre Scham zu küssen, wie er es zu Beginn ihrer Beziehung oft getan hatte. Doch sie schaffte es nicht. Sie stellte sich vor, körperliche Liebe folge den Gesetzen der Physik: sie könne ihn nicht zwingen, sich von ihr angezogen zu fühlen, wenn er eben nichts mehr empfinde – ein Gedanke, der bei ihr ein Gefühl aus Scham und Schuld wachrief. Aber das Leben ist kein Zufall, sagte sie sich. Sie seien sich nicht zufällig begegnet, und trotz ihrer körperlichen Trennung und dem Tod des Verlangens gebe es da sicher Gründe der Liebe, verborgen in anderen sie verbindenden Eigenschaften. Wie liesse sich sonst ihrer beider Sympathie füreinander erklären, auch ohne einen sexuellen Ausdruck dieser Sympathie, auch ohne ein körperliches Begehren. Sie gingen gern zusammen ins Kino, schlenderten gern Hand in Hand an der Corniche oder kauften in den Dörfern im Gebirge ungespritzte vegetarische Nahrungsmittel. Sie mochten dieselben Speisen, besonders scharf gewürzte asiatische, und sie genossen es, gemeinsam in der Küche die Nachrichten zu hören, während sie ein leckeres Abendessen vorbereitete und er ihr ein Glas Weisswein einschenkte und ihr von dem Artikel erzählte, an dem er gerade arbeitete. Manchmal erzählte sie ihm auch von dem Roman, den sie gerade las und in der vergangenen Nacht nicht aus der Hand legen konnte. Er schenkte ihr ein, und sie bat ihn, die Flasche zurück in den Kühlschrank zu stellen, damit der Wein kühl blieb. In Augenblicken wie diesem lächelte sie und versuchte, sich die gleiche Szene zwanzig Jahre später vorzustellen, wenn sie alt und tattrig wären und keinen Wein mehr tränken und keine scharfen asiatischen Speisen mehr ässen. Auch, ob zwei Personen, deren eine keine sexuelle Leidenschaft für die andere spürte, miteinander leben und alt werden könnten. Die Katze, die sie sich hielten, half ihr. Sie strich unter dem Tisch mit ihrem Kopf an ihrer beider Beinen vorbei, um sanft auf sich aufmerksam zu machen. Dann maunzte sie tief und erwartete, etwas zu essen zu bekommen. Eines Abends hatte Mona sie, die erst ein paar Wochen alt war, mitgebracht. Sie hatte sich, pausenlos miauend, vor dem Smith-Supermarkt an ihre Fersen geheftet. Mona hatte das Gefühl, die Katze habe sie auserwählt und ihr bleibe gar nichts anderes übrig, als sie mit nachhause zu nehmen. Inzwischen war die Katze alt geworden und nicht mehr imstande, wie früher herumzurennen und in jedem Winkel der Wohnung zu spielen.
Manchmal beobachtete Mona Thomas, wenn er schlief. Das Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, stellte sie sich als eine weite Ebene vor, auf der sich Szenen ihrer gemeinsamen Vergangenheit tummelten: aus der kurzen Anfangszeit, nachdem sie sich kennengelernt hatten und das Verlangen noch grenzenlos war, als das Bett ihre nackten Körper feierte, als ihr Schweiss, ihr Geflüster, ihr Speichel und das Wasser ihrer beider Lust die Betttücher durchtränkten und ihnen einen Duft verlieh, der sie die ganze Nacht umfing. All das war nur während einer kurzen Zeit, nicht länger als ein paar Monate und hörte auf, nachdem sie bei ihm eingezogen war. Aber offenbar wollte Mona nicht zugeben, dass es wirklich so kurz war. Sie liess ihren Phantasien freien Lauf und dehnte den Rahmen ihrer sexuellen Beziehungen drastisch aus, so dass er schliesslich die ganze Zeit ihres gemeinsamen Lebens umspannte.
An all das dachte sie, während der Taxifahrer ohne Punkt und Komma über die Fremden herzog, die das Land kaputtmachten. „Was ist da bloss los? Eine Katastrophe ist da über uns hereingebrochen. Seit unser Land unabhängig geworden ist, hat es keinen schönen Tag erlebt. Erst kamen die Palästinenser, jetzt die Syrer …“ Das Gesicht des Fahrers, der mit der Situation im Land offensichtlich unzufrieden war, glich einer roten Kugel, die jeden Augenblick detonieren konnte. Irgendwann richtete sich seine Unzufriedenheit auf das Chaos auf den Strassen, die Luftverschmutzung und die sommerliche Hitze. Nach jedem Satz hielt er inne und sah sich um, bereit den Kampf mit einem der Fahrgäste aufzunehmen. Aber neben ihm sass niemand. Mona war der einzige Fahrgast, und sie sass schweigend hinten im Wagen. Und je wütender der Fahrer wurde, desto intensiver sah sie aus dem Fenster. Von aussen musste ihr Kopf wie der einer Statue aussehen. Von Zeit zu Zeit schaute der Fahrer in den kleinen Rückspiegel, der vor ihm an der Wagendecke angebracht war, um den Eindruck zu erwecken, seine Äusserungen seien direkt an Mona gerichtet und er erwarte von ihr eigentlich eine Antwort auf seine Fragen. Ausserdem schloss er jeden Satz mit einem „Sie sollen uns in Ruhe lassen! Wir wollen keine Fremden. Madame, ich schwöre beim Evangelium, beim Koran und bei allem, was in heiligen Büchern steht, unser Leben war so angenehm, wie man es sich wünscht, bis die alle gekommen sind ...“ Diesmal lächelte Mona insgeheim. Erstaunlich, wie dieser Mann bei allen himmlischen Büchern gleichzeitig schwört. So sind alle zufrieden. Er schwört bei alldem und ist gleichzeitig voller Hass. Ja, er scheint jederzeit bereit, Gewalt anzuwenden. Gäbe es die himmlischen Bücher doch im Feminin, dachte Mona, um wie viel sanfter wäre der Glaube! Um wie viel weiblicher wäre Gott! Alle Kriege würden enden, versicherte sie sich.
Mona lebte viele Jahre mit Thomas zusammen, weshalb die Leute natürlich glaubten, sie seien verheiratet, und obwohl das unverheiratete Zusammenleben einer Frau und eines Mannes in Beirut nichts Aussergewöhnliches mehr war, störte sie dieses Missverständnis von Zeit zu Zeit. Es schuf in ihr ein Gefühl der Unsicherheit, und hin und wieder fragte sie Thomas, ob sie nicht heiraten sollten, auch wenn dieser Gedanke widersprüchliche Gefühle bei ihr weckte. Denn sie war auch davon überzeugt, etwas Besonderes zu sein und ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen gewählt zu haben und zu führen, ein eigenständiges Leben, das sich von der Existenz anderer Frauen um sie herum unterschied, die einfach heirateten und Hausfrauen wurden. Es war ein Leben, das es ihr erlaubte, ihre persönliche Unabhängigkeit und das Privileg zu bewahren, anders zu sein als die Frauen im Haus oder an der Universität, wo sie Abendkurse für Arabisch gab. Auf diese Weise anders zu sein machte sie glücklich und stärkte ihr Selbstvertrauen als freie, selbständige Frau. Doch dann wurde Thomas bei seiner Rückkehr nach Beirut an einem kalten Februarmorgen im Jahr 2012 an der libanesisch-syrischen Grenze vom syrischen Geheimdienst entführt, und danach blickte er mit anderen Augen auf sein Leben und hatte sogar nichts mehr gegen Gespräche übers Heiraten einzuwenden.
Thomas war in den Fünfzigern und eigentlich nicht für die Ehe gemacht. Er hatte nie daran gedacht, eine Familie zu gründen und Kinder zu haben. Er war in den 1960er Jahren geboren und wuchs bei sich zuhause unter dem Einfluss der Hippiebewegung und der Ablehnung gesellschaftlicher Normen zugunsten des Individualismus auf. Doch das Erlebnis der Entführung und der zwei Monate langen Einkerkerung hatte etwas in ihm zerbrochen. Er hatte Angst vor etwas. Vielleicht davor, krank zu werden, vielleicht davor, allein zu sein, vielleicht davor, alt zu werden. Nach Beirut war er als Korrespondent gekommen, um über die libanesischen Kriege zu berichten, aber trotz dieser Kriege sagte ihm das Leben in Beirut zu und er beschloss zu bleiben und sich dauerhaft in der Stadt einzurichten, zumal er sich als Journalist selbständig gemacht hatte und auf eigene Rechnung arbeitete. Manchmal verschwand er und kehrte erst nach Tagen oder gar Wochen zurück. Er berichtete über die Kriege, später über die Ereignisse des arabischen Frühlings erst in Tunesien und Ägypten, dann in Syrien. Über diesen arabischen Frühling, der sich von Ort zu Ort verschob und aus dem schliesslich blutige Kriege hervorgingen, die den Menschen jegliche Hoffnung auf Veränderung nahmen.
Nach der Rückkehr von solchen Reisen erzählte er Mona immer von seinen Erlebnissen und den Artikeln, die er über Orte schrieb, die er besucht hatte. Über die Umstände seiner Entführung erzählte er dagegen nie etwas, auch nicht über die Einschaltung ausländischer Botschaften, um seine Freilassung zu erwirken. Zwei Monate nach seinem Verschwinden kam er in Begleitung eines Freundes zurück und tat so, als wäre es eine dieser normalen Recherchereisen gewesen, wie er sie immer wieder unternahm, seit sie bei ihm eingezogen war. Sie könnten doch nach Zypern reisen und dort standesamtlich heiraten, schlug er Mona vor. Der Libanon erlaube ja standesamtliche Trauungen auf seinem Territorium nicht, anerkenne sie aber – einer von zahlreichen wundersamen Widersprüchen im Land. Doch kurz darauf wurde bei ihm Krebs diagnostiziert, und die beiden vergassen die Sache mit dem Eheschluss und konzentrierten sich ganz auf die häufigen Besuche im nahegelegenen Krankenhaus. Aber die Behandlung mit Bestrahlung und Chemotherapie, die über ein Jahr dauerte, half ihm nur noch kurze Zeit. Danach ergab er sich der tödlichen Krankheit und starb.
An all das dachte sie jetzt, nachdem sie, mit der Asche von Thomas‘ kremiertem Körper in ihrem kleinen Koffer in Beirut angekommen, im Taxi sass, das sie in ihre Wohnung in Westbeirut bringen sollte, das aber im erstickenden Verkehr nur stockend vorankam. Zwei Wochen war sie weg gewesen, um die testamentarischen Verfügungen des Mannes zu erfüllen, mit dem sie jahrelang zusammen gelebt hatte, über dessen früheres Leben, bevor er in den 1980er Jahren nach Beirut gekommen war, sie aber fast nichts wusste.
Damit fertigzuwerden, half ihr die Phantasie. Sie half ihr auch, ein Schweigen auszuhalten, das sie vergeblich immer wieder aufzubrechen versuchte. Trotz allem gab es ja viele Dinge, über die sie sich gemeinsam freuten: zum Beispiel den Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon oder den Ausbruch der syrischen Revolution. Er schien eine alte Rechnung mit Mächten begleichen zu müssen, über die er sich nicht äussern wollte. Auch ihre gemeinsamen Freuden schienen für ihn etwas Öffentliches, weit entfernt von jeglicher Intimität.
Sie merkte nicht, dass das Taxi vor dem Gebäude angekommen war. Erst nachdem der Fahrer mehrfach wiederholt hatte: „Hier sind wir. Macht 25 tausend Lire“, reichte sie ihm das Geld und stieg wie schlafwandlerisch aus dem Auto.
Vor dem Aufzug im Haddâd-Apartment-Haus, wo sie wohnte, wurde sie von einer Frau aus dem zweiten Stock angesprochen. Eine weitere gesellte sich hinzu. Beide kondolierten ihr. Sie war jetzt die Witwe des Ausländers geworden. Sollte sie den beiden Frauen sagen, sie sei ebenso wenig die Witwe von irgendjemandem, wie sie die Ehefrau von irgendjemandem gewesen sei? Sie sei aber seine Frau und Lebensgefährtin gewesen, sie vermisse ihn, und ihr Leben werde jetzt schwierig werden. Sie verdiene den Trost auch ohne Trauschein. All das ging ihr durch den Kopf, doch sie sagte nichts davon. Beklommen und leise dankte sie völlig automatisch für die Kondolenzworte. Vor ihrer Wohnungstür im ersten Stock hielt sie lange inne, als müsse sie sich erst einmal erholen. Als sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund kramte, wurde ihr plötzlich klar, dass es seiner war. Ihr wurde auch klar, dass sie während der Fahrt vom Flughafen bis hierher sich nicht nur an ihr gemeinsames Leben erinnert, sondern auch ein langes Zwiegespräch mit ihm geführt hatte. Als wäre er gar nicht weggegangen. Als wäre sein Verschwinden eine Lüge. Als wäre ihr Herz imstande, bis zum Tod zu verzeihen.
Die Tage vergingen. Tage, während derer sie begann, das Alleinleben zu lernen. Tage, an denen sie sich gern mit ihm unterhalten hätte. Erst jetzt, nach seinem Tod, schien sie in sein Leben einzutreten. Aber dann brauchte sie doch mehr als zwei Monate, bis sie die Kraft fand, die Tür zu seinem Arbeitszimmer zu öffnen. Es war unumgänglich geworden, da sie die Wohnung bis zum Jahresende räumen musste. Es gab unzählige Schubladen im Zimmer, einige davon verschlossen. Die Schlüssel dazu fand sie auf einem der Regale hinter einem Buch – Briefe an Milena von Kafka.
Mona musste allein diese Schubladen öffnen. Sie waren voller Bilder und Briefe, in Pappschachteln angeordnet. Unter vielen anderen Habseligkeiten fand sie auch befremdliche und überraschende Dinge: einen Damenschlüpfer, grösser als die von ihr selbst getragenen, und einen weiteren, der nicht mehr ganz der Mode entsprach. Vielleicht hatte er ihr einmal erzählt, die Stücke stammten von der ersten Frau in seinem Leben. Sie fand aber noch ein drittes und ein viertes Spezimen, alle unterschiedlicher Grösse. Auch auf pornografische Heftchen und Bilder von nackten Frauen stiess sie. Ausserdem auf ein paar Tafeln dunkle Schokolade und kleine Plastikautos und –fahrräder, wie diejenigen, mit denen kleine Jungen spielen. Dann waren da Bilder von seinem Vater, dessen Gesicht er durch Hinzufügung eines dichten Barts und eines Schnauz’ entstellt hatte. Einige waren zerrissen. Und von all diesen Geheimnissen in seinem Arbeitszimmer hatte sie nie etwas erfahren!? Er hütete sie in den Schubladen, in denen sie niemals stöberte. Von Beginn an wachte er argwöhnisch über sein Arbeitszimmer und seine Sachen. Schon lange bevor sie dort einzog, hatte er in der Wohnung gewohnt, und sie hatte sich daran gewöhnt, den ihr zugedachten Platz einzunehmen: neben ihm im Bett, auf dem Sofa im Wohnzimmer, wenn sie sich zum Lesen hinlegen wollte, und auf dem Stuhl im Esszimmer; ausserdem in der Küche und auf dem Balkon, wo sie in Töpfen Gardenien zog.
Mona nahm einige der privaten und geheimen Dinge ihres toten Lebensgefährten in die Hand und blieb mitten im Zimmer stehen. In diesem Augenblick wurde ihr endgültig klar, dass sie ihn eigentlich gar nicht gekannt hatte, dass sie nie erfahren hatte, was er wirklich mochte und was er verabscheute. Sie hatte nie etwas von den ganz intimen Dingen erfahren, an denen er hing, die er sich eifrig besorgte und sich ansah, von denen er Gebrauch machte oder die er sich auch nur vorstellte. Sie kannte weder das Kind in ihm noch den Teenager. Er hatte nie von seinem Vater erzählt, nie von seiner Beziehung zu ihm. Sie wusste nichts von all dem. Sie schien lange Jahre mit einem Fremden zusammengelebt zu haben. Plötzlich fiel ihr jener Tag wieder ein, an dem sie abgetrieben und sehr viel Blut verloren hatte. Das war zwei Monate, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Sie musste allein ins Krankenhaus der Amerikanischen Universität gehen. Hätte sie doch damals nicht abgetrieben, dachte sie jetzt. Hätte sie doch ihr gemeinsames Kind behalten. Die Krankenschwester wollte unbedingt den Namen des Vaters erfahren. „Aber ich bin gar nicht verheiratet“, erklärte Mona, auf dem Krankenhausbett liegend mit geschlossenen Augen. Sie spürte die Missbilligung der Krankenschwester, als sie ihr eine Spritze in den Handrücken gab, als wolle sie sie bestrafen. Als sie am nächsten Morgen nachhause ging, kämpfte sie gegen den Brechreiz an.
Mona stand noch immer mitten in Thomas’ Arbeitszimmer. Durch das geöffnete Fenster sah sie die Sonne, die sich nach Westen neigte. Auf den nassen Gehwegen draussen spiegelten sich die Lichter der vorbeifahrenden Autos. Das Wasser in den schmutzigen Pfützen funkelte. Es war Spätherbst. Plötzlich spürte sie die Kälte und merkte, dass sie für diese Temperatur zu leicht angezogen war. Sie schloss das Fenster, schaltete das Licht aus und verliess das Arbeitszimmer.
Eines Morgens dann erwachte sie mit einer unbändigen Lust zu pfeifen. Sie zog ihren Regenmantel an und ging hinaus Richtung Meer. Im Café Rauda waren die Angestellten noch damit beschäftigt, mit Wasser und Seife die Spuren der vergangenen Nacht zu beseitigen. Sie schritt über den nassen Boden zur Brüstung. Das Café war menschenleer. Mona setzte sich, bestellte eine Tasse Kaffee und sinnierte.
Sie ist nicht imstande, über die Zeit zu verfügen, aber sie versucht, die Zeit nicht über sie verfügen zu lassen. Das lässt sie den Takt des Lebens erfahren und entdecken, dass sie das, was sie erlebt hat, kein zweites Mal erleben wird. Der Augenblick, einmal gelebt, ist Vergangenheit, doch das Glück, einmal erlebt, ist wie Ebbe und Flut: gehend und kommend, wie die Wogen dieses Meeres vor ihr.
Sie betrachtet das Blau, das sich vor ihr erstreckt, und kehrt unzählige Jahre zurück. „Morgen überleg ich’s mir.“ Das kann sie nicht mehr mit derselben Leichtigkeit sagen, wie Jahre zuvor, sogar noch während des Krieges. Aber heute wird sie es sagen, flüstert sie, während sie den letzten in der Tasse verbliebenen Tropfen Kaffee trinkt. Nochmals schaut sie aufs weite Meer hinaus. Es sei alt geworden, denkt sie, und scheint zu schwach, um die Wogen an die Küste zu tragen. Dann pfeift sie darauf los, laut und kräftig. Doch bald wird die Melodie schwächer, und rasch einmal ist Mona gezwungen, Luft zu holen, um weiter pfeifen zu können. Auch der Ton, der ihr entströmt, muss wohl alt geworden sein.
Über den Übersetzer
Hartmut Fähndrich, geboren 1944 in Tübingen (Deutschland), hat dort und in den USA Nahostwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft studiert. Er lebt seit 1972 in der Schweiz, wo er 1978-2014 als Dozent für Arabisch und Kulturgeschichte der arabischen Welt an der ETH Zürich wirkte und als freier Übersetzer zeitgenössischer arabischer Literatur tätig ist. Von 1983 bis 2010 betreute er für den Lenos Verlag in Basel die Reihe Arabische Literatur. Er ist Mitbegründer der Schweizerischen Gesellschaft Mittlerer Osten und Islamische Kulturen (SGMOIK).