Die Transsibirische Eisenbahn
Es ist Sommer im globalen Norden (und Winter im globalen Süden), und im August bringt Literatur.Review beide zusammen und veröffentlicht bisher unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt.
Stefan Grosser ist Inhaber eines kleinen Familienunternehmens im Interior-Design-Bereich. Er arbeitet seit über 30 Jahren an einem literarischen work in progress, dem mehrtausendseitigen Epos „homo sapiens. Bericht eines Schiffbrüchigen“, das sich aus 9 Einzelbänden aller Textgattungen zusammensetzt und aus dem er immer wieder auf Symposien, Lesungen und literarisch-musikalischen Veranstaltungen vorträgt. Die hier erstmals veröffentlichte Erzählung ist Teil seines Epos.
Bei mir war es eben der Schrankenwärter. Jedes Kind hat doch wohl in einem bestimmten Alter irgendeinen Menschen, der seine Albträume beherrscht, den es für den Teufel oder ganz einfach für seinen Henker hält. Und der Schrankenwärter erfüllte alle Bedingungen: Ich sah ihn immer nur aus einer etwas zwielichtigen Entfernung; er war Herr über riesige Maschinen, die mir unheimlich waren; und er veranstaltete einen Höllenlärm.
Zweimal am Tag mußte ich mit meiner Mutter im Auto die Bahngleise überqueren, morgens auf dem Weg von zu Hause in die Schule und mittags auf dem Weg zurück. Und meistens, eigentlich fast immer, sagt meine Erinnerung, kam genau zu dieser Zeit ein Zug. Unter aufgeregtem Gebimmel schlossen sich, hinter einem rot blinkenden Licht, die Schranken, und ein ums andere Mal floh mein Blick vor dieser unheilvollen Szenerie durchs Seitenfenster hinauf zum oberen Geschoß des Schrankenwärterhäuschens, wo hinter einem großen Fenster ein Mann mit unfaßbarer Geschwindigkeit an einer Kurbel drehte. Man sah den Schrankenwärter nie als Ganzes, was wohl auch zu seiner Bedrohlichkeit beitrug, man sah im Zwielicht hinter dem Fenster immer nur seine breite Büste mit dem mondrunden Kopf und andeutungsweise noch seine Hand, die wie eine Maschine die Kurbel und damit die schwerfälligen Schranken bewegte. Sobald diese geschlossen waren und das Gebimmel aufgehört hatte, verschwand der Schrankenwärter irgendwo in den dämmrigen Tiefen seines Häuschens, und dann verschwand auch ich, denn ich kauerte mich hinter die Rückenlehne des Fahrersitzes und hielt mir mit aller Kraft die Ohren zu, um das kommende Schrecknis unbeschadet zu überstehen: Mit einem ohrenbetäubenden Lärm, der das Auto erbeben ließ, raste, für mich unsichtbar, der Zug an uns vorbei, und obwohl ich hinter dem Fahrersitz recht gut geschützt und vorbereitet war, erschrak ich jedesmal aufs neue so sehr, daß es mir weh tat und ich fast wütend wurde. Doch es war immer unerwartet schnell vorbei, und als dann das Gebimmel wieder losging, das plötzlich gar nicht mehr bedrohlich, sondern eher harmlos oder sogar erlösend klang, kletterte ich zurück auf den Rücksitz, sah, daß die Schranken aufgingen und das rote Blinklicht erlosch, und blickte sofort zum Schrankenwärter hinauf, der, halbiert wie immer, hinter seinem großen Fenster stand, kurbelte und uns den Weg wieder freigab.
Das war jedesmal die schlimmste Stunde des Tages, schlimmer als Sport oder Religion. Und so kam es, daß es mir irgendwann zuviel wurde und ich meiner Mutter jeden Morgen vor der Garage und jeden Mittag vor der Schule eine Szene machte. Ich wollte die Bahngleise nie wieder überqueren, der Lärm eines vorbeirauschenden Zuges schien mir mehr zu sein, als man ertragen konnte, und der Schrankenwärter war an allem schuld, er quälte mich absichtlich und aus Haß. Meine Mutter mußte mich morgens und mittags mit Gewalt in ihr Auto zerren, und wenn am Bahnübergang ein Zug kam, heulte und schrie ich aus vollem Hals, bis die Schranken sich unter dem erlösenden Bimmeln öffneten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie alt ich damals war, und ich weiß auch nicht, inwieweit meine Panik gespielt und inwieweit sie echt war oder ob sie sich vielleicht nur behelfsweise auf den Schrankenwärter und seinen Bahnübergang richtete und in Wahrheit, bewußt oder unbewußt, etwas ganz anderem galt. Wie dem auch sei, es kam soweit, daß ich mich eines Morgens weigerte aufzustehen und mit Armen und Beinen um mich schlug, als meine Mutter mich aus dem Bett holen wollte. Ich glaube, ich träumte damals fast jede Nacht, daß der Schrankenwärter die Schranken schloß, und als sie geschlossen waren, merkte ich, daß unser Auto auf den Gleisen stand und daß der Zug mit seinem schrecklichen Lärm uns überfahren würde. Ich versuchte, aus dem gefangenen Auto herauszukommen, doch – wie hätte es anders sein können – die hinteren Türen waren verschlossen, außerdem befahl mir meine Mutter, mich anzuschnallen, und der Zug kam in seinem rasenden, lärmenden Tempo immer näher. Wie es sich bei solchen Träumen gehört, wachte ich, kurz bevor der Zug unser Auto rammte, auf. Ich rief, starr vor Schrecken, mitten in der Nacht nach meiner Mutter, und wahrscheinlich erzählte ich ihr von dem Traum, und am Morgen strampelte ich in meinem Bett und schrie, der Schrankenwärter wolle uns vom Zug überfahren lassen.
Meine Mutter war eine intelligente Frau, die den Problemen nicht auswich, sondern auf sie zuging, was manchmal zu unkonventionellen Lösungen führte. Sie kam nicht etwa auf die Idee, morgens und mittags einen kleinen Umweg zu fahren, um so dem verhexten Bahnübergang zu entgehen, wobei sie vielleicht fünf Minuten pro Fahrt verloren hätte; nein, sie wußte wohl, daß sie auf diesem Wege nichts gewinnen würde, sie hatte einen viel raffinierteren Einfall: Am Wochenende unternahm sie mit mir einen Spaziergang durch unser Wohnviertel, es war ein schöner Herbsttag mit schwerem Licht und Laubduft, doch wir gingen nicht zu den nahen Grünanlagen an der Würm, wo wir schon oft frische Luft geschnappt hatten, wir gingen in Richtung Bahnübergang – genauer: in Richtung Schrankenwärterhäuschen. Auf den letzten Metern nahm sie mich an die Hand, damit ich ihr nicht davonlaufen konnte, aber sonderbarerweise wollte ich überhaupt nicht davonlaufen, ich hatte keine Angst, es kam mir ganz selbstverständlich vor, daß wir nun zum Schrankenwärterhäuschen gingen. Meine Mutter drückte (wie meine Erinnerung zeigt) auf einen Klingelknopf neben der Tür, es war eine Metalltür mit Milchglasscheibe, und nach einigen Sekunden öffnete tatsächlich der Schrankenwärter. Heute ist das alles kein Geheimnis mehr für mich: Meine Mutter hatte – das hat sie mir viele Jahre später gestanden – an einem der vorangegangenen Tage den Schrankenwärter in seinem Häuschen aufgesucht, ihm ihr Problem geschildert und ihn darum gebeten, meine Albträume zu zerschlagen, indem er nett zu mir wäre und mir seinen Beruf erklärte, mir zeigte, daß ein Schrankenwärter und ein Bahnübergang nichts Monströses seien. Ich kann nicht genau sagen, wie es mir damals vorkam, als ich zwischen dem Schrankenwärter und meiner Mutter eine schmale, steile Treppe hinaufstieg und mich schließlich in jenem Raum über den Gleisen wiederfand, in dem ich vom Auto aus immer den kurbelnden Schrankenwärter beobachtet hatte; die Erinnerung daran ist ein bißchen surreal und wie in Watte gepackt. Ich weiß nur, daß der Raum, der von unten durch das Seitenfenster des Autos immer so zwielichtig und dämmrig gewirkt hatte, sich hier oben nun als sehr hell, geradezu lichtdurchflutet entpuppte, denn die um drei Seiten laufende Fensterfront bot ein Hundertachtziggradpanorama auf die Gleise, die schnurgerade an der Längsseite der Front vorbeiglitten. Vor den Fenstern befand sich auf einer langen, ebenfalls umlaufenden Konsole die Schaltzentrale des Schrankenwärterhäuschens, grüne, gelbe und rote Lämpchen, Telefonhörer, Hebel und Knöpfe, die zu betätigen mir der Schrankenwärter freundlich, aber bestimmt verbot. Irgendwo in dieser Schaltzentrale entdeckte ich natürlich auch die gefürchtete Kurbel, ein schwarzer Arm mit silberner Handhabe, der fast auf der Höhe meiner Nase an der Verkleidung der Konsole befestigt war und den zu betätigen mir der Schrankenwärter ausdrücklich erlaubte, da meine Kräfte, wie ich sofort ausprobierte, nicht hinreichten, ihn auch nur einen einzigen Zentimeter zu bewegen.
Ich kann nur sagen: Der Plan meiner Mutter funktionierte perfekt. Seit diesem wundersamen Besuch waren meine Albträume vom Schrankenwärter und seinem verhexten Bahnübergang verschwunden. Und nicht nur das: Es machte mir nichts mehr aus, wenn unser Auto morgens oder mittags an den bimmelnden Schranken halten mußte, denn der Lärm eines vorbeirauschenden Zuges erschreckte und schmerzte mich nicht mehr, worüber ich mich heute noch wundere. Ich mußte mich nicht mehr hinter der Rückenlehne des Fahrersitzes verkriechen und mir die Ohren zuhalten, ich konnte dem herannahenden Zug ins Auge sehen und sein Tosen fast mit Genuß ertragen. Und wann immer die Schranken sich schlossen oder sich öffneten, blickte ich aus dem Seitenfenster zum Schrankenwärter hinauf und winkte ihm zu, und er winkte, während er kurbelte, mit seiner freien Hand zurück. Denn der Schrankenwärter – das war das folgenreichste Ergebnis der mütterlichen Psychotherapie – war von nun an mein Freund: Lange Zeit besuchte ich ihn, ohne meine Mutter, regelmäßig zwei- oder dreimal in der Woche nach den Hausaufgaben und manchmal auch noch samstags und sonntags in seinem Schrankenwärterhäuschen, und obwohl ich, wenn ich meiner Erinnerung glauben darf, aus eigenem Entschluß wiedergekommen war, er mich also bei meinem ersten, unfreiwilligen Besuch nicht dazu eingeladen hatte, war er jedesmal sehr nett zu mir und erklärte mir Schritt für Schritt die Regeln des Zugverkehrs. Leider kann ich die einzelnen Besuche nicht auseinanderhalten, sie verschwimmen mir vor dem inneren Auge zu einem einzigen, ewig langen Besuch, der fast meine ganze Kindheit vereinnahmt. Ich blieb – so erzählte es meine Mutter noch Jahre danach im Kreis ihrer Freunde – gewöhnlich von den Hausaufgaben bis zur Abendessenszeit und am Wochenende sogar ganze Nachmittage im Schrankenwärterhäuschen, wo der Schrankenwärter, dessen bullige Büste mit dem mondrunden Kopf mir einst in meinen schlimmsten Albträumen erschienen war, mir die Funktion der grünen, der gelben und der roten Lämpchen, der Hebel und der Knöpfe erklärte und mir beizubringen versuchte, an welchen Signalen man erkannte, daß der Zug kam. Früher, als ich den Bahnübergang nur von unten gekannt hatte, war dies der schlimmste Moment gewesen, jetzt, da ich vom oberen Geschoß des Schrankenwärterhäuschens aus einen Panoramablick auf die Gleisanlagen genoß, fieberte ich dem Zug entgegen: Ich stand auf einem Stuhl vor der Längsseite der Fensterfront und blickte über die Schaltzentrale hinweg die zwei Schienenstränge entlang, die unter mir vorbeiliefen und sich – endlos gerade – in beiden Richtungen in einem winzigen, silbern flimmernden Fluchtpunkt verloren. Neben mir hantierte der Schrankenwärter angestrengt an seinen Hebeln und Knöpfen, beobachtete die aufleuchtenden und erlöschenden Lämpchen und reagierte auf klingelnde Telefonhörer und andere akustische Signale. Schließlich stellte er sich vor seine Kurbel, umfaßte mit der rechten Hand den Griff und deutete mit dem linken Zeigefinger in die Richtung, aus der gleich der Zug kommen würde. Zuerst glaubte ich dort nur ein etwas stärkeres Flimmern wahrzunehmen, dann sah ich, daß irgendwo am Bahndamm an einem oder zwei Signalmasten ein Licht wechselte, von gelb auf grün oder von rot auf grün oder von gelb auf rot, und plötzlich tauchte ganz weit hinten, klein wie eine Spielzeuglok, die Schnauze eines Zuges auf. Das war der Moment, in dem der Schrankenwärter zu kurbeln begann, ich hörte, leiser als sonst hinter meinem Seitenfenster, das aufgeregte Gebimmel und sah, daß vor den langsam fallenden Schranken ein oder zwei Autos anhalten mußten. Der Zug wirkte inzwischen schon nicht mehr so harmlos, man erkannte die ganze Lokomotive und dahinter die lange Folge der Waggons, er schien immer schneller und größer zu werden, und von den Schienen oder von den Hochspannungsleitungen ging ein sehr hoher Ton aus, ein Sirren wie von einem elektrischen Fluß. Dann ging alles fürchterlich schnell: Ich sah die riesige Lokomotive, ein wütendes Ungetüm, direkt auf mich zuschießen, sie schien sich einen kurzen Augenblick lang unter ihrer Geschwindigkeit zu verformen, und mit einem Getöse, das mir viel lauter vorkam als früher der schreckliche Lärm hinter dem Fahrersitz, raste der Zug an meiner Nase vorbei. Zwischen meinem Gesicht und den schattenhaften Köpfen der Fahrgäste in den Waggons stob explosionsartig eine bunte Wolke Herbstlaub auf und wirbelte von außen gegen die Glasscheibe der Fensterfront, die unter dem Ansturm bedrohlich klirrte. Der Zug war vorüber, und während der Schrankenwärter neben mir wieder wie panisch an seiner Kurbel drehte und am Bahnübergang sich die Schranken hoben, blickte ich dem letzten Waggon hinterher, der in einem dichten Blätterwirbel auf den zusammenfließenden Gleisen davonglitt und sich schließlich ganz weit hinten in dem silbern flimmernden Fluchtpunkt aufzulösen schien.
Diese Minuten, in denen ich auf dem Stuhl stehend den Zug erwartete, ihn herankommen, vorbeischnellen und davongleiten sah, waren für mich von größter Wichtigkeit. Jedesmal, wenn ich von meinem Stuhl herabstieg, fühlte ich mich, als hätte ich zum allerersten Mal etwas erlebt. Mein Weg von zu Hau-se zum Bahnübergang durch die Straßen unseres Viertels, an den Zäunen, den Thujenhecken und den Garagentoren der Einfamilienhäuser vorbei, war erfüllt von Erwartung und Vorfreude, der Rückweg später von Nachdenklichkeit und großer Ruhe.
Ich habe es schon erzählt: Es war Herbst, als meine Mutter mich damals mit dem wirklichen, dem ganzen Schrankenwärter konfrontierte. Und die einzigen beiden Besuche bei ihm, die ich, neben dem allerersten, aus meinem Gedächtnis isolieren kann, stammen vom Ende dieses Herbstes, nachdem recht spät der erste Schnee gefallen war. Es muß eigentlich schon im Dezember gewesen sein, wenige Wochen oder gar nur wenige Tage vor Weihnachten, in einer Zeit, in der Kinder ohnehin zur Hysterie neigen. Es kann sein, daß ich den Schrankenwärter mit Schneebällen beworfen hatte, als er unten an der Türe erschienen war, was ihm aber – wenn es tatsächlich so gewesen sein sollte – nichts ausgemacht hatte, er war nämlich gutmütig wie ein Bär. Jedenfalls erinnere ich mich, daß ich an diesem Tag auf meinem Stuhl vor der Fensterfront stand und den aus der Ferne nahenden Zug kaum erkannte, da er in eine Wolke aus Schnee gehüllt war. Von weitem sah es so aus, als käme ein rauchender Schein-werfer auf uns zu. Erst als der Zug schon recht nahe war, konnte man die Lok unterscheiden, die Waggons blieben völlig verschleiert, und als der Zug an der Scheibe vorbeidonnerte, war unsere Schaltzentrale für Sekunden in einen dicken weißen Nebel getaucht, man kam sich vor wie in einem Flugzeug, das die Wolkendecke durchstößt, oder wie von einer Lawine verschüttet. Als wir wieder auftauchten, sah ich den Zug auf den weißen Gleisen davonstieben, allerdings sah ich nur zwei immer undeutlicher werdende rote Lichter inmitten des aufgewirbelten Schnees, den der letzte Waggon wie einen Schleier hinter sich herzog. Als der Schrankenwärter mit seinem Gekurbel fertig war und mein vor Aufregung erhitztes Gesicht sah, sagte er: »Das war die Transsibirische Eisenbahn!«, und da ich wohl recht verständnislos guckte oder ihn fragte, was das sei, erklärte er mir, die Transsibirische Eisenbahn sei die längste Eisenbahnlinie der Welt, sie durchquere den ganzen Kontinent und verbinde direkt den einen Ozean mit dem anderen, und da sie durch den Norden des Kontinents verlaufe, durch Sibirien, heiße sie eben Transsibirische Eisenbahn und müsse immer durch tiefen Schnee fahren. Und bei meinem nächsten Besuch, ich glaube, es war schon am darauffolgenden Tag, hatte der Schrankenwärter eine große Weltkarte dabei, die er auf einem Holztisch neben dem Treppenabgang ausbreitete.
»Von hier bis hier«, behauptete er, »fährt die Transsibirische Eisenbahn«, und mit dem linken Zeigefinger deutete er auf Brest, eine bretonische Küstenstadt auf einer weit in den Atlantik hineinragenden Halbinsel, und mit dem rechten Zeigefinger auf Wladiwostok.
»Und hier sind wir«, sagte er dann und deutete auf einen Punkt recht nahe bei Brest. Man könne in Menzing (das war unser Stadtviertel) in einen Zug steigen und komme viel später in Wladiwostok wieder heraus.
»Ist das weit?« fragte ich ihn.
»Oje, oje, das ist sehr weit, das ist fürchterlich weit!« sagte er und holte aus einer Schublade unter der Tischplatte ein Lineal hervor. Mit Hilfe der Kilometerprojektion auf der Karte überschlug er die Entfernung zwischen Menzing und Wladiwostok.
»Hier ist Menzing«, sagte er dann, (ich sehe die Weltkarte mit den dicken Zeigefingern des Schrankenwärters vor mir, als wäre das erst ein paar Tage her), »und hier ist Wladiwostok: Elftausendfünfhundert Kilometer östlich von Menzing.«
Kinder sind brutal, sie haben keine Vorstellung von den Gefühlen anderer. Noch im selben Winter, womöglich nur wenige Wochen nach der Entdeckung der Transsibirischen Eisenbahn, verlor ich das Interesse am Schrankenwärter und seinem Bahnübergang. Als wäre es abgemacht und überhaupt völlig selbstverständlich, ging ich einfach nicht mehr hin, und wenn ich mit meiner Mutter im Auto am Bahnübergang anhalten mußte, blickte ich nicht einmal mehr zum Schrankenwärter hinauf – es war mir, als hätte ich ihn niemals gekannt. Der Bahnübergang, die Schranken und der Zug hatten keine Bedeutung mehr für mich, sie ängstigten mich weder, noch faszinierten sie mich, sie waren für mich nun einfach das, was sie für meine Mutter immer gewesen waren: ein Hindernis auf dem Weg zur Schule und zurück.
Manchmal, wenn mir zufällig das obere Geschoß des Schrankenwärterhäuschens ins Blickfeld geriet, sah ich dort oben hinter der Fensterfront den halbierten Schrankenwärter mir kurbelnd zuwinken, er wirkte beinahe panisch, er winkte mir zu und winkte mich zu sich, machte mir Zeichen, die wohl bedeuteten, ich solle mal wieder zu ihm hinaufkommen. Ich war dann jedesmal unangenehm berührt und sah schnell woandershin. Ich verstand auch nicht so recht, was er eigentlich wollte, das ganze Gewinke war mir rätselhaft und zuwider. Der Schrankenwärter gehörte für mich, nur wenige Tage, nachdem ich ihn wie von einer unbeeinflußbaren Kraft gelenkt aus meinem Leben entfernt hatte, zu einer versunkenen Epoche, er war ferne Vergangenheit, und ich konnte mich an das, was mich einst mit ihm verbunden hatte, kaum mehr erinnern. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert danach, ist mir der Schrankenwärter völlig gegenwärtig, und es kommt mir vor, als könnte ich ihn an jedem Bahnübergang, den ich passiere, in seinem Häuschen stehen sehen, halbiert mit breiter Büste und mondrundem Kopf, kurbelnd und mir verzweifelt und sehnsüchtig zuwinkend.
Ich besuchte den Schrankenwärter nie mehr wieder. Keine Ahnung, ob er irgendwann zu winken aufhört hat, ich nehme es eigentlich fast an, sicher allerdings bin ich mir nicht, da ich ihn eines Tages endgültig vergaß. Ich war mir seiner Existenz nicht mehr bewußt, ich realisierte nicht mehr, daß hinter und über den scheinbar automatisch funktionierenden Schranken ein kurbelnder Wärter stand. Erst Jahre später, als ich mich morgens und mittags schon längst nicht mehr von meiner Mutter im Auto mitnehmen ließ, sondern alleine mit dem Fahrrad zur Schule und zurück fuhr, wurde ich auf unglückliche Weise noch einmal von fern an den Schrankenwärter erinnert: Ich saß eines Nachmittags in meinem Zimmer an den Hausaufgaben und hörte plötzlich einen fürchterlichen Krach, einen Knall wie von einer Explosion und ein entsetzliches Kreischen und kurz darauf Sirenen von Polizei, Rettungswagen oder Feuerwehr. Abends, nach der Arbeit, erzählten mir meine Eltern, was passiert war: Am Bahnübergang hatten sich die Schranken nicht geschlossen, und ein Auto, in dem eine Mutter und ihre beiden Kinder saßen, war von der Lokomotive erfaßt und mehrere hundert Meter weit mitgeschleift worden. Der Zug war nicht entgleist, aber die Mutter und die Kinder waren tot. Am nächsten Morgen, als ich auf meinem Fahrrad die Gleise überquerte, hielt ich nach Spuren des Unglücks Ausschau, konnte in der Eile aber nichts entdecken. Im Laufe der folgenden Tage erfuhr ich, daß man den Schrankenwärter für das Unglück verantwortlich machte, er hatte Signale mißachtet und auf den herannahenden Zug nicht reagiert. Der Schrankenwärter wurde von seinem Posten entfernt und ein anderer an seine Kurbel gestellt, aber es formierte sich plötzlich eine Menzinger Bürgerinitiative, die wütend gegen die Untätigkeit der Bundesbahn protestierte und forderte, es müsse, wie an anderen Bahnübergängen auch, endlich eine automatische Schranke installiert werden. Die Bahn gab nach, und einige Monate später funktionierten die Schranken unseres Übergangs, bislang kurbelgesteuert, tatsächlich automatisch.
Mein ehemaliger Schrankenwärter, soviel weiß ich noch, wurde unter dem Druck der Bürgerinitiative wegen fahrlässiger Tötung angeklagt; wie das Verfahren ausging und was mit dem alten Mann geschah, habe ich nicht mehr mitbekommen. Wiederum einige Jahre später wurde eine vielbefahrene Menzinger Straße zu einer mehrspurigen Ausfalltrasse ausgebaut, die seither den ganzen Verkehr – nur wenige hundert Meter vom alten Bahnübergang entfernt – unter den Gleisen hindurchführt. Der Bahnübergang wurde geschlossen, die Straße, die über die Gleise führte, beidseitig in eine Sackgasse verwandelt, das au-tomatisierte Schrankenwärterhäuschen abgerissen, und am Bahndamm, wo sonst immer die Schranken den Weg versperrt und freigegeben hatten, pflanzte man Bäume und Sträucher an. Meine Fahrten zur Schule und zurück dauerten fortan etwas länger, ich mußte auf einem Radweg durch die neue Unterführung strampeln, und als ich zu meinem achtzehnten Geburtstag endlich die Führerscheinprüfung bestanden hatte und von meinen Eltern ein erstes eigenes Auto geschenkt bekam, war von dem Bahnübergang, der mir früher in meinen schlimmsten Albträumen erschienen war, nicht die kleinste Spur geblieben.
Die Fortsetzung dieser Erzählung, Teil von Grossers work in progess homo sapiens. Bericht eines Schiffbrüchigen, ist auf Grossers Projekt-Site abrufbar.