Das Wiedersehen
Es ist Sommer im globalen Norden (und Winter im globalen Süden), und im August bringt Literatur.Review beide zusammen und veröffentlicht bisher unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt.
Der 1976 geborene Stanley Onjezani Kenani ist ein malawischer Schriftsteller, der derzeit in Frankreich lebt. Er stand 2008 und 2012 auf der Shortlist für den Caine Prize for African Writing. Im Jahr 2014 wurde er zu den 39 vielversprechendsten afrikanischen Schriftstellern unter 40 Jahren gezählt. Derzeit arbeitet er an seinem ersten Roman.
Das zahlreiche Publikum übertraf ihre Erwartungen. Als sie die Einladung zu einer Lesung hierher erhielt, dachte sie: "Die Schweiz? Wird dort Englisch gesprochen?" Sie recherchierte im Internet und fand heraus, dass die Schweizer Bevölkerung vor allem Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch spricht, aber sicher nicht Englisch. Sie versicherte sich sogar bei ihrem Agenten, der ihr bestätigte, dass die Lesung tatsächlich auf Englisch stattfinden würde, gefolgt von einem Gespräch mit der geschätzten Schweizer Feministin Chantal Seydoux. Sie recherchierte den Namen Chantal Seydoux und war beeindruckt, als sie in angesehenen Zeitschriften nicht wenige Artikel von ihr fand. Als der Tag der Veranstaltung näher rückte, durchstöberte sie einige dieser Artikel, um bei Gelegenheit ein Zitat daraus einzubauen. Nun stand sie hier vor all diesen bewundernden und bewundernswerten Menschen.
Anhand der Uhrzeit auf ihrem Handy stellte sie fest, dass es noch etwa zwölf Minuten bis Programmbeginn waren, obwohl sie und Chantal bereits saßen, sich dem Publikum zuwandten und herzliche Grüße austauschten. "Ich hoffe, Ihnen gefällt unsere Stadt", bemerkte Chantal. Chantal wirkte etwas schüchtern und vermied den direkten Blickkontakt, aber ihr Englisch war tadellos, wenn auch mit deutlich französischem Akzent. Einige aus dem Publikum traten an sie heran und baten sie um ein Autogramm für ihr Romanexemplar, doch Chantal musste sie um Geduld bitten. "Es ist vorgesehen, dass Madalo am Ende des Programms Bücher signiert", erklärte sie.
Das Telefon gab einen Piepton von sich, gefolgt von einer sanften Vibration. Madalos Aufmerksamkeit wurde auf den Bildschirm gelenkt, auf eine Nachricht im Facebook Messenger. Es handelte sich um eine Nachrichtenanfrage, das heißt, sie kam von jemandem, der nicht in ihrer Facebook-Freundesliste stand. Tatsächlich, sie war ausgerechnet von Kaiko. "Schön, dich zu sehen!", schrieb er. "Ich sitze im Publikum ganz hinten." Sie blickte auf, und da war er, winkte und lächelte freundlich. Sie verzichtete jedoch darauf, die Geste zu erwidern.
"Können wir nach der Lesung zusammen zu Abend essen?", hieß es weiter. "Bitte. Ich hoffe, du hast noch nichts vor. Ich bin den ganzen Weg von Stuttgart gekommen, um dich zu sehen."
Ihr Herz begann zu rasen, und ein innerer Kampf entbrannte. "Nein, nicht schon wieder dieser Mann", murmelte sie vor sich hin. "Nein, nein, nein." Schnell steckte sie ihr Telefon in die Handtasche, packte sie und ging zum Waschraum. Als sie in einer Toilettenkabine allein war, wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt, und die Tränen begannen zu fließen.
Kaiko! Alles kam zurück, als ob die Vergangenheit erst gestern gewesen wäre und sie erneut verfolgte.
Sie hatten vor zu heiraten, sobald er das College abgeschlossen hatte. Er studierte Elektrotechnik an der Fachhochschule und hatte noch ein Jahr bis zum Abschluss vor sich. Sie hingegen hatte ein Jahr vor Kaiko ihren Bachelor of Arts gemacht und prompt eine Stelle als Journalistin bei The Times bekommen. Da sie in Blantyre keine Verwandten hatte, bei denen sie wohnen konnte, mietete sie eine Dienstbotenwohnung in Chichiri, die sowohl von ihrer Alma Mater, an der Kaiko noch studierte, als auch von ihrem Arbeitsplatz aus bequem zu Fuß zu erreichen war. Gelegentlich übernachtete Kaiko bei ihr.
Dann wurde sie unerwartet schwanger. Doch anstatt sich auf die Schwangerschaft einzulassen, bestand Kaiko auf einer Abtreibung. Sie aber weigerte sich strikt. Nach nächtelangen Auseinandersetzungen kam er nicht mehr zu ihr und ging ihr schließlich ganz aus dem Weg. Er war nicht zu erreichen, selbst wenn sie ihn in seinem Wohnheimzimmer auf dem Campus aufsuchte oder versuchte, ihn auf dem von ihrem eigenen Geld gekauften Handy anzurufen.
Eines Abends ging sie direkt von der Arbeit zum Campus, aber Kaiko war in seinem Wohnheimzimmer nicht anzutreffen. Auch in der Cafeteria, im Gemeinschaftsraum der Studenten, im Kiosk und in der Bibliothek war er nicht zu finden. Manchmal lernte er im Butterfly Wing, einem Gebäude, das so hieß, weil es wie Schmetterlingsflügel gestaltet war. Doch dort war nur eine Gruppe von Studenten, die laut in fremden Zungen beteten.
Als sie den Campus verlassen wollte, entdeckte sie ihn, kaum sichtbar im Halbdunkel. Er stand an der Steinmauer, seinen Arm um die Taille eines Mädchens gelegt. Madalo wurde flau ums Herz, und sie ging hinüber, um ihn zur Rede zu stellen.
"Was machst du hier?", fragte er, leicht alarmiert.
"Kaiko, was tust du mir an?" Fast versagte ihr die Stimme.
Er blieb stumm. Das Mädchen war am Weggehen, aber er rief: "Tiya, warte! Das ist die Madalo, von der ich erzählt habe." Er wandte sich an Madalo und sagte: "Ich muss zu Tiya. Ich melde mich per SMS."
Und schon waren sie weg, ließen sie stehen. Sie fühlte eine gespenstische Leere. Noch am selben Abend schrieb er ihr eine SMS. Ich habe lange und intensiv nachgedacht, schrieb er. Du bist ein wunderschönes Mädchen, Madalo. Ein wirklich schönes Mädchen, aber ich mache mir Sorgen um die Kinder, die wir haben könnten. Sie würden womöglich nicht sehr intelligent sein. Weißt du, du hast einen geisteswissenschaftlichen Bachelor-Abschluss. Ich will nicht beleidigend klingen, aber ich möchte, dass mein Kind eine naturwissenschaftliche Intelligenz besitzt. Ich interessiere mich jetzt für jemand anderen. Ich wünsche dir alles Gute im Leben. Ich lasse das Telefon, das du mir gegeben hast, in deinem Büro am Empfang. Tschüss.
Sie konnte nicht glauben, dass ihr das passierte. Es war unfassbar, dass sie bis jetzt jedes Wort dieses jungen Mannes geglaubt hatte. "Du bist der tollste Mensch, den ich kenne"; "Mein Traum ist es, mit dir an meiner Seite hundert Jahre alt zu werden"; "Ohne dich ist mein Leben sinnlos" – nur Worte? Waren die ganzen zwei Jahre zusammen nur Zeitverschwendung?
Sie, die nur einmal an Alkohol genippt hatte und ihn nicht mochte, stolperte nun in die erstbeste Bar und trank sich in einen Vollrausch. Als sie am nächsten Morgen um 10 Uhr aufwachte, wusste nicht mehr, wie sie es nach Hause geschafft hatte. Sie rief in der Arbeit an und log, sie sei krank, obwohl das angesichts der heftigen Kopfschmerzen, die sie hatte, nicht gänzlich erfunden war. Tage vergingen, ohne dass sie etwas Richtiges zu sich nahm, Nächte ohne Schlaf, dafür mit mehr Alkohol, und bisweilen wachte sie neben fremden Männern auf, nachdem sie sturzbetrunken zu Bett gegangen war.
Eines Nachmittags ging sie in eine Klinik für Familienplanung und ließ ihre Schwangerschaft abbrechen. Sie machte sich nicht die Mühe, Kaiko zu informieren. Er existierte für sie nicht mehr. Sie glaubte nicht mehr, dass sie je wieder einem Mann trauen könnte, egal wie nett seine Worte waren. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie Kaiko geglaubt hatte, als er sagte, dass er sie liebte.
Mit der Zeit beruhigte sie sich jedoch und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie hörte auf zu trinken und war entschlossen, sich ihr Leben nicht von einem Mann ruinieren zu lassen. Vielmehr suchte sie Trost im Schreiben. Sie begann, Kurzgeschichten zu verfassen, die The Times in ihrem Feuilleton veröffentlichte. Mit jeder veröffentlichten Geschichte wuchs ihr Selbstvertrauen, und ihre Leserschaft wurde langsam größer. Unter ihren Lesern war auch Professor Lupanga, der kreatives Schreiben am Chancellor College lehrte und sich an sie wandte.
Der Professor wies sie freundlich auf Fehler in einigen ihrer Geschichten hin und bot ihr eine Überarbeitung an. "Erwecken Sie Ihre Figuren zum Leben", sagte er. "Bringen Sie ihre Gefühle zum Ausdruck. Gestalten Sie sie facettenreich." Er ermutigte sie auch, ihre Geschichten bei renommierten internationalen Literaturzeitschriften einzureichen.
Sie schickte ihre Texte an neun Literaturzeitschriften. Alle lehnten sie ab. Sie konnte die Ablehnung nur schwer ertragen und zweifelte allmählich an sich.
"Vielleicht verlange ich zu viel, Professor", meinte sie am Telefon.
"Nein, nein, nein, Madalo, du bist sehr talentiert!", erwiderte er. "Versuch's einfach weiter. Ich habe von einer Malawierin schon lange nicht mehr so gute Texte gelesen."
Doch je mehr sie sich bemühte, desto häufiger erhielt sie Absagen. Nur die Times schien bereit zu sein, alles, was sie schrieb, bereitwillig zu übernehmen, obwohl sie selbst keine hohe Meinung von ihrer Arbeit hatte. Manchmal dachte sie, dass die Times ihre Geschichten nur veröffentlichte, um ihr einen Gefallen zu tun, vielleicht weil sie einmal dort gearbeitet hatte.
Schließlich akzeptierte eine südafrikanische Zeitschrift eine ihrer Geschichten. Es war bemerkenswert, wie diese eine Annahme Türen öffnete. Ein Jahr später kam dieselbe Geschichte in die engere Wahl für den Caine Prize. Sie nahm ihren ersten Flug aus Afrika hinaus, um an der Preisverleihung in London teilzunehmen. Es wurde eine turbulente Woche mit Interviews bei der BBC und mit verschiedenen anderen Medienkanälen, Mittagessen mit Literaturagenten und Verlegern und sogar einem Mittagessen in der Cafeteria des Unterhauses. Obwohl sie den Preis nicht gewann, wurde eine Agentur auf ihre Arbeit aufmerksam und nahm sie unter Vertrag.
Zwei Jahre danach erschien ihr Debütroman, zunächst im Vereinigten Königreich, dann in den Vereinigten Staaten. Er wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Deutsch, Hindi, Russisch, Chinesisch, Japanisch und Niederländisch. Das Buch wurde weltweit von Kritikern renommierter Zeitungen gelobt. Dies war der Startschuss für ihre Lesereisen durch die ganze Welt. Ihr Bekanntheitsgrad nahm rasant zu, und für ihren zweiten Roman erhielt sie einen enormen Vorschuss. So konnte sie ihren Beruf ganz aufzugeben und sich ganz der Schriftstellerei widmen. Für reich hielt sie sich nicht, aber sie hatte genug Geld für ein Haus und ein nagelneues Auto. Sie musste sich keine finanzielle Sorgen mehr machen, konnte sich leisten, was sie wollte, und ihren Vater bei Arztrechnungen unterstützen. Sie hatte zwar immer noch keine feste Beziehung, aber das störte sie nicht mehr. Sie war eisern davon überzeugt, dass es besser sei, überhaupt nicht zu heiraten, als jemanden zu heiraten, dem sie nicht traute. Ihre Mutter und ihre Tanten ließen nicht locker, sie davon zu überzeugen, die Ehe an erste Stelle zu setzen, weil sie glaubten, dass dies das Beste für eine Frau sei. Doch sie blieb standhaft und weigerte sich, klein bei zu geben. Nicht, dass die Männer nicht an ihre Tür geklopft hätten. Aber sie war geistesgegenwärtig genug, eine Beziehung bei den ersten Anzeichen zu beenden, die darauf hindeuteten. Da war George, oder "Houdini", wie sie ihn wegen seines Verhaltens nannte. Plötzlich verschwand er tagelang, ohne anzurufen oder sich zu melden, nur um dann mit einer sorgfältig ausgearbeiteten und leicht nachvollziehbaren Entschuldigung wieder aufzutauchen, bis sie zu dem Schluss kam, dass dieses Verhaltensmuster des Verschwindens auf lange Sicht etwas war, worüber man sich Sorgen machen musste, und dass die Begründungen womöglich die eines notorischen Lügners waren. Dann kam Albert "Flowers", der plötzlich jähzornig wurde, sich aber am nächsten Morgen mit einem Blumenstrauß entschuldigte – der einzige Mann, der ihr je Blumen geschenkt hatte –, bis sie zu dem Schluss kam, dass sie lieber ein ruhigeres Gemüt hätte als seine Blumen. Sintekeseka wiederum flehte sie an, ein Kind mit ihm zu bekommen: "Ein Kind mit dir wäre wirklich intelligent", aber das war, als ihr Profil international bereits immer bekannter wurde und jedes öffentlich geäußerte Wort, egal ob Tweet, Facebook-Post oder eine Rede für Schlagzeilen im In- und Ausland sorgten. Außerdem schien er mehr von der Idee eines Kindes besessen zu sein als von wahrer Liebe zu ihr. So vergingen die Jahre, ohne dass sie jemanden fand, mit dem sie sich tief genug verbunden gefühlt hätte, eine Ehe in Erwägung zu ziehen.
Und jetzt, da sie ihren dritten Roman, Chaos, vorstellte, war die letzte Person, mit der sie gerechnet hatte, im Saal. Noch einmal las sie seine Nachricht, schrieb, löschte, schrieb noch einmal und löschte abermals. Ihr erster Gedanke war: "Weiche von mir, Satan!" Dann überlegte sie, wie sie ihn höflich abweisen konnte. Etwas in ihr war jedoch neugierig auf diesen Mann. In all den Jahren hatte sie ihn nie von Angesicht zu Angesicht gesehen, nur flüchtig einmal in einem Einkaufszentren in Begleitung eines großen, schlanken Mädchens. Ein andermal saß er allein in einem Konzert. Zuletzt sah sie ihn am internationalen Flughafen von Lilongwe mit einer pummeligen, mittelgroßen Blondine. Bei keiner dieser Gelegenheiten tauschten sie Grüße aus oder quittierten die Anwesenheit des anderen mit einem Lächeln oder Kopfnicken. Was konnte er schon sagen wollen?
"In Ordnung, wir sehen uns nach dem Signieren der Bücher", antwortete sie schließlich.
"Stimmt etwas nicht, Madalo?" Chantals Stimme ließ sie aufschrecken.
"Alles in Ordnung", sagte sie, als sie aus der Kabine kam, um sich im Spiegel zu betrachten.
"Wir fangen gleich an", sagte Chantal.
Als Madalo zu ihrem Platz zurückkehrte, wurde laut applaudiert. Während ihrer kurzen Abwesenheit hatte sich die Beleuchtung verändert. Sie und Chantal, die sich fast gegenüberstanden, aber auch zum Publikum gewandt, wurden heller angestrahlt. Der übrige Raum war in sanftes, gedämpftes Licht getaucht. Die Moderatorin gab eine überschwängliche Einführung. Sie zählte die zahlreichen Auszeichnungen auf, die Madalo erhalten hatte, und zitierte Lob, das ihr von den Großen der Literatur aus aller Welt zuteil geworden war. Das Publikum applaudierte erneut.
An dieser Stelle übergab die Moderatorin das Wort an Chantal, die Madalo aufforderte, aus ihrem Werk zu lesen. Madalo las mit einer emotionaler Intensität, die das gebannte Publikum immer wieder innehalten ließ. Als sie schloss, herrschte kurz Stille. Dann tosender Applaus.
"Es war atemberaubend", bemerkte Chantal.
"Danke", antwortete Madalo.
Chantal fuhr fort: "Was hat Sie dazu bewogen, in Chaos das heikle Thema der Vergewaltigung in der Ehe anzusprechen?"
"Ich habe dieses Thema gewählt, weil selbst im neuen Jahrtausend, auch nach mehr als zwei Jahrzehnten, das Thema Vergewaltigung in der Ehe in meinem Land immer noch ein Tabu ist. Nur wenige Frauen sind bereit, das Thema offen anzusprechen. Ich wollte, dass die Protagonistin Memory diese Frauen dazu inspiriert, ihre eigene Stimme zu finden."
"Ziemlich beeindruckend", sagte Chantal nachdenklich. "Aber wenn man bedenkt, welch massiven Rückschlägen und welchem Spott Memory ausgesetzt ist, als sie die Taten ihres Mannes mutig auf ihrem Facebook-Account offenlegt, befürchten Sie da nicht, dass Frauen in Malawi, ja auf der ganzen Welt, von der Aussicht, eine solche Schande zu ertragen, abgeschreckt werden könnten?"
"Nicht unbedingt", antwortete Madalo überzeugt. "Schauen wir, was passiert, nachdem sie ihre Meinung gesagt hat. Freilich, sie schämt sich, und einige ihrer engsten Familienmitglieder glauben ihr nicht. Dennoch melden sich einige Frauen und berichten, inspiriert von Memorys Mut, von ihren eigenen Erfahrungen mit Vergewaltigung in der Ehe. Eine ihr unbekannte Nichtregierungsorganisation unterstützt sie und hilft ihr bei den Anwaltskosten, als sie ihren Mann vor Gericht bringt. Am Ende, nach all den Turbulenzen, erleben wir, wie Memory inneren Frieden findet, den sie nie für möglich gehalten hätte. Ich glaube, dass all diese Erfahrungen Frauen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, ermutigen, sich gegen jede Form von Missbrauch zu wehren."
Applaus erfüllte abermals den Raum.
"Ich war fasziniert von der Wendung, die die Geschichte nahm", fuhr Chantal fort. "Ich habe ihr die Daumen gedrückt und gehofft, sie würde gewinnen. Aber sie verliert den Fall. Warum haben Sie sie verlieren lassen?"
"Ich wollte zeigen, dass das Patriarchat alle Ebenen durchdringt, sogar das Rechtssystem", erklärte Madalo. "Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass auch der Ehemann nicht unbedingt als Sieger hervorgeht. Aufgrund der negativen Publicity, die der Fall erzeugt, wird er von seinem Arbeitgeber entlassen. Um die steigenden Anwaltskosten begleichen zu können, verkauft er fast alles, was er besitzt. Sein Triumph ist in jeder Hinsicht ein Pyrrhussieg. Doch allein die Tatsache, dass er zum ersten Mal erkennt, dass es sich lohnt, eine Beratung in Anspruch zu nehmen, bedeutet, dass die Erinnerung letztlich triumphiert hat."
"Wie wurde der Roman in Malawi aufgenommen?" erkundigte sich Chantal.
"Ich muss gestehen, dass er nicht viel bewirkt hat", gab Madalo zu. "Erstens, weil die Lesekultur im Niedergang begriffen ist. Zweitens sind meine Bücher, da sie im Ausland veröffentlicht werden, zu teuer für die wenigen Leser, die sie zu Hause lesen wollen. Dennoch haben große malawische Zeitungen das Buch besprochen, wenn auch nur oberflächlich. In den sozialen Medien haben mir aber einige malawische Kommentatoren vorgeworfen, meine künstlerische Integrität dem Feminismus zu opfern."
Das Gespräch dauerte fünfundvierzig Minuten. Danach konnte das Publikum Fragen stellen.
"Entschuldigen Sie die Frage, aber sind einige der Erlebnisse in dem Roman ihre persönlichen?", fragte eine Dame mit weißen Haaren.
Madalo antwortete: "Ich war nie verheiratet, aber ja, in all meinen Texten gibt es immer etwas Persönliches. Ich weiß, was es bedeutet, tief verletzt zu sein. Jemand, den ich sehr geliebt habe, hat mich einmal verletzt, in diesem Fall nicht körperlich, aber emotional. Wenn ich also über eine Frau wie Memory schreibe, die sowohl körperlich als auch seelisch verletzt ist, schöpfe ich auf die eine oder andere Weise aus meinen eigenen Erfahrungen."
Chantal beendete die Veranstaltung nach genau einer Stunde, woraufhin sich eine Schlange zum Signieren der Bücher bildete. Viele wollten Selfies mit Madalo, und die Schlange wurde so lang, dass es eine weitere Stunde dauerte, bis alle Zuhörer ihre Bücher signiert hatten.
Erst dann konnte sie gehen.
Sein Haar waren schnell grau geworden, obwohl er noch keine fünfzig war. Sein Bauch war etwas gewölbt, vielleicht von Bier. Er trug eine schlecht sitzende Jeans und eine Brille, die er früher nicht getragen hatte.
"Es war ein langer Tag für mich", sagte er, als sie den Saal verließen.
"Tatsächlich?" Madalo antwortete. "Entschuldige meine mangelnden Geografiekenntnisse, aber wie weit ist Stuttgart von hier?"
"Sieben Stunden mit dem Zug", sagte er. "Acht, um genau zu sein, denn ich wohne nicht in Stuttgart direkt, sondern in Geislingen, etwa vierzig Minuten außerhalb von Stuttgart."
"Das war eine Odyssee", bemerkte sie. "Nur um mich zu sehen?"
"Ja, nur um dich zu sehen. Selbst wenn ich vierundzwanzig Stunden mit dem Zug gebraucht hätte, wäre ich gekommen."
Sie entdeckten ein gut besuchtes italienisches Restaurant gleich neben dem Saal, in dem die Lesung stattgefunden hatte.
"Magst du italienisches Essen?", fragte er.
"Warum nicht?"
Es war ein großes, zweistöckiges Restaurant. "Oben?", schlug er vor.
Das Schöne an europäischen Sommern, fand Madalo, war, dass um 20 Uhr noch die Sonne schien und sie einen herrlichen Blick auf den See genießen konnten. Er bestellte sich sofort ein Glas Wein, während Madalo sich mit Leitungswasser begnügte.
"Und wie geht es Tiya?", erkundigte sie sich.
"Es tut mir sehr leid, Madalo", sagte er und sah sichtlich verunsichert aus. "Ich habe dir wehgetan. Es gibt nichts, was ich sagen kann, was die Wunde heilen würde, die ich dir zugefügt habe, aber es tut mir leid."
Sie sagte kein Wort.
"Tiya und ich haben uns kurz nach dem College getrennt", fuhr er fort. "Lange Geschichte. Ich lernte eine andere kennen, Rebecca. Wir haben geheiratet und zwei Kinder bekommen. Aber irgendwann hat es wieder nicht geklappt. Dann lernte ich Claudia aus Deutschland kennen. Deshalb bin ich vor fünf Jahren hierher gezogen. Zwei Jahre nach unserer Hochzeit ging alles schief, und jetzt bin ich wieder allein."
Er zitterte ein wenig, als er das Glas Wein an seine Lippen führte. Er bestellte Ravioli, sie Risotto.
"Was machst du in Deutschland?", fragte sie.
"Ich habe bis jetzt noch keine richtige Arbeit gefunden", sagte er, "aber ich kann mich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Es hilft, wenn man etwas kann. Ich arbeite als Handwerker. Aber sobald meine Papiere fertig sind, sollte ich in der Lage sein, einen richtigen Job zu finden."
"Gut zu hören", sagte Madalo.
"Auch die Sprache war in den ersten Jahren ein großes Problem, aber ich habe hart daran gearbeitet. Jetzt fühle ich mich wohl genug, um mich im Arbeitsumfeld zurechtzufinden."
"Verstehe."
Er leerte sein Glas ziemlich schnell und bestellte dann noch eins.
"Das hast es ziemlich weit gebracht, Madalo", sagte er. "Insgeheim bin ich ein großer Fan von dir. Ich habe alle drei Bücher und viele deiner Kurzgeschichten gelesen."
"Danke."
Das Restaurant war voller Gäste. Einige saßen auf dem Balkon, rauchten, tranken, redeten und lachten. Sie kannte die Musik nicht, die aus den Deckenlautsprechern ertönte, aber sie klang gut und hatte die richtige Lautstärke, dazu einen Gitarrenriff, der an B.B. Kings "The Thrill Is Gone" erinnerte.
"Kommst du oft nach Genf?", fragte sie, das Gespräch suchend wegen der unangenehme Stille.
"Ich bin zum ersten Mal hier", antwortete er. "Ich bin nur wegen dir gekommen. Deine Veranstaltung auf der Frankfurter Buchmesse letztes Jahr habe ich verpasst. Ich hatte COVID, aber ich wäre wirklich gerne gekommen."
Er trank den Wein wie Wasser. Das zweite Glas neigte sich bereits dem Ende zu. "Der italienische Wein ist ganz gut", erklärte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. "Schade, dass diese europäischen Restaurants das Glas nicht mal halb voll machen. Du trinkst gar nicht?"
"Nein."
"Gut für dich. Ich habe schon oft versucht aufzuhören, aber es hat nicht geklappt. Wenn mich die Einsamkeit überkommt, fällt mir nichts anderes ein."
Wieder lange Stille.
"Wo sind deine Kinder?", fragte sie.
"Bei ihrer Mutter. Sie hat mir nicht erlaubt, sie nach Deutschland zu bringen."
"Wie alt sind sie?"
"Das Mädchen ist sechzehn, der Junge vierzehn."
"Sie sind schon groß." Wieder Stille: "Wie geht es ihnen bis jetzt?"
"Gut, denke ich", sagte er und wich ihrem Blick aus. "Die Mutter lässt mich nicht mit ihnen sprechen. Sie sagt, ich sei nicht für sie da gewesen – sie hat eine ganze Latte an Beschwerden. Aber ich habe mich damit abgefunden."
Die Stimme in dem Song war schön rau. Sie wünschte, sie könnten die Musik lauter stellen. "Sie sind jetzt wohl in der Sekundarstufe?", erkundigte sie sich.
"Ja. Das Mädchen ist klug. Sie ist zwar beileibe nicht Klassenbeste, aber sie ist schlau. Der Junge entwickelt sich nicht so gut, wie ich es mir gewünscht hätte."
"Gib ihnen Zeit", riet sie.
"Da hast du wohl recht."
Er schien ihrem Blick auszuweichen.
"Was macht ihre Mutter?", fragte sie.
"Sie hat früher als Kellnerin in einem Hotelrestaurant gearbeitet, da haben wir uns kennen gelernt. Aber jetzt hat sie ihren eigenen Friseursalon. Sie fährt auch über die Grenze nach Tansania, um ein paar Bekleidungsstücke zu bestellen, so was in der Art."
"Verstehe."
Er gab einem Kellner, der gerade vorbeiging, ein Zeichen. "Noch ein Glas, bitte", sagte er und rülpste. "Das Essen hier braucht ewig", sagte er an Madalo gerichtet. "Ich bin am Verhungern. Ich habe seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen."
"Dann ist es wohl keine gute Idee, auf leeren Magen Wein zu trinken", bemerkte sie.
"Du hast Recht", räumte er ein. "Ich muss mal. Auf die Toilette."
Er stand auf. Als er dicht an ihr vorbeiging, nahm sie seinen Schweißgeruch wahr. Das Ganze fühlte sich an wie ein seltsamer Traum.
Inzwischen kam das Essen. Es dauerte nicht lange, bis Kaiko zurückkam.
"Ihre Ravioli sind köstlich", sagte er und schaufelte sie sich in den Mund. Er aß wirklich schnell. Noch bevor sie ihr Risotto auch nur halb gegessen hatte, war sein Teller schon leer. Er schien noch nicht genug zu haben und rief nach einem weiteren Glas.
Schweigen hing zwischen ihnen wie ein dicker Vorhang.
"Madalo", sagte er schließlich, "wie ich schon zu Beginn unseres Gesprächs gesagt habe, es tut mir wirklich leid, was ich dir damals angetan habe."
Sie sagte nichts.
"Seitdem hatte ich kein Glück mehr in meinen Beziehungen. Eine Katastrophe nach der anderen. Du bist die Einzige, die ich wirklich geliebt habe."
"Was du nicht sagst."
"Glaub mir", sagte er mit überflüssigem Nachdruck. "Ich habe noch niemanden so geliebt wie dich. Und niemand hat mich je so geliebt wie du." Er schien in ihrem Gesicht nach einer Reaktion zu suchen.
"Ich fühle mich geschmeichelt, das zu hören", sagte sie nüchtern. Er war beim siebten Glas. Die Musik klang so traurig wie der Mann ihr gegenüber.
Er fuhr fort: "Ich möchte dich bitten, mir noch eine Chance zu geben."
Sie war so schockiert, dass sie ihr das Besteck entglitt und auf den Boden fiel. Sie ertappte sich dabei, wie sie ein wenig zitterte. Das war das Letzte, was sie zu hören erwartet hatte. Sie hatte dem Treffen zugestimmt, aus Freundlichkeit, um Böses nicht mit Bösem zu vergelten. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass dieses Gespenst aus der Vergangenheit es für möglich halten könnte, die längst erloschene Liebe einfach so wieder anzufachen.
"Ich muss auf die Toilette", sagte sie. "Ich gebe dir meine Antwort, wenn ich zurück bin."
Die Toiletten waren unten. Dort befand sich auch die Kasse. In der Toilettenzelle brach sie in Tränen aus, weil es ihr leid tat, dass dieser erbärmliche Mann da oben dachte, er sei ihrer Liebe noch würdig. Schließlich wischte sie sich die Tränen ab und ging zur Kasse. Sie beglich die Rechnung, verließ das Restaurant und stieg in die Straßenbahn, die sie direkt zu ihrem Hotel auf der anderen Seeseite brachte.
Sie stellte fest, dass sie wirklich nichts gemeinsam hatten, und fragte sich, warum sie sich vor Jahrzehnten überhaupt in ihn verliebt hatte. So sehr sie sich auch bemühte, er schien einfach ein unausstehlicher Mensch zu sein, mit dem sie nicht einmal einen einzigen Tag zusammenleben wollte. In gewisser Weise war diese Begegnung ein Schlussstrich. Sie schätzte sich glücklich, dass die Ablehnung, die er ihr Jahre zuvor entgegengebracht hatte, sie vor einer als Ehe getarnten lebenslänglichen Haft bewahrt hatte. Als sie am Bahnhof Cornavin aus der Tram stieg, wurde ihr bewusst, dass sie sich nie freier gefühlt hatte.
Doch im Hotelzimmer ließ ihr etwas keine Ruhe. Da schrieb sie über eine mutige Frau, die sich der ganzen Nation stellte, um ihren Mann mit dem schwierigen Thema der Vergewaltigung in der Ehe zu konfrontieren, doch sie selbst hatte es versäumt, diesem Mann entgegenzutreten und ihm ins Gesicht zu sagen, was genau sie von ihm und seinem Vorschlag hielt. "Nein, ich bin nicht feige", sagte sie sich und erhob sich.
Kaum eine halbe Stunde nach ihrem abrupten Abgang setzte sie sich wieder in die Tram und fuhr zurück zum Restaurant. Das Lokal war jetzt leer, es war kurz vor Geschäftsschluss. Oben am Tisch saß immer noch Kaiko, einer der letzten drei Gäste. Er saß zurückgelehnt in seinem Stuhl, fest schlafend und tief schnarchend, vor sich ein Glas Wein.