Wer erzählt jetzt?

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Wer erzählt jetzt?

Wer als «ich» erzählt, spricht noch lange nicht über eigene Erlebnisse. Wie, aus welcher Perspektive erzählen unsere Lieblingsautoren? Am besten zu erfahren, wenn sie persönlich eingeladen werden, um mit uns zu reden
Zsuzsanna Gahse

Zsuzsanna Gahse  ist eine österreichisch-deutsch-schweizerische Autorin; sie floh mit ihrer ungarischen Familie 1956 in den Westen, Stationen seither sind Wien, Stuttgart und Luzern – heute lebt sie in Müllheim (Kanton Thurgau, Schweiz). Ihre literarische Arbeit ist zwischen Prosa und Lyrik, zwischen erzählerischen und szenischen Texten angesiedelt. Für ihre rund 30 Buchpublikationen und Übersetzungen erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen.

Etwa Mitte der 1980er Jahre las ich den Roman einer damals bekannten Berliner Autorin und stolperte schon beim Einstieg über ihre Darstellungsweise. Die beinahe hagere, freundliche Frau mit mehreren Töchtern erzählte in ihrem Buch von einer schlanken weiblichen Person mit mehreren Töchtern in der dritten Person. Diese Romanfigur lebte in einer Großstadt, und wenn sie in ihrem hellen Sommerkleid zur Arbeit ging, drehten sich auf der Straße viele nach ihr um. Ich will nicht weiter ausholen. Die in der dritten Person Beschriebene war die Autorin selbst.

Die verschönte Selbstdarstellung, die Selbstzufriedenheit der Autorin war eine Enttäuschung. Zwar habe ich ihre zuvorkommende Art Kolleginnen und Kollegen gegenüber nach wie vor wahrnehmen können, aber ich las keine weiteren Bücher mehr von ihr.

Seither trete ich fast immer als Ich-Erzählerin an (so war es schon vorher, nur weniger entschlossen), ich erzähle als ein Ich, das ich nur bedingt bin. Meine Erzählenden haben die unterschiedlichsten Berufe und leben in ihrer eigenen Welt. Sicher vertreten manche von ihnen meine Überlegungen, haben aber mit meiner Vergangenheit oder Gegenwart wenig zu tun, ohnehin habe ich kein Interesse, eins zu eins von meinem Leben zu erzählen. Wozu auch!

Inzwischen ist neurologisch bekannt, dass die meisten Erinnerungen, während sie hervorgeholt und damit durchlüftet werden, im Hirn zumindest minimale Verschiebungen erfahren. Daher fragt es sich, was richtige Erinnerungen sind – wobei sich manche Erlebnisse gestochen scharf einzuprägen scheinen.

Solche Nachrichten aus der Wissenschaft, die durch weitere Forschungsergebnisse umgeworfen werden könnten, sind hoch interessant, interessant sind sie für mich vor allem, wenn es um Romane geht, die Ereignisse folgerichtig zu erklären meinen, die geschichtliche und politische Positionen gültig zu beschreiben vorgeben. Unglücklicherweise sind derzeit gerade solche Darstellungsweisen gefragt.

Nun haben sich hier zwei Themen vermischt, nämlich die Frage, welche Person erzählt, ein Ich oder sonst jemand? Und die zweite Frage richtet sich nach den Inhalten und ihrer Darstellungsart.

Zur zweiten Frage sollte ich einmal eine Liste von Autoren und Autorinnen zusammenstellen, mit denen ich im eigenen Kopf gerne im Dialog bin. Zu ihnen gehört unter anderem der in Deutschland leider kaum bekannte große Georges Perec, ein Mann des zwanzigsten Jahrhunderts, der sogar einige seiner Bücher in Listenform aufgebaut hatte.

Aber ich greife zeitlich weiter zurück, zu Cervantes und seinem Don Quijote, und meine dabei, obwohl ich damit im sechszehnten Jahrhundert gelandet bin, über eine gültige Moderne zu reden. Das Buch erzählt nicht nur vom wagemutigen Ritter und nicht nur von seinem Knecht Sancho. Cervantes unterbricht seine Geschichte, besser gesagt seine Geschichten um die beiden Vagabundierenden durch eine lange Reihe von Intarsien. Die Einschübe handeln von Adelsleuten, von Gastwirten und Schäfern, und eine unvergessliche Rolle spielt eine Schäferin. Zum gut gemischten Gemenge kommen noch Gedichte und Gesänge. Die Teilstücke leben gut miteinander, sie verstärken sogar die Lebensnähe der Gesamtheit. Und diese Erzählungen hinterlassen erstaunlich viele einprägsame Bilder. Neben berühmten Tuschezeichnungen und Gemälden etwa von Pablo Picasso oder Honoré Daumier gibt es weitere Bilder, die in den Köpfen der Leser hängenbleiben. Zu ihnen gehört wohl die schöne Schäferin, die hoch oben auf einem Felsen steht und zu einer Versammlung unterhalb des Felsens eine Rede über ihre freiwillig einsame Lebensweise hält.

Bilder! Dass sie das A und O allen Erzählens bedeuten, wäre übertrieben. Entscheidend ist auch die Musik, allein schon die Musik, die in jeder Sprache steckt, hinzu kommt das Tempo, mit dem sich der Inhalt entwickelt, wobei auch ein gedrosseltes Tempo beeindruckend sein kann, und alle Geschwindigkeiten hängen mit Emotionen zusammen. Aber ein Kerngeschäft des Erzählens sind die Bilder. Über die Topographie, über das Aussehen von Landschaften und städtischen Regionen rede ich gerne ausführlich, nur begnüge ich mich in diesem Fall mit dem Stichwort Topographie, da sie ohnehin zur Bilderwelt gehört.

Das eben Gesagte weiß im Grunde jeder und jede, nur liegt es so tief unten im Grund, dass es jahrzehnteweise wieder ausgegraben werden muss.

Zeilenweise Frauenfeld

Zsuzsanna Gahse | Zeilenweise Frauenfeld | Edition Korrespondenzen | 124 Seiten | 24 EUR

Und wer ist die Person, die in Bildern erzählt, wer ist der Erzähler? Ein Ich? Das ist gut möglich. Der schon erwähnte Perec hingegen spricht in seinem «Ein Mann der schläft» von einem Du. «Du sitzt mit nacktem Oberkörper, nur mit einer Schlafanzughose bekleidet in deiner Dachkammer auf einer schmalen Bank, …», sagt er zum Beispiel und fährt von der ersten bis zur letzten Seite mit diesem Du fort. Du ist ein Fürwort, ich ist ein Fürwort, und es gibt weitere Pronomen. Wir zum Beispiel. In meinem letzten Buch (Zeilenweise Frauenfeld) schreibe ich: «Ich hier und auch wir, viele von wir, wir sind hier» – und kurz später: «aber die anderen sind auch wir, es gibt für uns kein anderes Wort.» Gesucht werden also weitere, noch nicht vorhandene Fürwörter.

Cervantes berichtet aus dem Off. Er selbst bleibt unsichtbar, und wenn im Vorwort und später kurz ein Ich auftritt, handelt es sich um eine erdachte Erzählerfigur. Unübersehbar ist aber des Autors humorvoller Blick auf seine Zeit und die Vorzeiten. Sein unterschwelliger Witz beginnt gleich damit, dass er seinen Don als liebenden Ritter darstellt, wobei sich der ausgemergelte Mann die Liebe mit aller Gewalt einbilden will und ihm diese Einbildung offensichtlich misslingt. Liebesfähig hingegen ist sein Knecht Sancho, der seinen Don zutiefst versteht.

Mit der Betrachtung von solchen Details habe ich einen ergiebigen Dialog mit Cervantes. Sicher nicht nur ich.

Zu Silvester sitzen in meiner Schreibstube im ersten Stock Shakespeare und Cervantes. Sie grübeln gerne miteinander. Im Flur hockt E.T.A. Hoffmann, der von den anderen Gästen gerne aufgesucht wird. Letztes Jahr tauchten bei ihm zwei Filmemacher auf, einer von ihnen war der schmächtige, spitzfindige Woody Allen. Im Erdgeschoss saß neben Thomas Bernhard Nathalie Sarraute, und Tschechow tauchte kurz auf. Aber es gefiel ihm nicht, über die schroffe Trennung zwischen der ukrainischen und der russischen Sprache zu reden. Nächstes Jahr wird Beckett dabei sein, und eine Zusage habe ich von Gert Jonke, den jeder unbedingt lesen sollte. Zudem wird György Ligeti ein zweites Mal kommen. Zuletzt sagte er, dass nicht etwa Meister gesucht werden, die dann die Jüngeren kopieren sollten. Ausschlaggebend sei das Gespräch untereinander. Das meine ich auch. Literatur an sich ist ein großes Gespräch.