Natürlich schäme ich mich!

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Natürlich schäme ich mich!

In der traditionellen Gesellschaft Afghanistans hat die Scham eine nahezu staatstragende Funktion, in der afghanischen Diaspora findet sie neue, nicht weniger dramatische Wege, sich auszudrücken
Taqi Akhlaqi
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Taqi Akhlaqi

Taqi Akhlaqi, 1986 in Afghanistan geboren, ist Schriftsteller und Dramatiker. Er verließ Kabul nach der Rückkehr der Taliban 2021 und lebt heute in Berlin. Sein jüngstes Buch Versteh einer die Deutschen handelt von seiner ersten Reise nach Deutschland und Europa im Jahr 2016.

Scham ist nicht nur ein instinktives Gefühl, sondern steht in engem Zusammenhang mit der Gesellschaft und ihren moralischen Werten. In der Kindheit lernen wir von unseren Eltern und den Menschen um uns herum, welche Verhaltensweisen nicht toleriert werden, und dann behalten wir in der Regel dieses Wertesystem bei und geben es an die nächsten Generationen weiter. Daher kann das, was als schambehaftet gilt, von einer Kultur zur anderen sehr unterschiedlich und sogar widersprüchlich sein. Diese Unterschiede im Schamgefühl können bei Neuankömmlingen in einem neuen Land zu Verwirrung und manchmal sogar zu einem Kulturschock führen. Dennoch werden solche Themen nur selten diskutiert, da es den Menschen, vor allem denen mit einem geschlossenen traditionellen Hintergrund, schwerfällt, über schambesetzte Themen zu sprechen. Für sie wird Scham zu einem Tabu und manchmal zu einer Frage von Leben und Tod.

Ich habe meine Kindheit als Einwanderer im Iran verbracht, und obwohl ich in der Schule ein Spitzenschüler war, wurde ich nicht ermutigt, sondern vielmehr gedemütigt. Auf der Straße und in der Schule riefen mir nach: „Hey Afghane!“, und ich kam trotz Kälte ins Schwitzen; der Schweiß der Schande! So lernte ich von klein auf, mich für mein Land und meine Identität zu schämen. Daran hat sich auch nach meiner Rückkehr nach Afghanistan nichts geändert, und das ist bis heute so geblieben. Ich kann immer noch nicht ohne Schamgefühl sagen, dass ich aus Afghanistan komme. Denn worauf sollte man in Afghanistan stolz sein, einem Land, dessen Name mit Krieg, Gewalt, Frauenfeindlichkeit, Drogen und den Taliban assoziiert wird? Doch warum sollte ich mich für etwas schämen, das ich mir gar nicht aussuchen konnte?

Das ist weder logisch noch fair, aber so ist es nun einmal.

Wenn ich mich neuen Leuten vorstelle, weiß ich, was ihnen in den Sinn kommt, wenn sie den Namen Afghanistan hören, und sie wissen, dass ich es weiß, weil mein Gesicht sofort rot wird oder ich blass werde. Ich werde sofort verdächtigt, wie die Taliban zu sein, bis ich das Gegenteil beweise. Deshalb fühle ich mich, seit ich im September 2021 nach Deutschland gekommen bin, jeden Tag wie vor Gericht, und ich muss in jedem dieser Gerichtsprozesse versuchen, meine Unschuld zu beweisen. Für einen Außenstehenden dürfte es schwer nachvollziehbar sein, wie anstrengend es ist, so viel Scham zu empfinden!

Dieses Problem trifft jedoch nicht auf alle Afghanen zu, und viele sind ja auch stolz auf ihre afghanische Identität, vor allem diejenigen, die nicht als Kinder migriert sind und nie gedemütigt wurden. Daran zeigt sich, wie sich Scham durch unterschiedliche Erziehungs- und Bildungsbedingungen verändern kann. In der extrem traditionellen und konservativen Gesellschaft Afghanistans hingegen ist Scham ein grundlegendes Element eines strengen Erziehungssystems und stärkt zusammen mit verwandten Gefühlen wie Schuld religiöse und stammesbezogene Werte.

Mädchen wird beigebracht, sich ihres Körpers zu schämen, zu gehorchen und Kinder zu gebären, während Jungen lernen, gewalttätig zu sein, ihre persönlichen Wünsche aufzugeben und religiöse und stammesbezogene Ideale zu schützen. Für sie ist Männlichkeit eine Überlegenheit, und nichts ist heiliger als der Stamm. 
In einem solchen Umfeld ist es unerlässlich, zwischen „sich selbst“ und „den anderen“ zu unterscheiden und die „anderen“ zu entmenschlichen, damit sie ohne schlechtes Gewissen eliminiert werden können. Aus diesem Grund kommt es im heutigen Afghanistans immer wieder zu zahllosen Morden und Verbrechen. Ein Menschenleben ist nicht mehr wert als das Leben eines Insekts. Die Menschen dort wachsen in einem stammesbezogenen Erziehungssystem auf, in dem andere als Feinde und weniger wert als Tiere angesehen werden. Dieselben Menschen, die sich mit Leichtigkeit gegenseitig umbringen, wenn es um Dinge geht, die im Westen als trivial oder sogar lächerlich gelten, erleben ein Leben lang Scham und Schande. Ein gutes Beispiel sind: Blähungen!

Es gibt eine allseits bekannte Geschichte, die besagt, dass ein afghanischer Mann eines Abends in der Moschee laut gefurzt hat und sich deshalb so sehr schämte, dass er noch in derselben Nacht seine Sachen packte und das Dorf für immer verließ. Zwanzig Jahre später kehrte dessen Sohn, der nichts von diesem Vorfall wusste, in sein Dorf zurück. Nachdem sich dieser vorgestellt hatte, sagte ein alter Mann lachend zu einem anderen:
„Das ist der Sohn des Mannes, der vor zwanzig Jahren in der Moschee gefurzt hat.“

Diese Geschichte zeigt uns, dass in Afghanistan ein unangebrachter, zufälliger Furz buchstäblich katastrophale Folgen haben kann. Stellen Sie sich nun vor, dass eine unter solchen Bedingungen aufgewachsene Person nach Deutschland kommt und plötzlich eines Tages zum ersten Mal einen Mann oder eine Frau in einem Bus oder Zug furzen hört. Was für ein Kulturschock! Und was für ein Gefühl der Scham. Natürlich Scham für etwas, das man gar nicht selbst getan hat, sondern eine andere Person, wofür es in der deutschen Sprache ein wunderbares Wort gibt: fremdschämen!

Jemand, der Fremdschämen erlebt, hat zwei Möglichkeiten, der Situation zu entkommen: ohne seine kulturellen Werte infrage zu stellen anderen die Schuld geben und auf sie herabsehen, oder sich in andere einfühlen und versuchen, die starren Normen seiner Heimat zu relativieren. Letzteres ist natürlich ein langwieriger und schmerzhafter Prozess, auf den sich nur wenige Menschen einlassen, vor allem weil er Dialog, Zweifel und die Veränderung von Überzeugungen erfordert, die auch unsere Identität prägen. Wenn wir das nicht tun, müssen wir auf Hass und Gewalt zurückgreifen – einen Weg, den Afghanistan zumindest im letzten Jahrhundert eingeschlagen hat und der zu einer zersplitterten Gesellschaft geführt hat, die bereits am Boden ist und immer weiter abgleitet.

Für eine solche Gesellschaft, die sich für Vergewaltigungen und Verbrechen nicht schämt, aber Körpersprache und Blähungen als Tabu betrachtet, gibt es keine unmittelbare Lösung. Langfristig kann die Literatur vielleicht ein Weg in eine andere Richtung sein, indem sie etwas Empathievermögen schafft. Denn nur wenn wir über schambesetzte Themen sprechen, können wir die Scham überwinden, und nur wenn wir andere verstehen, können wir Fremdschämen zum auch noch so unbedeutendsten Thema vermeiden.