Macron und die Sex-Diebe: Gerüchte und Desinformation in Afrika

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Macron und die Sex-Diebe: Gerüchte und Desinformation in Afrika

In einigen afrikanischen Ländern kursiert ein Gerücht: Frankreich organisiere Penisdiebstähle, um die nationale Geburtenrate wieder zu steigern. Das von der russischen Propaganda weiterverbreitete Gerücht ist zu einer Fake News geworden
Julien Bonhomme
Bildunterschrift
Julien Bonhomme

[1] Steve Fleitz, "Centrafrique: Disparitions inexpliquées de parties intimes chez des hommes, la France suspectée?", Bamada.net, online gestellt am 28. Oktober 2024, gelöscht am 7. November. Ich danke Nathan Gallo, Journalist bei Les Observateurs von France 24, für den Hinweis auf diesen Artikel. 

[2] Julien Bonhomme, Les Voleurs de sexe. Anthropologie d'une rumeur africaine, Paris, Seuil, 2009. Englische Übersetzung: The Sex Thieves. Anthropology of a Rumor, Chicago, HAU Books-University of Chicago Press, 2016. 

Schon wieder "Sexdiebe"? Am 28. Oktober 2024 veröffentlichte eine malische Nachrichtenseite einen Artikel über das mysteriöse Verschwinden von männlichen Genitalien in der Zentralafrikanischen Republik [1]. Das Gerücht ist in Wirklichkeit nicht neu, wie ich in einem Buch von mir gezeigt habe [2]. Es tauchte erstmals in den 1970er Jahren in Nigeria auf und breitete sich in den 1990er Jahren über West- und Zentralafrika aus. Seitdem taucht es immer wieder auf, was zu Anschuldigungen und Gewalt führt. Das Szenario ist immer das gleiche: Der "Sexraub" soll angeblich bei einer gewöhnlichen Begegnung zwischen zwei Personen auf der Straße stattfinden. Ein Handschlag oder eine einfache Berührung reichen schon aus, dass die Genitalien des fast immer männlichen "Opfers" verschwinden oder schrumpfen. Der vermeintliche "Dieb" ist ebenfalls meist ein Mann, ausnahmslos ein Unbekannter, häufig ein Ausländer, sei es ein Angehöriger eines anderen afrikanischen Landes oder einer anderen ethnischen Gruppe. In Nigeria werden beispielsweise häufig Hausa aus dem Norden des Landes angeklagt, während in anderen Teilen Westafrikas Nigerianer unter Generalverdacht gestellt werden. Der Sexraub, der durch die drohende Enteignung von Fremde inszeniert wird, ist mit einer ganzen Reihe von Gerüchten über Organraub verwandt, die in anderen Teilen der Welt, von Brasilien bis Madagaskar, von den Anden bis nach Frankreich, kursieren [3].

Doch dieses Mal ist das Szenario völlig neu. Der von Bamada.net veröffentlichte Artikel unterstellt, dass die Sexdiebstähle vom französischen Staat inszeniert werden, um die degenerierte Männlichkeit seiner männlichen Bevölkerung wiederherzustellen. Es geht sogar so weit, dass ein Diplomat der französischen Botschaft in der Zentralafrikanischen Republik und mit ihm Emmanuel Macron persönlich beschuldigt werden. Und es ist weitem nicht nur, wie sonst üblich, ein Einzelfall, sondern ein Staatsskandal mit weitreichenden geopolitischen Auswirkungen. In den Tagen, nachdem der Artikel online gestellt wurde, machten auf Fakten-Checking spezialisierte Medien den Artikel ausfindig, widerlegten seine falschen Behauptungen und wiesen darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um eine Desinformationskampagne von prorussischen Netzwerken handelte, die in der Region sehr aktiv sind [4]. Eine Geschichte, die seit mehreren Jahrzehnten spontan im Umlauf war, diente also als Blaupause für eine "Fake News", eine Falschinformation, die von Akteuren zu ideologischen Zwecken produziert und weiterverbreitet wird. Ich möchte auf den Fall genauer eingehen und dabei die politischen Herausforderungen hervorheben. Dieser einzigartige Fall ermöglicht es auch, eine noch allgemeinere Frage zu stellen: Was verbindet und was unterscheidet Gerüchte von Fake News?

[3] Nancy Scheper-Hughes, "Theft of Life. The Globalization of Organ Stealing Rumours", Anthropology Today, vol. 12, Nr. 3, 1996, S. 3-11; Luke Freeman, "Voleurs de foies, voleurs de coeurs. Européens et Malgaches occidentalisés vus par les Betsileos (Madagascar)", Terrain, Nr. 43, 2004, S. 85-106; Andrew Canessa, "Fear and loathing on the kharisiri trail. Alterity and identity in the Andes", Journal of the Royal Anthropological Institute, Vol. 6, No. 4, 2000, S. 705-720; "Trafic d'organes: est-il vrai que des vols de reins ont lieu à Paris?", Libération, 29. Oktober 2019.

[4] Nathan Gallo, "Rumeur des 'pénis volés' en Centrafrique: autopsie d'une intox anti-française", Les Observateurs-France 24, 1. November 2024; "FAUX, Alexandre Piquet, conseiller de l'Ambassade de France en Centrafrique n'est pas impliqué dans la disparition de sexe masculin", Radio Ndeke Luka, 1. November 2024.

Vom Gerücht zur Fake News

Die Verbreitung des Artikels Ende Oktober folgte auf eine Reihe von Vorfällen im Zusammenhang mit Sexraub in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR). Das Land wurde erst spät von dem Gerücht betroffen, meines Wissens nach nicht vor 2010. Seit einigen Jahren taucht es dort jedoch regelmäßig immer wieder auf. Im Jahr 2022 jagten in Ndele Jugendliche die Schuldigen, nachdem zwei Personen behauptet hatten, ihren Penis verloren zu haben, und verhafteten eine alte Frau, die sich selbst entlasten konnte, indem sie die Schuld auf ein paar Hausa aus Nigeria schob, die vor kurzem in die Stadt gekommen waren. Im Juli 2024 wird in Bambari ein humanitärer Helfer aus der Zentralafrikanischen Republik von drei Jugendlichen, denen er gerade die Hand geschüttelt hat, dieser Tat beschuldigt. Um der Lynchjustiz zu entgehen, flüchtete er sich in ein Haus, bevor er von der Gendarmerie gerettet werden konnte. Ende August gelangte das Gerücht in die Hauptstadt Bangui, wo es mehrere gewalttätige Zwischenfälle auslöste. Ein Mann beschuldigte einen anderen, nachdem er auf der Straße von ihm gestreift wurde. Er schlägt Alarm, eine Menschenmenge versammelt sich und misshandelt den vermeintlichen Dieb und nur durch das Eingreifen des Quartiervorstehers kann das Schlimmste verhindert werden.

Das Gerücht verbreitete sich so rasant, dass der Minister für Kommunikation und Medien, der auch Regierungssprecher ist, sich am 2. September gezwungen sah, das Gerücht öffentlich zu dementieren und die Bevölkerung zur Ruhe aufzurufen. Er erklärte, dass es nach einer Untersuchung keinen offiziell bestätigten Fall von Sexraub gebe, und drohte Personen, die falsche Informationen verbreiteten oder die öffentliche Ordnung störten, mit strafrechtlicher Verfolgung. Weitere Personen traten in Aktion, um das Gerücht einzudämmen. Ein Krankenhaus etwa veröffentlichte die Protokolle der klinischen Untersuchungen der angeblichen Opfer, denen tatsächlich kein Penis abhanden gekommen sei, und Journalisten, die sich auf Faktenchecks spezialisiert haben, erklärten, dass die in den sozialen Netzwerken kursierenden Bilder von verkümmerten Genitalien, die den Sexualraub belegen sollten, in Wirklichkeit Menschen mit angeborenen Missbildungen zeigten. Im September verschwand das Gerücht wieder, wobei unklar ist, ob das auf die offiziellen Dementis zurückzuführen ist oder ob es sich selbst erledigt hat, da eine Geschichte im schnellen Zyklus der Nachrichten normalerweise auf die andere folgt.

Bamada.net veröffentlichte seinen Artikel also zu einem Zeitpunkt, an dem das Gerücht in der Zentralafrikanischen Republik nicht mehr aktiv zirkuliert, aber dennoch in den Köpfen der Menschen präsent ist. Bis dahin folgten die Vorfälle, die es im Land ausgelöst hatte, alle einem klassischen Szenario: ein Händeschütteln mit fatalen Folgen und Beschuldigungen unter Fremden im öffentlichen Raum. Die Website führt allerdings eine wichtige Erweiterung hinzu, indem sie die Anschuldigungen auf Frankreich lenkt. Ein Bündel von Indizien lässt vermuten, dass es sich um eine Desinformationskampagne handelt, die von prorussischen Netzwerken in Afrika inszeniert wird, um antifranzösische Stimmungen zu schüren. Der Artikel konzentriert sich auf die Zentralafrikanische Republik und wird von einer malischen Website veröffentlicht, zwei Schlüsselländer der neuen russischen Einflusszone auf dem Kontinent, das erste ab 2018, das zweite nach dem Staatsstreich im Jahr 2021. Neben den militärischen, wirtschaftlichen und politischen Aspekten gehört auch die Medienpropaganda zu den operativen Werkzeugen der Einflussnahme [5].

[5] Léa Péruchon, "In the Central African Republic, a former propagandist lifts the veil on the inner workings of Russian disinformation" und "Propaganda Machine: Russia’s information offensive in the Sahel", Forbidden Stories, 21. November 2024.

Die Agenten Moskaus leiten die Informationen, die sie in der Presse veröffentlichen möchten, an bezahlte lokale Journalisten weiter, die dann den Text verfassen oder überarbeiten und ihn bei verschiedenen Medien platzieren. Ziel ist es, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, indem man Russlands Handeln in einem positiven Licht darstellt und die westlichen Länder, insbesondere Frankreich, verunglimpft, dessen Beziehungen zu seinem ehemaligen afrikanischen "Vorgarten"  bereits verständliche Ressentiments in Teilen der Bevölkerung geschürt haben. Bamada.net, eine gut besuchte, allgemein gehaltene Nachrichtenseite, verlinkt regelmäßig prorussische Inhalte. Der Zeitpunkt der Fake News ist übrigens sehr aufschlussreich: Sie stellt einen französischen Diplomaten in der Zentralafrikanischen Republik in Frage, während gleichzeitig ein Gesetzentwurf über "ausländische Agenten" diskutiert wird, der dem russischen Modell nachempfunden ist und in der Zivilgesellschaft Besorgnis hervorruft.

Der Artikel muss von einem Dritten außerhalb der Bamada-Redaktion geschrieben worden sein, wie die gleichzeitige Veröffentlichung in englischer Sprache auf der Website einer nigerianischen Tageszeitung beweist. Der Autor, ein gewisser Steve Fleitz, schreibt wahrscheinlich unter einem falschen Name (die in Nigeria erschienene Version bleibt anonym, der Text wird ohne weitere Angaben "Our reporter" zugeschrieben). Er veröffentlicht regelmäßig auf Englisch oder Französisch in der afrikanischen Presse, die alle gegen Frankreich, die MINUSCA (die UN-Mission in der Zentralafrikanischen Republik), die USA oder die Ukraine gerichtet sind. Manchmal wird er als "Dr. Steve Fleitz" vorgestellt, ein Politikwissenschaftler, der an der Universität Prag studiert hat und dem International Center for Political and Strategic Studies angegliedert ist, einer Schattenorganisation, die auch in anderen antiwestlichen Artikeln erwähnt wird, die von falschen Experten unterzeichnet wurden. Die Veröffentlichung auf der Bamada-Website gibt keinen Hinweis auf die wissenschaftliche Herkunft des Autors, doch unter seiner Unterschrift wird angegeben, dass die "Quelle" der Informationen vom European Centre for Middle East Studies stamme, einem real existierenden Forschungszentrum, auf dessen Website jedoch weder Fleitz noch eine Studie über Sexraub zu finden sind.

Bereits am Tag nach seiner Veröffentlichung wurde der Artikel in den sozialen Netzwerken aufgegriffen, insbesondere über Facebook-Nachrichtenseiten, die immer wieder prorussische Inhalte weiterleiten,  so wie "RCA aujourd'hui" (23.000 Abonnenten) und "Tout sur l'Afrique" (68.000 Abonnenten). Erstere hatte bereits Anfang September Artikel veröffentlicht (der Inhalt wurde seit der Veröffentlichung des Artikels entfernt), in denen sie die MINUSCA beschuldigte, ein Gerücht über aus dem Land geflogene Penise zu verbreiten, um Panik zu schüren und das Land zu destabilisieren. Die Neuveröffentlichung der Fake News auf "RCA aujourd'hui" hat über 5.000 Likes und wurde 36 Mal geteilt. Die täglichen Posts auf der Seite erhalten jedoch nur sehr wenige Likes, in der Regel um die zehn (Für Sportnachrichten sind es einige hundert). Artikel, die auf Frankreich oder die Vereinten Nationen abzielen, erhalten hingegen systematisch mehrere tausend blaue Daumen, was darauf schließen lässt, dass es sich um gekaufte falsche Likes handelt, damit die Popularität der Seite  gesteigert wird. Im französischen Web wurde die Nachricht von der rechtsextremen Website Fdesouche.com und dem Forum jeuxvideo.com (hier und hier) aufgegriffen, was jedoch kaum Reaktionen hervorrief.

Verschwörungstheorien

Der Inhalt des Textes stützt die Desinformationshypothese, insbesondere die bislang unveröffentlichten Zusätze im Vergleich zu den Hunderten von Artikeln über Sexraub, die seit den 1990er Jahren in der afrikanischen Presse erschienen sind. Zunächst geht er auf die jüngsten Vorfälle in der Zentralafrikanischen Republik ein und deutet an, dass das Phänomen wohl real sei, wobei er sich vorsichtshalber hinter dem Konditional versteckt. Dann stellt er seine Hauptthese auf: "Nach den Aussagen einiger Zeugen und Opfer sei der Fremde [Sexdieb] weiß." Die Möglichkeit, dass es sich nur um eine "Verschwörungstheorie" handelt, wird zwar erwähnt, allerdings nur rhetorisch, um sofort wieder zurückgenommen zu werden und die Existenz der besagten Verschwörung zu behaupten: "Einige sogenannte 'Verschwörungstheorien' seien ja schließlich auch bestätigt worden, insbesondere solche, die westliche Eliten in Kindesentführungen, Massenorgien und satanische Rituale verwickelt sahen."

Der Artikel legt im weiteren die Gründe für die Verschwörung dar: "Einige Gerüchte besagen sogar, dass der französische Geheimdienst, der von neokolonialem Hass und Eifersucht auf Afrikaner erfüllt ist, geheime Nanotechnologie einsetzt, um afrikanischen Männern die männlichen Attribute zu rauben und damit dem Bevölkerungsrückgang der Europäer entgegenzuwirken." Der Bevölkerungsrückgang auf dem alten Kontinent sei auf eine degenerierte Männlichkeit zurückzuführen, wie verschiedene angeblich maßgebliche, aber nicht referenzierte Quellen belegen würden: eine wissenschaftliche Studie in einer großen internationalen Zeitschrift, eine Umfrage über die abnehmende Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs oder auch "medizinische Experten", die behaupten, dass das Phänomen besonders die "weißen Franzosen" betreffe. Um der Bedrohung, die diese "Devirilisierung" für die gesamte Gesellschaft darstellen würde, zu begegnen, hätten die "französischen Sicherheitskräfte" ein wissenschaftliches Projekt ins Leben gerufen, das herausgefunden hätte, dass das männliche Sexualhormon "aus dem Intimbereich eines anderen Mannes gewonnen werden kann". Die höchsten Testosteronwerte seien bei "afrikanischen Männern", insbesondere in der Zentralafrikanischen Republik, gefunden worden. Deshalb wurde ein geheimes Programm mit dem Namen "Repopulation" ins Leben gerufen, um "schwarzen Männern dieses Hormon zu entziehen". Es sei von höchster Stelle von Emmanuel Macron selbst gebilligt worden, "der, ohne Kinder, eine verzweifelte Maßnahme ergriffen hätte, um die Fruchtbarkeit seiner alternden Nation zu sichern". Erste Tests sollen bereits 2016 in Haiti durchgeführt worden sein, bevor das Programm in der Zentralafrikanischen Republik eingesetzt wurde, wo es vom Ersten Berater der französischen Botschaft, der in Wirklichkeit ein Geheimdienstmitarbeiter ist, gesteuert werde. Die gestohlenen Geschlechter würden dann mit Militärflugzeugen nach Frankreich gebracht und dort "in einem der geheimen Bunker in Versailles deponiert". Eine Karikatur, die im Originalartikel fehlt, illustriert die Wiederveröffentlichung in den sozialen Netzwerken: Sie zeigt den Botschaftsrat dabei, wie er Kartons mit männlichen Genitalien in einen Lkw mit der Aufschrift "Cargaison spéciale pour Emmanuel Macron" lädt, dessen Foto aus der Jackentasche des Diplomaten herausragt. Im Hintergrund ist ein Poster zu sehen, das die Szene erklärt: "Der Plan, um die Penisse der Zentralafrikaner zu stehlen".

[6] Delphine Peiretti-Courtis, "Origines et survivances des stéréotypes raciaux: la construction d'une "masculinité africaine"", De facto, Nr. 34, 2023.

Diese Verschwörungstheorie mag zu extravagant erscheinen, als dass ihr jemand auch nur den geringsten Glauben schenken würde. Sie stützt sich jedoch auf bestimmte Realitäten, die ihr dann doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit verleihen: das sinkende demografische Gewicht Europas, die abnehmende Häufigkeit sexueller Beziehungen (die im Text erwähnte IFOP-Umfrage gibt es wirklich) oder auch die gesellschaftlichen Sorgen über die "Krise der Männlichkeit" (die reaktionäre Gegenreaktion auf die Entwicklung der Geschlechternormen). Darüber hinaus recycelt sie weithin geteilte rassistische Stereotypen: Die Hypervirilität afrikanischer Männer ist ironischerweise ein europäisches Klischee aus der Kolonialzeit [6]. Darüber hinaus nutzt der Artikel den Sexraub und seine Aktualität in der Zentralafrikanischen Republik als Vorwand, um eine antifranzösische Rhetorik zu verbreiten. Er versucht, die Popularität des Gerüchts auszunutzen, um von sich reden zu machen. Es handelt sich in der Tat um eine eingängige Geschichte, die durch ihre Ungewöhnlichkeit, aber auch durch ihre suggestive Kraft die Aufmerksamkeit auf sich zieht: Sie kristallisiert unterschwellige Sorgen über Männlichkeit, städtische Anonymität und Ausländer. Selbst wenn sie als falsch oder zweifelhaft eingestuft wird, weckt sie Interesse. Im Gegenteil, gerade weil die Menschen nicht wissen, was sie davon halten sollen, werden sie dazu angeregt, anderen davon zu erzählen.

[7] Luise White, Speaking with vampires. Rumor and history in colonial Africa, Berkeley, University of California Press, 2000.

Die Fake News partizipiert am Erfolg des Gerüchts, auch wenn die These, mit der es erklärt wird, keine neue Idee ist. Der Westen habe geheime Programme entwickelt, um Afrika zu entvölkern; die Epidemien AIDS, Ebola, Covid-19 und heute Mpox seien bewusst auf dem Kontinent verbreitet worden; diese Viren seien zu diesem Zweck sogar in einem Laboratorium geschaffen worden; die medizinischen Kampagnen internationaler NGOs seien unter einer humanitären Maske versteckt und zielten eigentlich darauf ab, das Böse zu verbreiten, indem sie vorgäben, es zu heilen. Diese Verschwörungsdiskurse werden bei jeder neuen Epidemie auf identische Weise reaktiviert. Nur eine Woche vor der Desinformationskampagne über den Sexraub verbreitete "RCA aujourd'hui" eine andere Fake News mit dem Titel "La République centrafricaine serait-elle un terrain d'essai de Médecins Sans Frontières (MSF)?" (der Inhalt wurde seit der Veröffentlichung des Artikels entfernt), in der unterstellt wurde, dass die aus Frankreich stammende NGO für die Verbreitung von Mpox im Land verantwortlich sei, um dort experimentelle Impfstoffe testen zu können. Dieses Misstrauen reicht  bis in die Kolonialzeit zurück, wie die erschreckenden Gerüchte belegen, die auf dem Kontinent bereits über Injektionen und im weiteren Sinne über die Praktiken der Kolonialmedizin kursierten [7]. In der Tat diente Afrika manchmal als medizinisches Experimentierfeld, zum Beispiel bei den Kampagnen zur Ausrottung der Schlafkrankheit [8]. Die Theorie von der westlichen Verschwörung zur Entvölkerung Afrikas knüpft an ein noch immer lebendiges historisches Gedächtnis an und stellt in gewisser Weise eine übertriebene Karikatur davon dar: Der Sklavenhandel und später die Kolonialisierung führten zu einer stagnierenden oder sogar rückläufigen Bevölkerungsentwicklung (im zweiten Fall aufgrund von Zwangsarbeit, Umsiedlung und Epidemien).

[8] Guillaume Lachenal, Le médicament qui devait sauver l'Afrique. Un scandale pharmaceutique aux colonies (Ein Pharmaskandal in den Kolonien), Paris, La Découverte, 2014.

Die Verschwörungstheorie hat den Vorteil, dass sie dem Sexraub die Erklärung liefert, die ihm bisher fehlte. Das übliche Gerüchteszenario sagt nichts über das Motiv der Diebstähle aus, sondern überlässt es der kollektiven Vorstellungskraft, die punktuellen Lücken zu füllen. Während meiner Untersuchung waren sich die meisten meiner Gesprächspartner, die das Phänomen für real hielten, einig, dass die Sexdiebstähle mit Sicherheit von Politikern in Auftrag gegeben worden waren, die zu allem bereit waren, um an der Macht zu bleiben und sich zu bereichern, selbst wenn sie die kleinen Leute auf dem Altar ihres Egoismus opferten. Dies ist ein sehr häufiges Erklärungsmuster, das mit Hexerei in Verbindung gebracht wird. Es steht beispielsweise im Mittelpunkt der Fälle von "Ritualverbrechen", denen die Gerüchte über Sexraub in mehr als einer Hinsicht ähneln. Ihrer fantastischen Folklore entkleidet, ist die Hexerei Ausdruck einer moralischen Vorstellungskraft, die um die Themen Ungleichheit, Macht, Reichtum und die dadurch genährten Gefühle der Ungerechtigkeit herumstickt. Indem das Gerücht durch eine Verschwörungstheorie erklärt wird, greift die Fake News das Motiv der Anprangerung der Schandtaten der Mächtigen auf, lenkt die Anklage von den nationalen Eliten jedoch auf den Westen, Frankreich und insbesondere Emmanuel Macron, um. Der Schluss des Artikels erweitert das Gerücht um eine letzte Bedeutungsschicht, indem er eine Steigerung ins Allgemeinhistorische vorschlägt. Der Sexraub sei Teil der historischen Kontinuität der Ausbeutung des afrikanischen Kontinents durch Frankreich, seiner Menschen und seiner natürlichen Ressourcen:

"Wenn diese Annahme zutrifft, würde diese Situation eine neue Form der Ausbeutung veranschaulichen: Die Franzosen, die die afrikanische Bevölkerung jahrhundertelang unterdrückt haben, würden vor nichts zurückschrecken. Die Ausbeutung der afrikanischen Ressourcen - Öl, Gas, Gold, Lithium, Diamanten, Chrom und Platin - hätte ihnen nicht genügt. Jetzt würden sie das Wertvollste angreifen, was ein Mensch hat: sein unveräußerliches Recht, sich zu reproduzieren, eine Familie zu gründen und seine Zukunft zu sichern."

Der Sexraub wird als eine Art vitaler Extraktivismus dargestellt, in Analogie zum Bergbau- und Ölextraktivismus. Zwar profitieren in der Tat ausländische Mächte (darunter Russland) von der Extraktion und dem Export der Ressourcen des Kontinents, doch wird hier nur Frankreich ins Visier genommen. Das Gerücht dient als Vorwand, um Frankreichs Neokolonialismus in Afrika anzuprangern, ein Leitmotiv, das von der russischen Propaganda beliebig ausgenutzt wird, da es bei einem Teil der öffentlichen Meinung einen wunden Punkt trifft.

Desinformation auf dem Prüfstand der Zielgruppe

Letztendlich bezieht die Fake News ihren Kern aus bereits bestehenden soziokulturellen Vorstellungen, die lediglich aufgegriffen und neu arrangiert werden: das Gerücht von Sexdieben, rassistische Stereotypen, die Theorie einer westlichen Verschwörung gegen Afrika. Die faktische Unwahrscheinlichkeit, jenseits einiger Funken von Wahrheit im Hintergrund, wird durch ihre evozierende Kraft ausgeglichen. Die Erzählung verleiht dem Sexraub einen Sinn, indem sie ihm einen moralischen und politischen Wert verleiht: Sie macht aus einem ungewöhnlichen Gerücht eine Parabel über die Missetaten des Neokolonialismus. Doch wie wurde dieses Narrativ im Dienste der russischen Interessen in Afrika von dem Publikum aufgenommen, für das es bestimmt war? Welche - starken oder schwachen - Auswirkungen hatte die Desinformationsoperation auf die öffentliche Meinung? Dies ist eine zentrale Debatte in den Studien über die Macht der Propaganda und im weiteren Sinne über den Einfluss der Medien.

Die Rezeption der Fake News lässt sich anhand der Reaktionen der Internetnutzer in den sozialen Netzwerken beurteilen. Die Wiederveröffentlichung auf der Facebook-Seite "RCA aujourd'hui" führte zu rund 100 Kommentaren. Die Kommentare brachten unterschiedliche Meinungen über die Nachricht selbst und ihren Wahrheitsgehalt zum Ausdruck. Einige stimmten der im Artikel aufgestellten These (oder zumindest der darin enthaltenen politischen Parabel) zu und empörten sich: "Diese Art von Handel ist wirklich eine Schande😡 "; "Die französische Regierung ist eine Ansammlung gesalzener Schweine"; "Verflucht sei der Tag, an dem Emmanuel Macron in die Eierstöcke seiner Mutter eingedrungen ist"; "Zuerst unser Land und jetzt wollen sie auch noch unsere Körper". Der weiße Mann🙄😏 ". Diese Meinungen sind jedoch weniger zahlreich als diejenigen, die die Falschheit des Artikels anprangern (16 % bzw. 23 % aller Kommentare): "Quatsch!"; "Alles Quatsch!"; "Wie kann jemand nur solchen Unsinn ohne den geringsten Beweis verfassen, das ist unerhört!". Viele sind sich auch bewusst, dass es sich um eine Desinformationskampagne handelt: "Fake News, seit wann klaut man den Penis einer Person, um ihn in einer bei einer anderen zu ersetzen? Ihre Propaganda ist eine Lüge"; "Falsche Informationen. Sagen Sie doch einfach, dass Sie zu den Personen gehören, die  Zentralafrika destabilisieren wollen"; "Ihre russischen Chefs haben gute Arbeit geleistet und Facebook nimmt auch noch das Geld von den Wagners".

Viele Nutzer hinterfragen oder zweifeln den Artikel an, indem sie auf fehlende Beweise hinweisen (18%): "🙆 wahr?"; "Nicht überprüft"; "Was soll das? Gibt es Beweise?" Einige wenige amüsieren sich über diese extravagante Verschwörungstheorie (4 %): "So unfassbar dumm🤣 "; "Es ist schon viel länger her, [dass] der ZAR die [Penisse] fehlen". Dies zeigt, dass Verschwörungstheorien, Gerüchte, urbane Legenden und andere Bullshit-News auch deshalb in Umlauf sind, weil sie zum Lachen taugen, und nicht, um ernst genommen zu werden. Eine kleine Anzahl von Menschen (9 %) ist verwirrt, wobei nicht klar ist, ob ihr Erstaunen Unglauben oder Empörung ausdrückt: "Was passiert nur mit der Welt?", "Wasssss????". Schließlich formuliert fast ein Drittel der Kommentare kein epistemisches Urteil. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ungläubigkeit, Skepsis und Spott vorherrschen, während die Zustimmung zu Verschwörungstheorien in der Minderheit bleibt. Dasselbe gilt übrigens auch für den Sexraub im Allgemeinen: Er ruft sowohl Zweifel als auch ein daran glauben hervor.

Wie ich bereits erwähnt habe, veröffentlichten mehrere afrikanische Medien oder Medien, die sich mit Nachrichten aus Afrika befassen, schnell Artikel, in denen sie die Falschmeldung widerlegten und darauf hinwiesen, dass es sich um eine Manipulation handelte. Dazu gehörten die Fakten-Checking-Dienste von Les Observateurs, die kollaborativen Plattform des internationalen Nachrichtensenders France 24, oder Radio Ndeke Luka, ein zentralafrikanisches Medium, das von der Journalism Trust Initiative, die von Reporter ohne Grenzen ins Leben gerufen wurde, zertifiziert wurde. Diese journalistische Überprüfung hatte einen konkreten Effekt, denn sie führte dazu, dass Bamada.net die Fake News zehn Tage nach ihrer Veröffentlichung zurückzog. Am 7. November veröffentlichte die Seite tatsächlich eine "Klarstellung nach einem nicht verifizierten Artikel":

"Liebe Leser, Bamada hat am 28. Oktober einen Artikel mit dem Titel "Zentralafrika: Unerklärliches Verschwinden von Geschlechtsteilen bei Männern: Frankreich verdächtigt?" wieder veröffentlicht. Der Konditional wurde zwar verwendet, um die Absichten des Artikels wiederzugeben, doch die Redaktion hat die eigentlichen Informationen nicht überprüft. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Falschmeldung handelt, und wir haben uns deshalb entschieden, den Artikel zu löschen."

[9] Les Observateurs von France 24 gehören zu den Medienpartnern von Facebook im Bereich Fakten-Checking, deren Ende Mark Zuckerberg im Januar 2025 im Namen der „Meinungsfreiheit“ im Zusammenhang mit der Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus angekündigt hat.

Hinter dem Anschein der Ehrlichkeit und der vermeintlichen Einhaltung des Berufsethos deutet alles darauf hin, dass die Pressemitteilung in Wirklichkeit eher unaufrichtig ist. Es scheint, dass der Widerruf von Anfang an antizipiert worden war und die Redaktion daher wusste, dass die Information falsch war, wie der spekulative Gebrauch des journalistischen Konditionals zeigt, eine Nutzung, die in diesem Zusammenhang so künstlich ist, dass sie missbräuchlich wird (z. B.: "Einige würden sagen, dass das Organ vollständig verschwinden würde, während andere behaupten würden, dass es nur schrumpfen würde"). Der gesamte Text wurde systematisch im Konjunktiv gehalten, um die Verantwortung der Redaktion der Nachrichtenseite im Voraus zu verwässern (während die englische Version, die in Nigeria veröffentlicht wurde, nur den Indikativ verwendete). Das ist zwar ein schmaler Grat, aber er ermöglicht es, Desinformation zu betreiben und gleichzeitig den Anschein zu erwecken, ein seriöses Medium zu sein, das in der Lage ist, seine Fehler einzugestehen. Immerhin ist der zurückgezogene Artikel nicht mehr auf der Bamada-Website abrufbar. Dasselbe gilt für die Wiederveröffentlichungen auf Facebook, die nun teilweise nicht mehr zugänglich sind: Der Text ist verschwommen und mit einem Banner versehen, das besagt, dass es sich um "Falschinformationen" handelt. Darunter verweist ein alternativer Link auf den Artikel der Fakten-Checker von France 24, der eindeutig als "Verifizierungsmedium" [9] gekennzeichnet ist. Es ist zwar immer noch möglich, auf die ursprüngliche Fake News zuzugreifen, aber das erfordert mehrere Klicks und das Lesen eines zweiten Warnhinweises.

Die Widerlegung von Fake News durch Fakten-Checking-Journalismus hat einen Gegenangriff provoziert. In mehreren Facebook-Gruppen zum Thema Zentralafrika (hier und hier) veröffentlichte ein Internetnutzer, der bekannt dafür ist, russische Propaganda weiterzuleiten, am 4. November folgende Nachricht: "In letzter Zeit haben sich französische Medien und Meinungsführer beeilt, die Russen der Verbreitung von 'Fake News' und Propagandabotschaften über den Sexraub in der Zentralafrikanischen Republik zu beschuldigen. Der Mangel an stichhaltigen Beweisen legt jedoch nahe, dass es Frankreich selbst war, das diese Falschmeldung in Umlauf gebracht hat, um dann Russland, seinen Hauptrivalen in Afrika, zu beschuldigen." Die These wurde auch von einem ivorischen Medium aufgegriffen. Durch diese Umkehrung der Desinformation lässt sich das Opfer der Manipulationen zum Täter modifizieren. Dabei handelt sich um eine bewährte Strategie: Prorussische Nachrichtenseiten werfen den Fakten-Check-Medien regelmäßig vor, Falschmeldungen zu verbreiten und Online-Hass zu schüren. Dies erinnert an die Verwendung des Begriffs Fake News durch Donald Trump, der Presseorgane, die seine Lügen, Fehler oder Annäherungen widerlegen, der Desinformation bezichtigt: "You're fake news!" Diese Orwellsche Rhetorik zielt darauf ab, eine  Unterscheidung zwischen wahr und falsch zu verhindern, indem sie Verwirrung stiftet und die öffentliche Meinung polarisiert.

Trotz dieses Gegenangriffs scheint die Desinformationskampagne nur eine begrenzte Wirkung gehabt zu haben. Die verschwörungstheoretische Erklärung für den Sexraub hat wahrscheinlich nur wenige Menschen überzeugt, wie die skeptischen Reaktionen in den sozialen Netzwerken vermuten lassen. Angesichts des Gewichts der Bestätigungsverzerrung in Bezug auf die politische Meinung kann man die Hypothese aufstellen, dass nur Personen, die Frankreich bereits feindlich gesinnt sind, sich der im Artikel vorgebrachten Verschwörungstheorie angeschlossen haben oder zumindest so getan haben, als ob sie sich ihr angeschlossen hätten, um sich besser empören zu können. Abgesehen davon ist das Ziel von Desinformation wahrscheinlich nicht so sehr, zu überzeugen, sondern vielmehr, Aufmerksamkeit zu erregen und von sich reden zu machen. In dieser Hinsicht mag die Operation erfolgreich erscheinen: Die Fake News wurde gleichzeitig auf Französisch und Englisch in der malischen und nigerianischen Presse veröffentlicht; sie wurde in sozialen Netzwerken aufgegriffen und kommentiert; sie wurde von Abteilungen für Fakten-Checking entdeckt und widerlegt, was eine Form der Sichtbarkeit darstellt, selbst wenn sie negativ ist. In Wirklichkeit war die Verbreitung der Falschmeldung und die öffentliche Aufmerksamkeit jedoch relativ gering. Ihre Sichtbarkeit ist künstlich, wie die gefälschten Likes zeigen. Das Teilen und erneute Veröffentlichen erfolgte hauptsächlich durch die manipulativen Akteure selbst. Die Falschmeldung blieb also in der prorussischen Sphäre eingekapselt und fand nicht den Weg in die konventionelleren Medien, die eine Voraussetzung für das Erreichen eines breiten Publikums ist.

Gerücht versus Fake News

Julien Bonhomme ist Anthropologe und Studiendirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er interessiert sich für die Macht des Wortes in der Gesellschaft. Auf der Grundlage von Feldforschungen in Gabun und Senegal befasst sich seine Forschung sowohl mit dem religiösen Wort als auch mit der transnationalen Verbreitung von Gerüchten und der Produktion und Rezeption von journalistischen Informationen. Er ist unter anderem Autor von: Le Miroir et le Crâne. Parcours initiatique du Bwete Misoko (CNRS éditions, 2006); Les Voleurs de sexe. Anthropologie d'une rumeur africaine (Seuil, 2009); L'offrande de la mort. Une rumeur au Sénégal (CNRS éditions, 2017 - mit Julien Bondaz); Le Champion du quartier. Se faire un nom dans la lutte sénégalaise (Mimésis éditions, 2022).

Dies lässt dann auch erahnen, was das ursprüngliche Gerücht über Sexraub von seiner Wiederaufnahme als Fake News unterscheidet. Es handelt sich nicht um einen Unterschied im Medium. Zwar wird das Gerücht durch Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitet, während die Fake News konstitutiv mit den Mitteln der Massenkommunikation verbunden ist, da sie versucht, sich als reguläre Information wie jene der traditionellen Medien auszugeben. Allerdings kann ein Gerücht auch durch die Massenmedien weiterverbreitet werden. Printmedien, Radio, Fernsehen und in jüngster Zeit auch das Internet und soziale Netzwerke bieten einen gewaltigen Resonanzboden für Geschichten über Sexraub. Sie sind somit Schlüsselvektoren für die Verbreitung von Gerüchten. Es ist übrigens kein Zufall, dass die Gerüchte, die in den 1970er Jahren in Nigeria entstanden, erst in den 1990er Jahren im Zuge der Liberalisierung des Kommunikationssektors und des Aufschwungs der sogenannten Populärpresse international bekannt wurden. Die Zeitungen beanspruchen die Thematik des Sexraubs allerdings auch nicht als ihre Erfindung, sondern begnügen sich damit, dem Gerücht und den Vorfällen, die es auslöst, ein Echo zu verschaffen: Die Mediatisierung ist erst der zweite Schritt. Kurz gesagt: Ein Gerücht kann mediatisiert werden, während Fake News per definitionem ein Medienphänomen ist.

Dieser Unterschied hängt mit einem weiteren Unterscheidungsmerkmal zusammen: Die Verbreitung von Gerüchten erfolgt spontan, während Fake News die Absicht zur Täuschung voraussetzt. Das Gerücht ist eine zweifelhafte und ungeprüfte Information, die jedoch in der Regel in gutem Glauben weitergegeben wird. Seine Instrumentalisierung ist möglich, aber wie bei der Mediatisierung von untergeordneter Bedeutung. Das Gerücht über Sexraub wurde manchmal für fremdenfeindliche Zwecke ausgenutzt, z. B. als eine kamerunische Zeitung 1996 titelte: "Die Wissenschaft bestätigt. Die Jagd auf sexraubende Nigerianer ist eröffnet" und damit vor dem Hintergrund des Grenzstreits zwischen den beiden Ländern Hass und Gewalt gegen Nigerianer schürte. Im Gegensatz dazu sind Fake News eine absichtlich falsche oder irreführende Information, die hergestellt und weiterverbreitet werden, um einer ideologischen Sache zu dienen. In dieser Hinsicht ist sie der Propaganda verwandt. Kurz gesagt, ein falsches Gerücht ist meist eine Fehlinformation (also eine falsche Information), während Fake News immer eine Desinformation sind (also eine irreführende Information).

Dies schlägt sich auch in einer unterschiedlichen Verbreitungsdynamik nieder. Das Gerücht verbreitet sich in episodischen Ausbrüchen. Die Synergie von Mund-zu-Mund-Propaganda und Medienberichterstattung trägt zur epidemischen Dynamik von Sexraub bei. Die Vorfälle sind die treibende Kraft hinter dem Schneeballeffekt. Wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung führt die Verbreitung des Gerüchts von selbst zu Vorfällen: Da sie im öffentlichen Raum stattfinden, sind diese Anschuldigungen, Ansammlungen und Gewalttaten Anlass für Zeugenaussagen, die, indem sie ihrerseits zirkulieren (seit einigen Jahren auch durch Videos in sozialen Netzwerken), das Gerücht immer wieder neu entfachen. Diese Zeugenaussagen versetzen das Gerücht auf eine andere Beweisebene als dem bloßen Hörensagen und erhöhen damit die Glaubwürdigkeit. Auch Fake News müssen als vertrauenswürdig gelten und berufen sich daher auf Autoritätsquellen, die jedoch gefälscht sind: falsche Zeugenaussagen und vor allem falsche Experten mit gefälschten Diplomen, falsche Forschungseinrichtungen, falsche wissenschaftliche Studien. Die Desinformation beruft sich auf die Autorität der Wissenschaft, selbst wenn sie diese durch Verfälschung untergräbt.

[10] David Chavalarias, Toxic Data. Comment les réseaux manipulent nos opinions, Paris, Flammarion, 2022.

Trotz dieser Bemühungen, das Wahre zu fälschen, verpuffen Fake News in vielen Fällen ihre Verbreitung bleibt begrenzt, da ihre Künstlichkeit zu offensichtlich ist. Es ist schwierig, die Täuschungsabsicht zu beurteilen, zumal eine Fake News zwar wahrheitswidrig hergestellt, dann aber in gutem Glauben von Dritten weiterverbreitet werden kann. Dies ist im Übrigen das Ziel jeder Desinformationskampagne. Aber solche Erfolge sind wahrscheinlich nicht sonderlich häufig und der Einfluss von Fake News muss wahrscheinlich relativiert werden. Die Fake News über Sexraub legt dies jedenfalls nahe: Die Personen, die sie erstellt haben, haben es versäumt, sie weit über ihre eigenen Kreise hinaus zu verbreiten, da sie kaum mehr als von den prorussischen Akteuren selbst weiterverbreitet wurde. Das Ökosystem des Internets erleichtert die Desinformation (Verbreitung von Nachrichtenseiten, sofortiges Teilen in sozialen Netzwerken, Filterblasen, Trollfabriken usw.) [10]. Es kann aber auch ihre tatsächliche Reichweite einschränken. Eine Fake News, in einer Ecke des Internets entstanden, bleibt dort auch oftmals stecken. Der gefälschte Artikel über Sexraub  hat versucht, von der jüngsten Aktualität des Gerüchts in der Zentralafrikanischen Republik zu profitieren, doch da er zu aufgebauscht und zeitlich versetzt war, gelang es ihm nicht, die spontane Verbreitung im Land wieder in Gang zu bringen. Letztendlich lässt sich sagen, dass ein Gerücht zwar dazu dienen kann, eine Fake News zu produzieren, es aber viel schwieriger ist, eine Fake News in ein Gerücht zu überführen.


Dieser Text erschien erstmals am 8. April 2025 in dem französischen Magazin La Vie des Idées.