Exil als Chance

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Exil als Chance

Gedanken über mein Leben, mein Schreiben und meine Heimaten Syrien und Deutschland
Najat Abed Alsamad
Bildunterschrift
Najat Abed Alsamad 2021

Najat Abed Alsamad  ist eine seit 2016 in Berlin lebende syrische Schriftstellerin, Gynäkologin und Geburtshelferin. Sie stammt aus der syrischen Religionsgemeinschaft der Drusen und hat mehrere Romane, Kurzgeschichten und Gedichte auf Arabisch veröffentlicht. Ihr auf Deutsch unter dem Titel Kein Wasser stillt ihren Durst erschienener Roman wurde 2018 mit dem Katara-Preis für den arabischen Roman ausgezeichnet. Ihre Werke zählen zur syrischen Exilliteratur.

Ich übe zwei Berufe aus: Gynäkologin und Schriftstellerin. Begleitet werden sie stets von einem dritten: dem der Leserin. Dabei stamme ich nicht aus einer Familie von Schriftstellern, Dichtern, Journalisten oder Honoratioren. Ich wurde in eine arme, religiöse Familie hineingeboren. Mein Vater war Maurer und meine Mutter Hausfrau. Sie hatten neun Mädchen und später zwei Jungen. Aber ich gehöre zu einer Generation, die viel gelesen und viel geweint hat. Wenn ich an meinem Arbeitstisch sitze und schreibe, habe ich immer einen Satz von Douglas Adams, dem englischen Schriftsteller und Musiker, im Ohr, wie er mit rauer Stimme sagt: „Schreiben ist ganz einfach. Man muss nur auf ein weißes Blatt Papier starren, bis die Stirn blutet …“

Vor sieben Jahren fand ich mich in Deutschland wieder, einem großen und schönen Land, aber etwas fehlte mir: Es war nicht mein Heimatland. Ich kam in der Mitte meines Lebens hier an, gezwungenermaßen. Ich weiß nicht, ob ich es Exil oder Diaspora nennen soll, aber in beiden Fällen wurde aus Syrien, das immer „hier“ gewesen war, „dort“.

Von meinen ersten Tagen an in Berlin, mit aus der Not geborenem improvisatorischem Schwung und nachdem ich Kostüm, High Heels und aufgestylte Frisur hinter mir gelassen hatte, war es mir zur Gewohnheit geworden, in Sportkleidung und Turnschuhen herumzulaufen, mit einem Rucksack auf den Schultern, der meine neuen Papiere, eine Flasche Wasser, ein Sandwich mit Schwarzbrot und Käse und das Rezept für Geduld mit dem enthielt, was gerade im Leben einer Frau passiert war, die plötzlich allein war, fremd und schwächer als je zuvor.

Ich bin stundenlang, tagelang durch Berlin gelaufen, durch Straßen und Wälder, allein, allein, allein. Ohne Familie um mich, ohne Freunde, ohne Erinnerung, die mich mit dieser fremden Hauptstadt verbunden hätte. Ich bin hier nicht geboren, nicht aufgewachsen und habe mich hier kein erstes Mal verliebt, habe meine Kindheit und Jugend nicht hier verbracht und bin nie mit klopfendem Herzen mit dem, in den ich verliebt war, durch enge Gassen spaziert.

Trost fand ich bei Bäumen, Blumen und den Vögeln und Bienen, hoch oben am Himmel bei den Wipfeln. Ich beobachtete die Hunde, die von ihren Besitzern verwöhnt wurden, und ließ meinen Blick auf den Gesichtern von älteren Menschen ruhen, die das hohe Alter nicht fürchteten. Ich atmete eine Luft, die weder durch Angst noch durch Hunger oder die auf der Straße nächtigenden Bedürftigen vergiftet war; eine Luft, die weder durch die Brutalität von Diktaturen noch durch religiösen Extremismus oder Unsicherheit verunreinigt war. Das Land Syrien war weit weg – das Land, das der Tyrann gnadenlos zersplitterte und dessen Kinder er in alle Winde zerstreute. Andere sind noch immer dort und rennen nach Atem ringend nach nur einem Hauch von Sicherheit, einem Stück Brot, einer winzigen Kerze, die eine endlose Nacht erhellt ; oder sie sind verschwunden im Dunklen der Gefängnisse, tot unter der Erde, oder sie bilden sich ein, als Märtyrer in den Himmel aufzusteigen, wenn sie nicht hier unten sind, am Leben, aber amputiert, ohne Arm, Auge, Bein, Niere, Hoffnung – oder verzweifelt auf der Suche nach einem Lichtblick, ein wenig Wärme oder einer Botschaft, die ihnen ein Visum erteilt, und sei es nur für das Bermudadreieck.

Ich bin dem entkommen, aber befinde mich im Exil. Ich habe geweint, denn auch in meinem Heimatland ging es mir nicht gut. Die Titelseiten der Bücher, die ich geschrieben habe, erscheinen vor meinem geistigen Auge. In Syrien wurden sie nicht veröffentlicht, genauso wenig wie ich einen einzigen Artikel in der syrischen Presse platzieren konnte. Alle wurden als Ausländer außerhalb Syriens geboren und durften nicht einreisen, wie jede Form der freien Meinungsäußerung, des Lesens oder Schreibens in Syrien. Aber meine Bücher haben ihren Weg zu Lesenden gefunden. Durch sie lerne ich, meinen eigenen Weg zu gehen zu dem, was ich will.

Ich rief die Figuren in meinen Romanen an: „Habe ich euch nicht das Leben geschenkt und in eurem Exil Wege der Rettung eröffnet? Jetzt seid ihr an der Reihe, mir zu helfen, kommt und lehrt mich, nicht zu fallen.“
Und sie kamen und flüsterten mir zu, was sie gelernt hatten: „Das Exil kann auch eine große Chance sein, ein Land der Vorsehung, das dich auf andere Weise wieder aufbaut. Du bist in Sicherheit, und solange dein Geist gesund bleibt, ist es immer möglich, die Lust am Leben wiederzufinden. Der einzige Ort, an den du gehen kannst, ist die Zukunft!“
Ich verstaute meine Vergangenheit vorübergehend im Dachstübchen meines Gedächtnisses und richtete meinen Blick nur noch nach vorne und nach oben. Dort, dort oben und dort vorne, werde ich mich von Grund auf neu aufbauen – oder sogar von etwas weniger.

Und da ich mit meinem Wissen, meiner Lektüre, meiner Erfahrung und meinem Beruf als Ärztin – den Ibn Chaldūn als „den ehrenwerten Beruf“ bezeichnete – nach Deutschland kam, habe ich mich auf Deutsch umgestellt. Wie ein Schulmädchen meldete ich mich an einer Sprachschule an, legte dort Prüfungen ab und sprach schließlich die Landessprache. Während ich mich um die Anerkennung meines Medizinstudiums kümmerte, arbeitete ich als Sozialarbeiterin, bis ich schließlich wieder als Ärztin praktizieren konnte. Ich managte mein Leben in meiner neuen Gesellschaft, ging erhobenen Hauptes und sah mit eigenen Augen, wie sich der Blick auf mich veränderte: von Nächstenliebe zu einer gleichberechtigten Beziehung und zum Respekt eines Menschen für einen anderen.

Aber das Exil ist für diejenigen, die es nicht kennen, ein kleiner Tod. Und selbst wenn man dort lange lebt, wie ich, bleibt es ein unmöglich zu überwindender Schmerz – den man nur durch Erinnerung und Sprache bekämpfen kann. Das Schreiben ist zu meiner Ersatzheimat im Exil geworden.

Ich dachte, die Vergangenheit würde verblassen, sich auflösen, sterben; aber die Jahre des Exils vergehen, und diese Vergangenheit verblasst nicht, sie stirbt nicht. Mein kleines Heimatdorf verlässt mich nicht: „Al-Douwayra“ im Dschabal al-Arab, „Al-Rayyan“ im Gouvernement Sowaida im Süden Syriens, wohin mein Großvater väterlicherseits vom Berg Sheikh im Westen Syriens ausgewandert war, auf der Suche nach einem Land, das Brot ohne Erniedrigung bietet. Vor ihm war sein Großvater aus dem Chouf-Gebirge im Libanon ausgewandert, aus dem unsere Familie stammt. Eine Gebirgskette, in der Generationen von Menschen geboren wurden, die von einem Gipfel zum anderen gezogen sind, im Zuge von Sektenkriegen oder Kriegen um Brot, und die darum kämpften, sich in diesen Bergen zu verankern und ihren eigensinnigen Charakter anzunehmen.

Mein Großvater väterlicherseits war als alter, blinder und tief frommer Mann in den Dschabal al-Arab ausgewandert. Er wurde von meiner ebenfalls älteren Großmutter und einem zwölfjährigen Jungen, Hussein, begleitet, ihrem einzigen Sohn aus einer späten Ehe. Er war es, der Jahre später mein Vater wurde.

Schon als Kind musste Hussein auf seine Eltern aufpassen. Er wuchs ebenso fromm auf wie sie und lernte die Bücher der Weisheit (die religiösen Schriften der Drusen) auswendig, die unserer Zugehörigkeitsgemeinschaft, genauer gesagt der Gruppe der Ajaouid, die in ihrem Glauben streng waren. Er lernte bald das Maurerhandwerk und wurde ein versierter Kalligraph, der die Bücher der Weisheit geschickt von Hand kopierte, sie selbst einband und die Einbände mit Mosaiken verzierte, die denen der Umayyaden-Moschee in Damaskus ähnelten, sodass die Werke aussahen, als kämen sie aus den Druckwerkstätten der alten Meister. Hussein verkaufte sie und sorgte mit dem Geld für den Lebensunterhalt seiner Eltern.

Von meinem Vater habe ich Dreifaltigkeit geerbt: Armut, harte Arbeit und Ehrgeiz. Ich war sechs Jahre alt, als mein Vater beschloss, nach Sowaida zu ziehen, wo es mehr Arbeitsmöglichkeiten gab. Dort kaufte er ein kleines, abgelegenes und natürlich billiges Grundstück, das er urbar machte, und baute uns dann ein schlichtes Haus.

Wir pflanzten Bäume und Gemüse an, die zwei Ernten im Jahr einbrachten, eine im Sommer und eine im Winter. Dann kaufte er zwei Kühe, und wir Töchter waren es, die den kleinen Hof umtrieben, der dank unserer Bemühungen so viel abwarf, als wäre er fünfmal größer. Zu Hause gab es keinen Strom. Wir lernten, früh aufzustehen. Meine Schwester und ich melkten die Kühe, bearbeiteten den Boden, machten den Haushalt und liefen dann etwa einen Kilometer zur Schule. Im Winter sickerte Regen oder Schnee in unsere billigen Stiefel, unsere Füße froren vor Nässe und Kälte, aber das war uns egal: In der Schule erwarteten uns die Geschichten unserer arabischen Sprache, ihre Lieder und ihre Lektionen in Naturwissenschaften. Ihr Ruf wärmte uns bis zu unserer Ankunft.

Wir Mädchen bewegten uns in einer Reihe hintereinander wie die Perlen eines Rosenkranzes. Wir waren neun Schwestern und unsere Eltern warteten noch auf einen männlichen Erben. Mein Vater erzog uns mit der gleichen Frömmigkeit, die auch im eigen war. Und die religiösen Regeln verurteilten die öffentlichen und säkularen Schulen: Diese Schulen lenken von der Anbetung Gottes ab und führen zum Polytheismus. Die Söhne und Töchter frommer Männer durften sie nur so weit besuchen, dass sie lesen und schreiben lernten. Danach erlernten die Jungen einen Beruf, und die Mädchen widmeten sich der Hausarbeit, bis sie an der Reihe waren, zu heiraten.

Und die Religion hatte nicht unrecht, wenn sie die Folgen von Bildung für Mädchen fürchtete, nämlich die Erweckung ihres Geistes. Jeden Tag liehen wir uns aus der Schulbibliothek Bücher aus, die wir gegen zwei Geldstücke verpfändeten – unser gesamtes Taschengeld zum Kauf eines kleinen Sandwiches oder von Süßigkeiten für die Schule. Aber die Geschichten zogen uns mehr an als die Süßigkeiten. Sie waren unser Schlüssel zur Welt; wir Mädchen, die wussten, dass wir aus dem Paradies der Schule gerissen werden würden, sobald wir die Buchstaben entziffert hatten, und noch vor unserem fünfzehnten Lebensjahr verheiratet werden würden, um Kinder zu gebären und das Leben unserer Väter zu wiederholen ...
Aber das Lesen hatte unseren Geist schon geformt, sodass er nicht mehr von unseren Vätern geknetet werden konnte.

Wir haben mehr in der Welt der Geschichten gelebt als in unserer realen Welt. Das Lesen brachte uns viel weiter als das, wozu uns unser unausweichliches Schicksal bestimmt hatte. Neben den Geschichten, die mir meine Großmutter mütterlicherseits erzählte, wuchsen wir mit der Zeitschrift „Osama“, der Serie der Grünen Bibliothek, Dar al-Ilm lil-Malayin, Khalil Gibran, Mikhail Naimy, den Romanen von Nagib Mahfuz und Hanna Mina, den Romanen der europäischen Renaissance, der sowjetischen Literatur und später der amerikanischen, lateinamerikanischen, japanischen und chinesischen Literatur auf...

Wenn wir uns zu Hause stritten und beleidigten, wie alle Kinder, nannte die eine die andere „Shylock im Kaufmann von Venedig“, und wenn die eine sich wieder versöhnen wollte, entschuldigte sie sich wie folgt: „Du bist nett wie Cosette von Victor Hugo, oder bezaubernd wie Esmeralda, die von Quasimodo geliebte Zigeunerin, oder weise wie Hind bint an-Nu'man, oder schön wie Marilyn Monroe, die Geliebte von Kennedy ... “.

Ich las heimlich und ohne das Wissen meiner Familie, die in einem einzigen Raum lebte, der mit einem Ofen beheizt wurde, während es draußen schneite und der Wind wehte. Unter dem Kissen, in dem ich den Roman versteckte, riefen mich die Stimmen der Feen, mit einem Auge einen Blick darauf zu werfen, während das andere Auge meinen Vater beobachtete, um sicherzugehen, dass er beschäftigt war und meine geheime Sünde nicht entdeckte. Eines Tages vergaß ich ein Buch von Ghassan Kanafani auf dem Regal, in dem ich meine Kleidung aufbewahrte – ein offenes Regal, da wir keinen Kleiderschrank hatten. Mein Vater sah es und wurde wütend: „Jede andere Lektüre als religiöse Schriften wird dich in die Hölle und zu einem elenden Schicksal führen.“ In dieser Nacht starrte ich, in mein Bett versunken, an die Decke, wo die Feuchtigkeit und die Ränder durch das Regenwasserleck willkürliche Formen gezeichnet hatten. Ich erkannte das Bild eines bärtigen Mannes mit Turban, den ich mir als den Gott meines Vaters vorstellte und der seine Hände ausstreckte, um mich zu erwürgen.

In den Haushalten frommer Drusen war Fernsehen verboten. In unserem Haus gab es nur ein Radio, das meinem Vater vorbehalten war. Er benutzte es nur, um Nachrichten und Wetterberichte zu hören. Wenn er nicht da war, nahm ich das Radio aus dem Regal und lauschte Nachrichten, Kultursendungen, Spielen und neuen Ereignissen aus aller Welt. Als ich noch recht klein war, wusste ich bereits, was die beiden Blöcke – der kapitalistische und der sozialistische – waren und was die Bewegung der blockfreien Staaten bedeutete.

Wer kann schon mit den Träumen eines Kindes konkurrieren, das mit einer Leidenschaft für Wissen aufwächst?

Ahnte mein Vater meine Ambitionen, die wie kleine Wellen langsam anschwollen? Er, der nichts unversucht ließ, um mich von Büchern abzubringen, die in mir die Begierde nach Wissen weckten, und der hoffte, mich davon zu überzeugen, mich nur in religiöse Lektüre zu vertiefen, damit ich mich damit abfinden würde, Gottes Willen und Gesetz zu akzeptieren?

Nach der Grundschule wurde ich nicht aus dem Schulparadies verwiesen. Da ich eine brillante Schülerin war, setzten sich bei meinem Vater Jahr für Jahr die Lehrerinnen für mich ein, bis ich mein Abitur machte. Dann begann der eigentliche Kampf. Ich hatte die Berechtigung, Medizin zu studieren. Allerdings befand sich die Universität in Damaskus, und die religiösen Regeln besagten, dass „eine Frau nur im Notfall und in Begleitung eines Mahrams reisen sollte“. Die patriarchalische Gesellschaft hatte diese Regel sogar noch weiter verschärft: „Eine Frau darf nicht weiter reisen als bis dorthin, wo ein angebundenes Huhn hinkommt.“ Und mein Vater wollte nicht gegen die religiösen Gebote verstoßen. Ein erleuchteter Scheich erteilte ihm eine bahnbrechende Fatwa: Er könne den anderen Scheichs entgegentreten und sie zum Schweigen bringen, indem er argumentierte, ich würde Ärztin werden und ihre Frauen untersuchen und sie so davor bewahren, sich vor Männern entblößen zu müssen. Durch diese Tür ging er, und in meinen Augen war das eine zutiefst revolutionäre Geste!

Ich absolvierte mein erstes Jahr an der medizinischen Fakultät der Universität Damaskus und erhielt ein Stipendium, um mein Medizinstudium in der Sowjetunion fortzusetzen. Es war mir unmöglich, dieses Thema mit meiner Familie zu besprechen. 

Natürlich unterstützte mich kein Lehrer, kein Onkel und kein aufgeklärter Scheich bei meiner Entscheidung. Es hieß, ich hätte eine Grenze überschritten und schade der sozialen und religiöse Stellung meines Vaters. Selbst meine Mutter kam mir nicht zu Hilfe: Sie war von ihren eigenen Qualen überwältigt, sorgte sich um das Ansehen meines Vaters und wollte uns junge Frauen so schnell wie möglich verheiraten.

Doch ich hatte einen großen Traum, gespeist aus Büchern und den Geschichten, die mir meine Großmutter mütterlicherseits erzählte – diese außergewöhnliche Frau, der ich vom Aussehen und Empfinden her ähnle und die mir die Berufung zur Ärztin und Geschichtenerzählerin vererbt hat. Sie war eine Frau von seltener Weisheit, die im Schatten gelebt hatte, weit weg vom Rampenlicht, und dennoch organisierte sie in Vollzeit mit Geschmack, Diskretion und ohne viel Aufhebens das Leben im Dorf und auf dem Hof vom Hinterzimmer aus. Sie war die „Daia“ des Dorfes. Wir wurden alle in ihren Händen geboren – wir, ihre Enkelinnen, und alle Kinder des Dorfes. Einmal im Monat trug sie auf ihrem Rücken zwanzig Kilo Lebensmittel für meine Onkel in die Stadt, wo sie studierten. Sie erzählte uns ihre Geschichten, während sie Wolle spann, Teppiche von Hand webte oder für uns Tonkrüge formte, in denen das Wasser nach Erde schmeckte ...

Ihre Stimme wiegte mich in den Schlaf, wenn sie die Epen der Helden des Großen Syrischen Aufstands, Volksgedichte, die Geschichten des Propheten Hiob, von Joseph, Dhu al-Nun al-Basri, Rabia al-Adawiya sowie von arabischen Prinzen und ihren Geliebten erzählte: Hamda und Muhammad, Antar und Abla und viele andere ... Sie erzählte mit klarem Verstand, einem Gedächtnis, aus dem es nur so floss, und mit einer theatralischen Diktion, der viele professionelle Geschichtenerzähler nicht das Wasser reichen konnten. Ihre Erzählungen machten die Liebe zur Religion, den Mut zum Ehrenkodex, die Entschlossenheit zum Prinzip und die Aufrichtigkeit zur Pflicht; sie lehnten Ungerechtigkeit ab, verurteilten die Lüge und die Lügner und propagierten den Sieg der Wahrheit über die Lüge.

Und auch wenn das, was meine Großmutter erzählte, manchmal Mythos, Utopie oder reine Fantasie war, so war es doch eine getreue Version dessen, was wir in Kinderbüchern zu lesen bekamen, die von Erziehern geschrieben waren. Jene Welt, die meinen kindlichen Geist anregte, Fragen zu stellen: „Wenn ich die Wahl hätte, auf welcher Seite würde ich stehen?“ Das waren meine Fragen schon als Kind, das sich für Märchen begeisterte – und sie begleiteten mich auch, als ich Ärztin und Schriftstellerin wurde. Ich war beseelt von den Feen des geschriebenen Wortes und meinen Kämpfen, allen voran: dem Ringen um Wahrheit, dem Widerstand gegen Unterdrückung, Ungerechtigkeit und jegliche Verletzung der Freiheit und der Menschenwürde.

Zu Zeiten meiner Großmutter wurden Frauen nicht völlig unterdrückt oder gedemütigt. Sie verfügten immerhin noch über etwas Raum, der je nach ihren persönlichen Fähigkeiten mehr oder weniger umfangreich war. Sie mussten ihren individuellen Mut, sogar ihre äußersten Reserven, aufbringen, um sich ein Recht zu erkämpfen, das heute selbstverständlich ist. Mit jedem Schritt, mit blutenden Händen und Füßen, bahnten sie sich ihren Weg und öffneten eine Bresche, wie klein sie auch gewesen sein mochte, um anderen Frauen das Vorankommen zu ermöglichen. Aus der Generation meiner Mutter haben nur wenige Frauen – sehr wenige – lesen und schreiben gelernt; einige wurden Grundschullehrerinnen. In meiner Generation absolvierten weniger als ein Drittel der Frauen ein Universitätsstudium in der Hauptstadt Damaskus und noch seltener in Aleppo. Ich war eine davon und hatte ein ureigenes Projekt, das in meinem Kopf mit der Leidenschaft einer Verliebten und der Geduld einer Mutter heranreifte: Ich würde kämpfen, um diese Regel von der „gefesselten Henne“ zu brechen, koste es, was es wolle. Ich würde losziehen, einen höheren Abschluss machen, die Erfahrung aus der Sowjetunion mitnehmen und sie an mein Land weitergeben – ein Land, das allein durch den Willen seiner Frauen - noch vor dem seiner Männer – wieder auf die Beine kommen kann.

Ich war aller Waffen beraubt, außer diesem insgeheim lodernden Licht in mir, das mich lockte: „Riskiere alles, was du besitzt, um zu lernen, und du wirst den Sieg davontragen.“ Das war mein zweiter Grund.

Mein Bildungsweg war ein täglicher Kampf gegen meinen Vater – wiederholt die reinste Unterdrückung. Wir waren Kontrahenten in dem, was wir lasen. Nachdem wir erschöpft waren, weil keiner von uns nachgegeben hatte, verstanden wir, dass wir in Wahrheit denselben Weg gingen: er zu seinem Gott im Himmel und meine Schwestern und ich zu unserem Gott, dem Gewissen, das in uns wohnt und uns durch Arbeit auf dem irdischen Weg führt. Als wären wir zwei Seiten einer Medaille: Mein Vater, den ich immer umgeben von religiösen Büchern gesehen habe, der mit seinen Händen, mit Schweiß und Mühe diese Familie - diesen Stamm – versorgte. Und der der dennoch immer weiterlas, auch nach der Arbeit.

Zum Individualismus wurden wir nicht erzogen. Im Haus, in der Familie, in der Nachbarschaft herrschte Gruppengeist ... Meine Eltern haben uns nie, was man gemeinhin Zärtlichkeit nennt, geschenkt, sondern uns etwas anderes vermittelt: Sie haben uns gelehrt, dass öffentliche Angelegenheiten auch persönliche Angelegenheiten sind und dass jeder von uns dafür verantwortlich ist. Dass im menschlichen Leben die Arbeit heilig ist. Meine Mutter bewirtschaftete das Land und arbeitete wie mein Vater. Sie kümmerte sich auch um verwitwete oder arme Nachbarinnen. Von meinen Eltern haben wir gelernt, dass Eltern ihren Kindern nicht sagen müssen: „Stehlt nicht, lügt nicht“ - es reichte, wenn sie selbst aufrichtig und ehrlich waren, damit ihre Kinder es auch sein würden.

Die Familie ist unsere erste Institution. Danach kommt die Schule. Sie ist mein dritter Grund.

Bei meinen Reiseplänen unterstützte mich nur meine Großmutter mütterlicherseits. Sie fragte mich: „Fährst du auf Staatskosten in die Sowjetunion? “ Ich antwortete: "Ja. “ Sie sagte: "Dann überlasse deinen Vater mir. Ich werde versuchen, ihn zu überzeugen“.

Meine Großmutter, die Analphabetin war, glaubte instinktiv an die Existenz eines Staates, in dem die Bürger nicht verwaist wären, wenn die Institutionen wirklich funktionierten. Sie glaubte an Bildung, als würde sie ihre eigene Seele nähren und nicht nur ihre Kinder, als sie zwanzig Kilo Lebensmittel für meine Onkel auf ihrem Rücken in die Stadt schleppte. Sie verkörperte, ohne es zu wissen, das Wort des deutschen Philosophen Hegel: „Es ist die Bildung, die die Menschen moralisch macht.“

Meiner Großmutter gelang es nicht, meinen Vater zu überzeugen, ihn zu besänftigen oder auch nur seinen Zorn zu mildern. Aber ihre Haltung beruhigte ein wenig die tausend Dämonen, die mich abwechselnd mit Angst überfielen, als ich schließlich zum Studium aufbrach, begleitet von der Wut meines Vaters und insgeheim dem Vorsatz: Ich werde ihn nicht enttäuschen, wenn er mir nur ein paar Jahre Zeit ließe!

Ich hielt mein geheimes Versprechen gegenüber meinem Vater. Sein Gesicht und seine rissigen Hände waren mir Ansporn, mit aller Kraft zu studieren, bis ich schließlich Ärztin wurde. In meinem letzten Studienjahr erlebte ich den Zusammenbruch der Sowjetunion, dieses Regimes, das seinem Volk Bildung, Wohnung, Pflege und Arbeitsplätze garantiert hatte, ihm aber die Freiheit, für sich selbst zu wählen, genommen hatte. Es stimmt zwar, dass man ohne Brot nicht leben kann, aber ohne Freiheit!

Ich kehrte zurück und arbeitete 25 Jahre lang in meinem Land, in meiner Praxis und in Krankenhäusern, in der Geburtshilfe und in der Gynäkologie. Meine Praxis war mein Fenster zur Realität, zum unteren Ende unserer Gesellschaft, wo sich religiöse und väterliche Macht paaren, um Frauen und Mädchen daran zu hindern, etwas anderes zu tun als das, was jene verordnet. Und über all dem stand noch die despotische Macht, die alle unterdrückt.

Mein Beruf nahm meine gesamte Zeit in Anspruch, ich las so viel wie möglich und mein Geist hörte nicht auf zu sprudeln. Es schäumte ständig in meinem Kopf, bis ich mit vierzig Jahren begann, meinen ersten Roman zu schreiben. Er handelte davon, dass die Männer unseres Landes gezwungen waren, ins Exil zu gehen, um ihr Brot zu verdienen, von den Leiden der Frauen, die allein zurückblieben, und von den Kindern, die ihrer Väter beraubt wurden. Auch von den jungen Leuten, die einen Universitäts- oder Hochschulabschluss haben und alles tun, um ein Arbeitsvisum am Golf oder in Libyen zu erhalten. Denn für Arbeitslose gab es in ihrem eigenen Land keine Würde. Von ihnen stammt die Idee zu meinem ersten Roman Bilad al-Manafi (Länder des Exils).

Ich reiste mit meinem Manuskript nach Beirut zum Verlag Dar al-Rayyes. Was hatte auch mich dazu bewogen, Syrien zu verlassen und zu diesem berühmten libanesischen Verlagshaus zu gehen? Ich war nicht allein. Syrische Schriftstellerinnen und Schriftsteller flohen vor der Zensur, die jedes freie, kritische und konstruktive Denken erdrückte. Aufgrund dessen entstanden meine acht Bücher – Kinder des Exils.

2011 brach die syrische Revolution aus. Das Regime schlug sie mit allen Mitteln nieder: Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, explosive Fässer, chemische Waffen gegen zivile Wohnviertel. Wir haben Widerstand geleistet. Ich engagierte mich in der humanitären Feldhilfe, in Workshops zur Stärkung von vertriebenen Frauen und dokumentierte schreibend, was geschah. In diesem Klima des Terrors schrieb ich drei Bücher: Syrische Guernicas, In der Zärtlichkeit des Krieges, Heimat der Vaterländer. Angst und Mut gingen Hand in Hand und leiteten mich an, den Schrecken der politischen und sozialen Ungerechtigkeit anzuprangern, die Männer und Frauen seit langem betraf, sich aber durch den Krieg noch verschlimmerte. Neben dem Leiden unter der patriarchalen Autorität litten die Frauen mehrfach weiter. Alle Lebenswege kreuzten sich in der Frau, die zum Opfer von Diktaturen, Kriegen, Exil und Männlichkeit wurde. Die Frauen teilten in ihren Schicksalen denselben Schmerz, in der ganzen Vielfalt ihrer persönlichen Verletzungen: jene, deren Körper, Herz und Seele durch die Kriege vergewaltigt wurden; jene, die ein Auge, eine Hand, ihre Jungfräulichkeit oder ihr Kind verloren; jene, die verwitwet waren, ihrer Kleidung oder ihren Häusern verbrannt wurden. Sie haben sich nicht damit abgefunden, bloße Opfer zu sein, sondern haben nie aufgehört, zu versuchen, sich aus ihrer Tragödie zu erheben.

Der Krieg dauerte länger, er wurde intensiver, und wir alle begannen langsam zu sterben. Ich behandelte die Frauen mit Medizin und kurierte meine Schmerzen durch das Schreiben, durch die Kunst. Sie allein kann uns in dieser Zeit des allgemeinen Todes noch am Leben erhalten. Ich zog mich in mich selbst zurück, um diese alte Last abzulegen und meinen Roman Kein Wasser stillt ihren Durst, weit weg vom Inferno zu schreiben. Ich schrieb und schrieb, gab mich den Qualen des Schreibens hin, protestierte, schrie, enthüllte mich, ging in mein Innerstes, um das zu finden, was dort schlummerte, linderte meinen Schmerz, beglich eine alte Rechnung mit meiner wahnsinnigen Liebe zu Soueida, meiner Stadt, zu dem Dorf Douayra, in dem ich geboren wurde. Meine Verbundenheit mit seinen schwarzen Steinen, seinem seltenen Wasser, seinen tausend winzigen Details in seinem engen Raum ... Ich riss sie aus meinem Kopf und legte sie, eine nach der anderen, auf die Tasten meines Computers. In der Hoffnung, wieder gesund zu werden und in die Ferne zu ziehen, wenn mein Leben dort nicht mehr sicher war.

Kein Wasser stillt ihren Durst

Najat Abed Alsamad | Kein Wasser stillt ihren Durst (aus dem Arabischen von Larissa Bender) | edition faust | 288 Seiten | 24 EUR

Mit dem Blut auf meiner Stirn schrieb ich Kein Wasser stillt ihren Durst und ging.

Ich habe den Katara-Preis in Berlin erhalten. Aber meine eigentliche Auszeichnung hatte ich schon vorher erhalten, durch das, was Kritiker über das Buch sagten und Leser schrieben. Männer berichteten, wie ihr Charakter weicher geworden war, wie sich ihr Verhalten gegenüber ihren Frauen und Kindern nach der Lektüre verändert hatte. Und viele Frauen schrieben, dass sie sich in den Figuren wiedererkannt hätten, dass sie sich weniger einsam gefühlt hätten, als sie gedacht hatten. Sie sind also unsere Leser: unsere unbekannten Freunde, die stillen Zeugen, die in unserem Kopf wohnen, wenn wir einen Roman schreiben. Durch das Schreiben und Lesen ergänzen wir uns gegenseitig; wir kommunizieren durch Vernunft, durch abgewogene Worte, die das Chaos der Konzepte und Werte ordnen. All dies geschieht inmitten der Freude an einer sorgfältig konstruierten Geschichte, in der Hoffnung, das Schönste im Menschen zu erwecken, ihn dazu zu bringen, seinen eigenen Traum zu verwirklichen, für das Leben zu kämpfen, nicht für den Tod.

Genau das tut der Roman: ein plötzliches Eindringen in die Intimsphäre der Leser, eine Läuterung der Instinkte, ein Erwachen des Willens, ein sich abzeichnendes Ziel. Ein paralleles Leben, getragen von der Schönheit der Form und der Tiefe der Bedeutung; ein neues Licht auf die Verbindung zwischen Mensch und Existenz; eine Enthüllung der Unterseite der Welt und ihrer Qualen; eine Erhebung der irdischen Welt, um sie weniger hässlich und weniger ungerecht zu machen; eine unerschöpfliche Quelle für die Menschen, damit sie nicht aufhören zu träumen, ihre Träume ausloten, sich mit aller Kraft an sie klammern und dank ihnen aufsteigen.

So ist der Roman: ein Akt der Treue zur Schönheit, ein Geschenk für die Trauernden, eine Schulter, die uns entgegenkommt, wann immer sie uns allein sieht. Es ist eine weiße Revolution, langsam und tiefgreifend, die letztendlich eine Veränderung herbeiführen wird, wenn auch mit der Zeit...

In meinem Exil verfolgte ich weiterhin den Weg der Fiktion, wobei der letzte Roman, Der Faden des Pendels, in Berlin entstand. Er entstand aus meiner doppelten Berufung: der Medizin und dem Schreiben. In ihm erkunde ich das Leben einer Gynäkologin und das Thema Mutterschaft. Und schon ertappte ich mich wieder dabei, wie ich über die Probleme unseres syrischen Volkes und auch über Frauenfrage schireb – allerdings aus einem anderen Blickwinkel. Ich richtete mich ebenso an mich selbst wie an die Welt, insbesondere an die Jugend, vor allem die Jugend in Syrien, die von ihr nur die Fratze des Krieges kannte. Diese Jugend hat das Recht zu wissen, dass es eine Zeit der Schönheit gab und immer noch gibt, ein wunderschönes Land mit einer langen Geschichte – und dass diese Zeit wiederkommen wird.

Beim Schreiben wurde mir nach und nach klar, dass das Exil mir nicht nur viel genommen, sondern auch so viel gegeben hat. Es war, als hätte ich erst Tausende von Kilometern zurücklegen und nach Deutschland kommen müssen, damit ich mich endlich mit meinem Innersten auseinandersetze, darin grabe, meine Wurzeln wiederfinde und mich selbst entdecke – als Mensch und als Frau. Hier habe ich begriffen, dass Trauer und Freude persönliche Erfahrungen sind; dass mein Schmerz, egal ob der einer einzelnen Person oder der einer Syrerin, nicht der größte oder einzige auf dieser Welt ist. Ich begann, mich für das Menschliche zu interessieren, für das Leid der Menschen überall auf der Welt, die alle eine Nabelschnur miteinander teilen, die in dem einen Schmerz wurzelt, den fehlende Gerechtigkeit hervorbringt.

Als Mensch und als Frau werde ich nie aufhören, von Gerechtigkeit zu träumen und nach ihr zu streben. So sein, wie ich sein möchte, und nicht das, was die Behörden – wer auch immer sie sein mögen – aus mir machen wollen. Meine Söhne und Töchter mit Respekt vor der menschlichen Person erziehen, damit die Würde zu einem natürlichen Recht für Männer, Frauen und Kinder wird. Ich möchte eine Welt ohne Krieg – nicht mit meinem Leben oder dem meiner Kinder für Konflikte bezahlen müssen oder durch Krieg auf die Probe gestellt werden, um herauszufinden, wie sehr er mich verletzen kann und inwieweit ich überleben kann. Ich möchte als bewusste, verantwortungsvolle Frau leben, die glücklich ist, ihre kleinen, gewöhnlichen, menschlichen Erfahrungen machen kann, ob in meinem Land oder anderswo. Ich will aus freien Stücken nach Deutschland kommen und hier leben, nicht aus Zwang.

Heute ist das Assad-Regime in meinem Land gestürzt. Ich kann mich entscheiden, ob ich im Ausland bleibe oder zurückkehre. In beiden Fällen werde ich weiterhin das tun, was ich immer getan habe: voranschreiten und die Schriftstellerei als Heimat wählen.