Das afrikanische Theater und die westlichen Klassiker

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Das afrikanische Theater und die westlichen Klassiker

Zwischen Widerstand und kreativer Aneignung: Wie afrikanische Künstler den westlichen Theaterkanon transformieren, um kulturelle Selbstbestimmung und neue Ausdrucksformen zu schaffen
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Hamed Ben Mohamed Mahdawi

Hamed Ben Mohamed Mahdawi ist ein tunesischer Schriftsteller und Kulturkritiker mit einem Bachelor-Abschluss in arabischer Sprache und Literatur. Der ehemalige Kulturjournalist arbeitet im Bereich Theater und darstellende Künste und hat durch seine Berichterstattung über Festivals und kulturelle und künstlerische Veranstaltungen zur Sichtbarkeit zeitgenössischer Kreativität beigetragen.
Er hat Forschungsartikel und Rezensionen in arabischen Fachzeitschriften und auf Kulturplattformen veröffentlicht, wobei sein Schwerpunkt auf Theater, Literatur und bildender Kunst liegt. Sein besonderes Interesse gilt der Beziehung zwischen künstlerischem Ausdruck und sozialen und intellektuellen Veränderungen.
Mahdawi ist Autor des Gedichtbands Je chante la prospérité de l’oreiller de Cioran (Ich besinge den Wohlstand von Ciorans Kopfkissen).

Der westliche Theater-Kanon , d. h. die Gesamtheit der großen Theatertexte, die historisch als der Gipfel dramatischer Kunst gelten (z.B. die Werke von Shakespeare, Aischylos, Molière und anderen), ist für bestimmte afrozentristische Denker, die Kultur und Kunst aus einer afrikanischen Perspektive interpretieren wollen, eine Quelle großer Unzufriedenheit, die massiven Widerstand hervorrufen. Sie sind der Ansicht, dass dieser westliche Kanon  ungerechte Maßstäbe für die Beurteilung neuer Theaterstücke des afrikanischen Kontinents erzeugt, die dadurch von einem Kriterienkatalog bewertet werden, der ihrem kulturellen und historischen Kontext fremd ist.

Einige Theoretiker gehen sogar so weit, die vollständige Abkehr von diesem Kanon zu fordern und stattdessen Formen und Darstellungsweisen zu entwickeln, die tiefer mit  afrikanischen Erfahrungen korrelieren, seien es Rituale, Volkslieder oder mündliche Erzählweisen, die authentischer sind und mehr den sozialen und kulturellen Realitäten Afrikas entsprechen.

Dieser Text plädiert jedoch dafür, den westlichen Kanon zu assimilieren und für andere Zwecke wiederzuverwenden (Aneignung und Umwertung), d. h. es nicht als ein von außen aufgezwungenes europäisches Modell zu behandeln, sondern als Material, das transformiert und an die kulturellen, politischen und kreativen Bedürfnisse Afrikas angepasst werden kann. Aneignung bedeutet nicht Kapitulation, sondern vielmehr die Umsetzung eines kritischen und kreativen Aktes, der westliche Texte in Ausdrucksmittel für Fragen afrikanischer Identität verwandelt. Die Wiederverwendung für andere Zwecke bezeichnet die Übertragung dieses Kanons weg von seinen ursprünglichen Funktionen (die in europäischen Kontexten verankert sind) hin zu neuen Funktionen, die den Anforderungen und Fragen des afrikanischen Publikums entsprechen. In diesem Zusammenhang kann man auch die Rolle der kulturellen Hybridität und des doppelten Bewusstseins bei der Ausrichtung dieses kreativen Prozesses beobachten.

Dieser Prozess kann durch verschiedene Modelle umgesetzt werden, die von der Neufassung westlicher Texte in einem afrikanischen Kontext über die Anwendung traditioneller afrikanischer Interpretationsweisen auf klassische westliche Texte bis hin zur Neuinterpretation des europäischen Erbes aus einer postkolonialen Perspektive reichen. Dies eröffnet einen kreativen Horizont, der über die traditionelle Dualität zwischen „dem Westen” und „Afrika” hinausgeht und es ermöglicht, die metaphysische und rituelle Dimension der Originaltexte wiederherzustellen.

Das Modell der kreativen Transposition

Das erste Modell ist allgemein als Transposition bekannt, während einige amerikanische Forscher es als „schwarzen Orpheus” (Black Orpheus) bezeichnen. Dieser Begriff verweist auf eine wichtige kulturelle und historische Referenz: Er wurde vom französischen Philosophen Jean-Paul Sartre in seinem berühmten Essay Orphée Noir (1948) verwendet, in dem er die Anthologie des senegalesischen Dichters Léopold Sédar Senghor vorstellte, die afrikanische Poesie als eine neue Stimme des westlichen Erbes betrachtete und ihren einzigartigen Charakter proklamierte. Dieser Name wurde dann 1957 in Nigeria von einer von Ulli Beier gegründeten Literaturzeitschrift mit dem Titel Black Orpheus aufgegriffen, die in der Folge eine wichtige Plattform für die Verbreitung moderner afrikanischer Literatur und die Neubetrachtung ihrer Beziehung zum Westen darstellte. In der Theaterwissenschaft bezieht sich der Begriff heute auf die Neuschöpfung westlicher Klassiker in einem afrikanischen Kontext.

Dieses Modell basiert also darauf, dass afrikanische Dramatiker afrikanische Entsprechungen zu klassischen westlichen Werken erfinden, wobei eine homothetische Entsprechung zwischen den Figuren, Orten und dramatischen Strukturen besteht. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist das Stück The Gods are Not to Blame von Ola Rotimi, eine Adaption der berühmten Tragödie König Ödipus von Euripides. Rotimi hat die ursprüngliche Struktur fast vollständig beibehalten: Ödipus wurde zu Odewale, die Handlung wurde von Theben nach Kutuje verlegt, und alle Namen wurden durch ihre Entsprechungen in der Yoruba-Kultur ersetzt.

Durch diese Umgestaltung wird das griechische Erbe zu einer einfachen kulturellen Metapher oder einem symbolischen Rahmen, der in einem afrikanischen Kontext wiederverwendet wird, während ein neuer Text entsteht, der sich mit aktuellen afrikanischen Fragen befasst, sich jedoch in seiner Grundstruktur weiterhin auf die dramatischen Grundlagen der griechischen Tragödie stützt. Die westlichen Klassiker werden so in eine afrikanische Form gegossen und zu einem Medium, um Fragen der Identität und des Schicksals auf dem Kontinent zu hinterfragen, und sind damit weit davon entfernt, einfach nur ein fremder Text zu sein.

Welcome Msomi präsentierte sein berühmtes Stück uMabatha, das 1971 im Freilichttheater der Universität von Natal uraufgeführt wurde, nach derselben Logik wie das „Black Orpheus”-Modell. Das Stück basiert auf William Shakespeares Macbeth, verändert jedoch den räumlichen und zeitlichen Rahmen, sodass es im Zulu-Königreich des 19. Jahrhunderts unter der Herrschaft von Shaka und Dingane spielte. So wurde Banquo zu Bhangane, Lady Macbeth zu Kamandonsela, König Duncan zu Dangane und der Thane von Cawdor zu Khondo. Noch wichtiger war, dass das Stück vollständig in Zulu aufgeführt wurde, ohne jegliche sprachliche Anklänge zum Original.

Dank dieser Strategie gelang es Msomi, die Rezeption des Shakespeare-Textes so zu transformieren, dass er als afrikanisches Werk erschien, das sich mit lokalen afrikanischen Themen befasste. In Südafrika war der offizielle Diskurs während der Apartheid von der Politik der „Afrikaanisierung” des Theaters geprägt, d. h. der Durchsetzung der kulturellen Dominanz der afrikaanischen (also burischen) Minderheit, verbunden mit einer Marginalisierung der afrikanischen Kultur und ihrer Ausdrucksformen. Darüber hinaus waren radikale Theateraktivitäten aufgrund der zunehmenden Popularität des Black Consciousness Movement weitgehend verboten.

Die Aufführung von uMabatha wurde jedoch mit der Begründung genehmigt, dass die Afrikaner damit selbst zu ihrer „kulturellen Kolonialisierung” beitrugen, d. h. europäische Texte in lokalen Formaten reproduzierten. Die von Masumi vorgenommene Transposition hatte jedoch den gegenteiligen Effekt: Sie befreite Shakespeare von seiner europäischen Zentralität, indem sie Zulu-Tänze, Gesänge, Percussion, Kostüme und Lobgesänge integrierte. So wurde die durch das Apartheidregime bedrohte Zulu-Kultur unter dem Deckmantel Shakespeares zu einer gefeierten und wiederhergestellten Kultur, was diese Aufführung zu einem sowohl künstlerischen als auch politischen Akt des Widerstands machte.

Das Modell der Reintegration afrikanischer Wurzeln

Das zweite Modell  westliche Klassiker zu nutzen, insbesondere jene griechischen Ursprungs, ist die sogenannte Reintegration, die einige Intellektuelle aus der afrikanischen Diaspora in den Vereinigten Staaten als Black Athena bezeichnen. Dieser Trend geht auf eine historische Tatsache zurück, nämlich dass ein Großteil des Inhalts griechischer Theaterstücke, insbesondere Mythen, Götter und Kultur, afrikanischen Ursprungs ist. Nach Ansicht des „Vaters der Geschichte”, des Griechen Herodot, haben die Griechen ihre Mythen, Götter und Kultur von den alten Ägyptern übernommen, die physiologisch gesehen eine Mischung aus "gelben" und "schwarzen" Menschen waren. Diese Auffassung stützt sich auf das Werk von Martin Bernal. (Black Athena: The Afro-Asian Roots of Classical Civilization,1987).

In dieser Auffassung wird der Gott Dionysos als griechische Version des afrikanischen Gottes Osiris betrachtet. Es waren auch die Ägypter, die die Formen des performativen Theaters  erfunden haben, die von den Griechen in Form von dithyrambischen Gesängen und Tänzen „gestohlen/kopiert/assimiliert” wurden. Letztere entwickelten sie dann zu dem weiter, was  heute als „westlicher Theater-Kanon” bezeichnet wird und ausschließlich mit dem Westen in Verbindung gebracht wird. Nach diesem Modell stellen die Auswahl des aus Afrika „gestohlenen” Materials und seine Wiedereinführung in das afrikanische Theater keinen kulturellen Kolonialismus dar, sondern vielmehr eine historische Korrektur, die das Kulturerbe ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückgibt.

Obwohl die metaphysische Dimension des westlichen Theaters seit dem Aufkommen der europäischen Bourgeoisie an Bedeutung verloren hat, ist sie ein wesentlicher Bestandteil des afrikanischen Theaters geblieben. Der simbabwische Regisseur und Forscher Samuel Ravengai liefert in seinem Stück Vumani Oedipus ein eindrucksvolles Beispiel für diese Wechselwirkung. Er begnügt sich nicht damit, auf die griechische Mythologie Bezug zu nehmen, sondern nimmt tiefgreifende dramatische und kulturelle Veränderungen vor und zeigt, wie Klassiker im Dienste einer eindringlichen lokalen Vision neu interpretiert werden können. Ravengai hat die Handlung in ein fiktives afrikanisches Land namens Nguniland verlegt und einige traditionelle Figuren, wie den Priester und den Senator, zu einer einzigen Figur namens Ndunankulu verschmolzen, wodurch die dramatische Struktur vereinfacht und der Konflikt auf die Beziehungen innerhalb der Erzählung konzentriert wird. Er fügte auch neue Elemente hinzu, die im griechischen Originaltext nicht vorkommen, reduzierte die Dialoge und überarbeitete die Sprache, um die in klassischen Übersetzungen übliche kanonische Formulierung zu vermeiden und so ein Werk zu präsentieren, das dem Geschmack des zeitgenössischen Publikums in Südafrika besser entspricht.

Die tiefgreifendste Veränderung besteht jedoch in der Neugestaltung der Rezeption: Das Stück richtet sich nicht nur an ein englischsprachiges Publikum, sondern öffnet sich mehreren lokalen Sprachen, wodurch die Vielfalt kultureller Identitäten hervorgehoben und die afrikanische Erfahrung wieder in den Mittelpunkt des klassischen Textes gerückt wird. Ebenso nutzt das Stück metaphysische und rituelle Elemente, indem es spirituelle Medien (Sangoma) und kollektive Rituale einbezieht, nicht als oberflächliche folkloristische Elemente, sondern als Teile eines Wertesystems, in dem Schicksal, Ahnen und unsichtbare Kräfte untrennbar mit dem täglichen Leben verbunden sind. So wandelt sich der griechische Text von einer passiv übernommenen Referenz zu einem lebendigen Raum der Sinnproduktion, der im Lichte des afrikanischen Kontexts neu gestaltet wird, um neue Fragen zu Schicksal, Identität und Macht zu stellen, so wie das arabische Theater – in seiner Verwendung der Klassiker – versucht, seine Gegenwart zu hinterfragen, indem es eine mythische Vergangenheit heraufbeschwört.

Die Analyse zeigt, dass die Aneignung des westlichen Theaterkanons im afrikanischen Kontext sich nicht auf eine einfache Adaption oder Imitation klassischer Texte beschränkt, sondern einen integrativen, kritischen und kreativen Prozess darstellt, der darauf abzielt, diese Texte neu auszurichten, damit sie afrikanische kulturelle, politische und soziale Fragen behandeln. Zur Veranschaulichung bieten Black Orpheus und Athéna noire  vielfältige Mechanismen, um die afrikanischen Wurzeln des Theatererbes wiederherzustellen und die rituelle und metaphysische Dimension hinzuzufügen, die in vielen westlichen Stücken fehlt, wodurch das afrikanische Theater zu einem Raum des Experimentierens und der Feier lokaler Identität im Angesicht des Erbes  kultureller Kolonialisierung wird.

Diese Beispiele bestätigen, dass die kritische Auseinandersetzung mit westlichen Klassikern keine Kapitulation vor der kulturellen Dominanz ist, sondern im Gegenteil ein Instrument, um die afrikanische Kultur zu bereichern und die Beziehung zwischen dem universellen Erbe und den lokalen Besonderheiten neu zu definieren. Aus dieser Perspektive kann die kreative Aneignung des westlichen Theaters als Teil einer umfassenderen Strategie zur Stärkung der kulturellen und kreativen Identität Afrikas in der heutigen Welt betrachtet werden, die über die traditionelle Trennung zwischen „Westen” und „Afrika” weit hinausgeht.

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Deutsche Bearbeitung nach der französischen Übersetzung aus dem Arabischen von Khaled Osman