Hat die Europäische Union eine Zukunft?
Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit über den »Typus des Außenseiters im Literaturbetrieb«. Menasse lehrte anschließend sechs Jahre – zunächst als Lektor für österreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut für Literaturtheorie – an der Universität São Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen über philosophische und ästhetische Theorien ab, u.a. über: Hegel, Lukács, Benjamin und Adorno. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien.
Mit seinem Buchtitel Die Welt von morgen: Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde weckt der österreichische Schriftsteller und Essayist Robert Menasse hohe Erwartungen, knüpft er doch ganz bewusst an einen sehr großen Landsmann an. Stefan Zweig hat seine Erinnerungen an die Belle Époque, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, in der er aufgewachsen ist, in seinen letzten Lebensjahren geschrieben, das Buch wurde posthum 1942 veröffentlicht. Darin geht es um das Europa vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Schwerpunkt auf Wien und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, einem Vielvölkerstaat, den Robert Menasse überraschenderweise in vielen Punkten als durchaus vorbildlich ansieht. Europa stand damals auf dem Höhepunkt seiner Macht. Noch 1922, dem Jahr seiner größten Ausdehnung, soll allein Großbritannien über ein Viertel aller Menschen und ein Viertel aller Landmassen geherrscht haben. Dass die Vereinigten Staaten schon seit 1900 auf dem Sprung waren, die mächtigste Nation der Erde zu werden, wurde in Europa damals noch nicht wahrgenommen. (siehe auch: Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers, 1988)
Stefan Zweig schrieb Die Welt von gestern aus der Sicht eines Schriftstellers, der Teil der gesellschaftlichen Elite war. Grob geschätzt haben damals vielleicht zehn Prozent der europäischen Bevölkerung die Belle Époque genießen können, während die übrigen 90 Prozent ihnen auf die eine oder andere Art zu Diensten war. Diese Welt ist im Ersten Weltkrieg untergegangen. Vor allem, weil die oberen zehn Prozent aller Kriegsparteien keinerlei Hemmungen hatten, das Leben von Abermillionen von Menschen für ein paar Meter Geländegewinne kaltblütig zu opfern.
Robert Menasse will dazu bewusst einen Kontrapunkt setzen. Die Welt von morgen. Ein freies souveränes demokratisches Europa, das sich selbstbewusst in der Welt des 21. Jahrhunderts behaupten kann. Es ist ihm – wie mir – eine Herzensangelegenheit. Leider wird er der hohen Erwartung, die er weckt, nicht gerecht. Er schreibt über die Europäische Union von heute. Das Morgen kommt erst auf Seite 153 (von 192 Seiten) vor und wird weder dort noch später bis auf einige Floskeln wirklich ausgeführt. In seinem Buch schreibt er sich vor allem seine Frustration über den aktuellen Zustand der Europäischen Union, der nationalen Eliten ihrer Mitgliedsländer und ihre beschränkten nationalen Einstellungen vom Leibe. Er muss es einfach loswerden. Es schnürt ihm sonst die Kehle zu, denn er macht sich große Sorgen. Und das zu Recht!
Der Schriftsteller nennt seinen Text einen Essay. Das trifft es nicht ganz. Schon an der Form wird dies sichtbar. Das Buch besteht aus 38 Absätzen, die jeweils mit fettgedruckten Stichwörtern, Fragen oder kurzen Sätzen beginnen, wirkliche Kapitel gibt es nicht und das ist auch nur konsequent. Denn Robert Menasse wirft uns in seinen 38 Absätzen hin, was ihm als einem leidenschaftlichen Europäer so durch den Kopf geht. Die Stringenz eines Essays trifft er damit nicht. Seine Gedankenstücke sind viel eher ein Pamphlet und eine Philippika, d.h. eine leidenschaftliche, heftige Strafrede. Das Buch wirkt wie ein reinigendes Gewitter. Darin liegt seine Stärke. Wenn die Luft wieder klar ist, haben die Europäer den Kopf frei, endlich einmal wieder von Grund auf über ihr Europa nachzudenken. Nichts ist notwendiger.
SuhrkampRobert Menasse | Die Welt von morgen: Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde | Suhrkamp | 192 Seiten | 23 EUR
Robert Menasse fürchtet, dass die Europäische Union an den wieder erstarkten Nationalismen zerbricht. Diese Angst ist berechtigt. Als Deutscher und überzeugter Europäer wundere ich mich immer wieder, wie unbeleckt ein großer Teil der deutschen Elite vom europäischen Denken ist. In anderen Ländern sieht es nicht besser aus. Der französische Präsident Emmanuel Macron ist im eigenen Land mittlerweile ein einsamer Rufer in der Wüste, was die Weiterentwicklung der Europäischen Union angeht. Wohlstand, Frieden und Freiheit, die die Europäische Union auf einem bisher nie erreichten Niveau gewährleistet hat, werden von den Europäern als so selbstverständlich betrachtet, dass man vergessen hat, was ihre Grundlagen sind. Das alles beschreibt Robert Menasse sehr klar. Er sieht die Nation und den Nationalismus als die großen Gefahren unserer Zeit an. Im Grunde hat er recht, aber dennoch macht er es sich zu leicht.
Zum einen glorifiziert er zu stark die Anfänge der europäischen Integration. Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg nur ein kleines Zeitfenster, in dem die Keime dafür gelegt werden konnten. Auslöser waren Kohle und Stahl. Anfang der 1950er Jahre war man noch allgemein der Ansicht, dass wer am meisten Kohle fördern und Stahl kochen kann, den nächsten Krieg gewinnen wird. Die USA wollten (West-)Deutschland nach 1945 schnell wieder wirtschaftlich auf die Beine helfen. Vor allem wegen ihrer Erfahrung mit dem Versailler Vertrag von 1919, der genau dies verhindern sollte und damit nicht wenig zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges beigetragen hat. Das wollten die USA nicht noch einmal erleben. Nach der Berlin-Blockade 1948/1949 durch die Sowjetunion brauchten die Amerikaner die deutsche Industrie und die deutsche Unterstützung auch für die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion im Kalten Krieg.
Für Frankreich war es eine Horrorvorstellung, dass die USA den Deutschen die alleinige Verfügungsgewalt über die besten Kohlevorräte Europas zurückgeben wollten und offen über eine notwendige Wiederbewaffnung (West-)Deutschlands sprachen. Frankreichs eigene Bemühungen, den Deutschen den Rang bei der Stahlproduktion abzulaufen, waren zu Beginn der 1950er Jahre des letzten Jahrhunderts endgültig gescheitert. Nach dem verlorenen Krieg von 1870/71, dem nur mit Hilfe der USA gewonnen Ersten Weltkrieg (noch vom 23. März bis zum 9. August 1918 beschossen deutsche Streitkräfte mit der Dicken Berta Paris) und der Niederlage nach sechs Wochen Krieg im Jahr 1940 wollten sie Deutschland nie wieder zu einem Angriffskrieg auf ihr Land imstande sehen. Nur vor diesem Hintergrund ist der Beginn der europäischen Integration zu verstehen.
Ihr erster Schritt bestand in der Vergemeinschaftung der Kohle- und Stahlindustrien Frankreichs und Deutschlands. Italien und die Beneluxländer schlossen sich dieser Montanunion an. Deutschlands Vorteil: Nach den schrecklichen Verbrechen, die das deutsche Volk verübt hatte, wurde es erstmals wieder als Partner von seinen europäischen Nachbarn akzeptiert. Die deutsche Kohle- und Stahlindustrie war 1951 bei den Verhandlungen im Übrigen strikt gegen die Vergemeinschaftung. Ein paar Jahre später, als Deutschland schon wieder als eine ökonomische Großmacht angesehen wurde, hätte Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler der westdeutschen Bundesrepublik, die Vergemeinschaftung wahrscheinlich nicht mehr durchsetzen können. Wichtig: Relativ große Teile der Eliten der sechs beteiligten Länder waren nach den Katastrophen zweier Weltkriege aufgeschlossen gegenüber einem wie auch immer gearteten institutionellen Zusammenarbeit ihrer Länder, um zukünftige innereuropäische Kriege zu verhindern. Das Mittel der Wahl: Deutschland so fest umarmen, dass es kein Land mehr angreifen konnte.
Aber was soll’s, ein bisschen Glorienschein tut der Seele gut, das gönne ich Robert Menasse gern. Widersprechen muss ich allerdings seiner Meinung, dass sich der Europäische Rat der EU-Staats- und Regierungschefs erst in jüngerer Zeit Kompetenzen angemaßt hat, die ihm die Verträge nicht zugestanden. Auch, dass der Europäische Rat heute Gesetze erlasse, ist schlicht falsch. Es war de Gaulle, der zu Beginn der 1960er Jahre den in den Verträgen vorgesehenen Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) verhinderte. Mitte der 1960er Jahre verbot er seinen Ministern an den Sitzungen der EWG-(Fach-)Ministerräte teilzunehmen. Um nicht die gesamte europäische Integration aufs Spiel zu setzen, stimmten die fünf anderen Länder im „Luxemburger Kompromiss“ zu, sich weiterhin nur noch einstimmig zu einigen. De Gaulle setzte das Europa der Vaterländer durch, weil es für ihn (und sein Land) unvorstellbar war, dass andere über ihn bestimmen können sollten. Ein dauerhaftes Vetorecht wurde so durch die Hintertür eingeführt. Es besteht bis heute in Bereichen, die die Mitgliedstaaten als ihre wichtigsten Prärogativen betrachten. Ein Europa der Vaterländer braucht einen Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs. Es gibt ihn de facto seit 1969.
Das Vetorecht verhindert die so dringende Weiterentwicklung der Europäischen Union, die Robert Menasse so nachdrücklich einfordert. Immer wieder weist er in seinem Buch darauf hin, dass die Europäische Union in unserer globalisierten Welt mit ihren zahlreichen Problemen, die nur auf globaler Ebene gelöst werden können, die kleinste denkbare Einheit darstellt, die den Europäern im 21. Jahrhundert eine gewichtige Stimme gibt und sie in die Lage versetzt ihren Wohlstand, ihre Freiheit und ihren Frieden zu bewahren und zu verbessern.
Was schlägt uns Robert Menasse für die Zukunft vor? Er will ein Europa der Regionen, einen föderalen europäischen Bundesstaat lehnt er ab. Gleichzeitig strebt er eine so weitgehende Harmonisierung aller Politikbereiche an, dass ein Unterschied zu einem föderalen Bundesstaat nicht mehr erkennbar ist. Sein Europa der Regionen ist idealisiert. Sein Verständnis von Nationen und dem Zugehörigkeitsgefühl der Menschen zu diesen, ist naiv. Mein freundschaftlicher Rat: Er sollte sich ein wenig mit Mentalitätsgeschichte befassen. Diese kann erklären, warum die Engländer (nicht die Briten!) 2016 für den Austritt aus der EU gestimmt haben, weil sie der Meinung waren, ihr Imperium würde auf die eine oder andere Art noch immer bestehen. Dasselbe gilt für Frankreich. De Gaulle war der Überzeugung, das Frankreich nur existiere, wenn es in irgendeiner Form eine weltweite Bedeutung habe. Er bevorzugte das Militärische, bezog aber die Kultur ausdrücklich ein. Das französische Selbstverständnis leidet noch immer unter diesem Anspruch. Und die Deutschen? Sie fühlen sich immer noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Weltmeister. Und ein Weltmeister ist natürlich besser als alle anderen… Es dauert nicht Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte bis sich grundlegende Einstellungen der Völker ändern. So viel Zeit aber hat heute niemand mehr auf einer Welt, die sich so rasend schnell verändert. Hier liegt die große Herausforderung für alle Europäer.
Was also tun? Erst auf der vorletzten Seite seines Buches kommt Robert Menasse auf das zu sprechen, worauf es ankommt. Auf die Menschen, hier als demos, als Volk bezeichnet. Es wird keinen handlungsfähigen föderalen Bundesstaat geben ohne Europäer, die genau dies einfordern. Auf der letzten Seite schreibt er: „Wir müssen es zulassen, dass die Menschen in Europa zu einem demos werden, in einer gemeinsamen europäischen Demokratie, in einem gemeinsamen Rechtszustand auf Basis der Menschenrechte, gleicher Rahmenbedingungen und Chancen für alle, die in Europa leben und ihr Glück zu machen versuchen.“
Dieser Ansatz kommt von oben („wir müssen es zulassen“), aber das kann nicht funktionieren. Er muss von unten kommen. Es liegt an den Europäern, ob sie aus dem Europa der Vaterländer ihr Mutterland Europa machen. Mit rund 30 Prozent der Wähler in allen EU-Ländern, die sich als rechtspopulistisch bis rechtsextrem verstehen, sieht es im Moment nicht danach aus. Aber die Sache ist nicht hoffnungslos. Der Atlas of European Values, herausgegeben von der Tilburg University, verzeichnete in seiner Ausgabe von 2012 nur sehr geringe Ausschläge, dass man sich als europäischer Bürger sehe (fast alle Länder unter 20 Prozent, Großbritannien unter 10 und nur Luxemburg über 30 Prozent, gefolgt von Belgien und dem Nicht-EU-Land Schweiz (!) mit 20-30 Prozent). In seiner Ausgabe von 2020 fragt der Atlas nicht mehr explizit nach dem Verständnis als Staatsbürger ("citizenship"), sondern nur noch unspezifisch, ob man sich als Europäer fühle. Hier liegt die Zustimmung in den EU-Ländern stets zwischen 50 und 59 Prozent. Die meisten Länder liegen zwischen 60 und 80 Prozent. Das Glas ist also halb voll. Noch sind die Europäer nicht verloren, sie müssen nur an ihre eigene Kraft glauben und gemeinsam handeln. Alleine kann es keine Nation schaffen. Da hat Robert Manesse recht. Deshalb ist sein Buch so wichtig. Im Oktober 2024 bereitete der Verlag Suhrkamp bereits die vierte Auflage vor.