Expedition ins Sumpfgebiet der Seele
Kanon VerlagChristine Koschmieder | Schambereich. Über Sex sprechen | Kanon Verlag | 184 Seiten | 20 EUR
Der Mount Everest, der höchste Berg der Welt, wird regelmäßig bestiegen. Den tiefsten Punkt der Welt, den Mariannengraben, hat der Regisseur James Cameron (Titanic, Avatar, u. a.) mit einem für diesen Zweck konstruierten Tiefsee-U-Boot erforscht.
Auch Menschen, die weniger Geld und Zeit zur Verfügung haben, suchen gerne Gefahren oder Grenzen, die sie überwinden und Aufgaben, an denen sie wachsen können. Selbstoptimierung ist angesagt. Das Spektrum reicht von Marathonlaufen, Heilfasten, Klarträumen, über Eisschwimmen bis zu Feuerlaufen. Also barfuß über glühende Kohlen zu gehen.
Erfolgsberichte und Memoiren animieren täglich Millionen Menschen auf der ganzen Welt dazu, Apps runterzuladen, mehr oder weniger zu schlafen, die Fettanteile ihrer Körper zu reduzieren und neu definierte Muskeln zu posten. Nicht selten bleibt es dabei, dass sie sich überflüssige Produkte bestellen.
Die Autorin Christine Koschmieder hat sich eine ganz andere Aufgabe gestellt, die sich auch als Herausforderung vor ihr auftürmt und die sie selbst so beschreibt: »Ich hatte Sex, und ich habe drei Geburten und zwei Abtreibungen hinter mir. Ich kenne also meinen Körper. Was ich allerdings bis heute nicht gut kann: körperliche Nähe herzustellen und eine Sprache dafür zu finden. Das will ich jetzt ändern.«
Das größte Hindernis auf diesem Weg, vermutet Christine Koschmieder, ist die Scham. Damit meint sie nicht nur das unangenehme Gefühl, wenn wir uns vor anderen schämen. Wenn wir unseren Blick notgedrungen zu Boden richten und stottern. Unser Gesicht rot anläuft, Schweiß ausbricht, das Herz rast und der Puls hämmert. Sondern auch die fast noch schlimmere Qual, die entsteht, wenn wir uns vor uns selbst schämen. Weil wir gegen Normen verstoßen oder Erwartungen nicht erfüllt haben. Wer so fremdgesteuert ist, kann kein freier Mensch sein. Er ist ein Gefangener seines eigenen, beschränkten oder verzerrten Selbstbilds wie ein Häftling im Knast.
Doch wie entsteht überhaupt so ein „innerer Kerker“ wie die Scham? Um diese komplexe Frage zu beantworten, gibt Christine Koschmieder einen knappen Abriss der Sexualwissenschaft. Er reicht von dem Psychoanalytiker Sigmund Freud, über den Zoologie-Professor Alfred Charles Kinsey, den deutschen Vertreter einer kritischen Sexualforschung Volker Sigusch, die belgische Psychotherapeutin Esther Perel, die britische Autorin Laurie Penny, die kanadische Autorin Sheila Heti, sowie die US-amerikanische Autorin Erica Jong, um nur einige zu nennen. Auch neuere Entwicklungen kommen zur Sprache. Die Queer-Theorie erforscht seit Anfang der 1990er Jahre Lust und Sinnlichkeit unter den Aspekten eines biologischen und eines sozialen Geschlechts. Bei der Polyamorie bleiben die Beziehungen offen. Jeder darf parallel mehrere Menschen lieben, ohne dass jemand sich betrogen fühlen soll.
Dieser Überblick belegt auf frappierende Art und Weise, dass Sexualität kein stabiler, steriler Forschungsgegenstand ist. Oder eine Sportart, die durch fleißiges Training erlernt werden kann, bis man die gewünschten Fortschritte erzielt oder zur Meisterschaft gelangt.
Lange Zeit herrschte der Irrglaube vor, Sexualität sei wie ein schwer greifbares Fluidum oder ein magisches Elixier. Mal verursache sie körperliche Befriedigung, höchste Glücksgefühle und innige Nähe. Dann wieder entfalte sie egoistische Kräfte, die die Macht haben, Beziehungen zu sprengen und Schicksale zu zerstören. Als sei die Sexualität mal eine liebevolle, großzügige und mal eine sadistische, unberechenbare, primitive Gottheit.
Sicher ist: Sexualität verändert sich, kann verkümmern oder verschwinden und sich plötzlich auf ganz andere Art und Weise in einer unerwarteten Situation und Konstellation um so heftiger manifestieren.
Christine Koschmieder wurde 1972 in Heidelberg geboren und lebt seit 1993 in Leipzig, Deutschland. Sie arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Literaturagentin. Ihr Debütroman Schweinesystem (2014) war für den aspekte-Literaturpreis nominiert.
Doch jedes Mal, wenn Christine Koschmieder anstatt von gesellschaftlichen Entwicklungen über ihre eigenen Erfahrungen schreibt, wird klar: die Art und Weise, wie wir Sexualität erfahren und ausleben, ist kein Naturgesetz wie die Erdanziehungskraft. Sexualität ist das Ergebnis unserer Sozialisation. Ihre vermeintlichen Regeln wurden von Menschen gemacht und können von Menschen verändert oder über Bord geworfen werden. Wie zum Beispiel das „Dampfkesselmodel“. Nach dessen Logik die Erregung, also der sexuelle Druck bei Männern so steigen könne, dass sie „explodieren“. Womit sexuelle Übergriffe quasi physikalisch begründet und entschuldigt worden sind. Ähnlich abwegig und leider ähnlich weit verbreitet, war der Unsinn von der „frigiden Frau“, die keine Lust empfinden kann. Oder der „hysterischen Frau“, die zu unkontrollierten, emotionalen Ausbrüchen neigt. Beide Hirngespinste sind dank wissenschaftlicher Forschung längst widerlegt.
Was sich trotz jahrzehntelanger, sexueller Aufklärung selbst in liberalen Gesellschaften wie Deutschland hartnäckig hält, ist ein diffuses, repressives Schamgefühl. Dass nicht nur Frauen, sondern auch Männer dazu verdammt, sich von profitorientierten Körperidealen oder körperfeindlichen Moralvorstellungen leiten zu lassen. Anstatt Sexualität angstfrei zu entdecken und lustvoll auszuleben.
Doch Christine Koschmieder hat kein weiteres, oberflächliches Ratgeberbuch geschrieben, das dazu aufruft, sich weiter zu optimieren. Mit To-Do-Listen, die nie erledigt werden, sondern nur gute Vorsätze bleiben. So dass sie genau die Selbstscham erzeugen, die sie eigentlich auflösen sollten.
Stattdessen ist ihr großartig geschriebenes, literarisches Memoir eine Ermutigung, sich auf eine Entdeckungsreise in das eigene „Sumpfgebiet der Seele“ zu machen. Wobei die Etappen und das Ziel wunderbar offenbleiben.
Artikelreihe "Scham"
In Christine Koschmieders „Schambereich“ geht es um Schamgefühle, die in Verbindung mit Sex ausgelöst werden. Was ist mit den anderen Themen, die dieses peinigende Gefühl verursachen können? Und ist Scham immer nur negativ oder hat sie auch positive Aspekte?
Während ich dieses Buch gelesen und die Rezension geschrieben habe, habe ich Freundinnen und Freunde sporadisch per Mail gefragt, ob sie Lust und Zeit hätten, von ihren Schamgefühlen zu erzählen. Wobei ich angeboten habe, knapp oder allgemein zu antworten oder meine Mail einfach komplett zu ignorieren.
Zu meiner Überraschung habe ich umgehend ausführliche, eindringliche Antworten von Frauen und von Männern erhalten. Sie kreisten um Scham, die mit ihrem Körper verbunden ist: Sex, Aussehen, Blut, Kot, Urin und Schweiß. Sowie von Scham, die bei ethischen Konflikten entsteht: Rassismus, Lügen, Gier, Geldnot, berufliches und sportliches Versagen.
Um dieses Phänomen näher zu beleuchten, werden in den nächsten Monaten Autorinnen und Autoren aus der ganzen Welt in einer Artikelreihe über die Scham in ihrer Kultur, als auch über ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit Scham berichten.