Das Teufelsprojekt

Das Teufelsprojekt

„Nordstream: Wie Deutschland Putins Krieg bezahlt“ zeigt: Der frühere deutsche Kanzler Gerhard Schröder ist der wichtigste, aber bei Weitem nicht der einzige Strippenzieher im größten und folgenreichsten Korruptionsskandal seit dem zweiten Weltkrieg
Steffen Dobbert / Ulrich Thiele
Bildunterschrift
Steffen Dobbert / Ulrich Thiele
Nord Stream

Steffen Dobbert, Ulrich Thiele | Nordstream: Wie Deutschland Putins Krieg bezahlt | Klett-Cotta | 400 Seiten | 18 EUR

Nur zögerlich scheinen Politik und Öffentlichkeit zu realisieren, welch epochalen Fehler Deutschland mit dem Projekt «Nord Stream» gemacht hat. Aufzuklären, wie es dazu kam, ist nun zwar immer noch nicht in Berlin, aber immerhin im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern (MV) Aufgabe eines Untersuchungsausschusses – und prompt kann einer der Hauptverantwortlichen, Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder wegen «Burnout» auch im kommenden Oktober angeblich nicht Rede und Antwort stehen ...
Die Journalisten Steffen Dobbert und Ulrich Thiele sind da viel weiter: Sie haben   diesen unfassbaren Politskandal in jahrelanger, akribischer Investigativarbeit rekonstruiert und ihre Ergebnisse im Februar bei Klett-Cotta veröffentlicht. Wie Titel und Cover suggerieren: ein veritabler Wirtschafts- und Polit-Thriller – nur leider nicht erfunden.

Orte der Handlung: Der Schweriner Landtag und zwei niederrangige Behörden in Hamburg und Stralsund; das Bundeskanzleramt und die Amtssitze diverser Bundespolitiker in Berlin. Nebenschauplätze: Kopenhagen, Helsinki, Stockholm sowie der Schweizer Kanton Zug.
Und natürlich der Kreml.

Die Protagonisten: Altkanzler Gerhard Schröder, seit 2005 Verwaltungsratspräsident der Nord Stream 2 AG, einer hundertprozentigen Tochterfirma des russischen Staatskonzerns Gazprom; Ex-Stasi-Major und DDR-Spion Mathias Warnig, bis 2023 Geschäftsführer der Nord Stream 2 AG; Erwin Sellering, ehemaliger Ministerpräsident von MV und bis 2024 Vorstandsvorsitzender der Stiftung Klima- und Umweltschutz MV; Sellerings Nachfolgerin als Ministerpräsidentin von MV, Manuela Schwesig; die früheren Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel und Peter Altmaier, die das Projekt absegneten; eine ganze Seilschaft ehemaliger Stasi-Spitzel; die deutschen Unternehmen Siemens, Eon Ruhrgas und BASF/Wintershall. 
Und natürlich Wladimir Putin.

In Nebenrollen: Zwei weitere ehemalige Bundeskanzler, Angela Merkel und Olaf Scholz, die das «Teufelsprojekt» (Merkel) mitverantworteten.
Chancenlose Gegenspieler aufseiten des Gesetzes: der EU-Beamte Klaus-Dieter Borchardt sowie das Europäische Parlament, das 2021 einen Baustopp von Nord Stream 2 forderte. 

Der Plot: Der russische Diktator Wladimir Putin führt seit 2014 Krieg gegen die Ukraine, die er annektieren will. Deswegen möchte er bei den russischen Erdgaslieferungen an Deutschland die Ukraine (sowie die russland-kritischen baltischen Staaten und Polen) umgehen. Und Deutschland hilft ihm dabei.
Zwei riesige neue Pipeline-Projekte werden gebaut, die Bevölkerung über Notwendigkeit, Kosten und Folgen im Dunkeln gelassen und Informationen und Meinungen über das Projekt gezielt manipuliert: via Lobbygruppen, persönliche Kontakte, Bestechung mindestens eines Journalisten, Anti-Ukraine-Propaganda, Wirtschafts-, Wissenschafts-, Kultur- und Sportsponsoring, kurz, wie es die Autoren betiteln: mithilfe von «strategischer Korruption». Dass und wie viel Geld hierfür aus Russland fließt, wird über Stiftungen und Institute verschleiert, während das Volk mit schwindelerregenden Summen (900 Millionen Euro plus Kreditzinsen) für die Projekte bürgt.
Kaum ist das letzte Rohr verlegt, startet Putin seine Vollinvasion der Ukraine. Derweil hat sich Deutschland in immer größere Abhängigkeit von russischem Gas begeben und bezieht im Jahr 2021 etwa 65,4 Prozent seiner Gasimporte im Wert von 17,6 Milliarden Euro aus Russland, etwa 6,5 Milliarden mehr als im Vorjahr. Zusätzlich  wurde Deutschlands größter Gasspeicher in Rheden (Niedersachsen) − von strategischer Bedeutung für die Gasversorgung Deutschlands und Westeuropas − an Gazprom verkauft. Hierfür haftet der Steuerzahler nochmals mit 1,8 Milliarden Euro Staatsgarantie. Im März 2022 ist dieser Speicher bis auf 3 Prozent leer.

Steffen Dobbert ist Redakteur bei der dem deutschen Wochenmagazin DIE ZEIT. Ulrich Thiele begann seine Recherchen zu Nordstream 2 und der Klimastiftung in Mecklenburg-Vorpommern als Mitarbeiter des deutschen Politmagazins Cicero und war ab Juni 2023 Investigativreporter bei Business Insider. Diese Stelle wurde ihm gekündigt; er ist zurzeit freigestellt.
Beide Autoren schrieben das Buch unabhängig von ihren jeweiligen Zeitungsredaktionen.

Mit dem deutschen Gas-Geld hingegen kann Moskau im Jahr 2021 fast ein Drittel  seiner Militärausgaben bezahlen. Deutschland hat nicht nur dafür gesorgt, die Ukraine als Gas-Transitland überflüssig zu machen, es füllt auch täglich Putins Kriegskassen.

Spiel, Satz und Sieg für Putin

Gelegenheiten, das Ruder herumzureißen, gab es viele, wie Dobbert und Thiele belegen. Warnungen gegen die «Putin-Pipeline» kamen aus Dänemark und Frankreich, aus Polen, den baltischen Staaten und den USA, vom russischen Widerstand, von der Bundeswehr, von Umweltverbänden, vom TÜV und vom EU-Parlament. Der EU-Beamte Klaus-Dieter Borchardt ist sich zudem sicher: Hätte Deutschland Nord Stream 2 in Betrieb genommen, hätte die EU dagegen geklagt.
Die Ukraine versucht seit 2014 verzweifelt, das Horror-Szenario zu verhindern. Eine von vielen Delegationen der ukrainischen Energie-Versorger warnten auch im Oktober 2018 nochmals nachdrücklich, «mit Nord Stream 2 werde eine groβe Invasion Russlands in der Ukraine sehr wahrscheinlich.» Schließlich gehen sie sogar so weit, zu fragen, ob den Deutschen klar sei, dass eine solche Invasion Hunderttausende Flüchtlinge mit sich bringen würde. Die Antwort sinngemäß: Man müsse mal nachrechnen, wie viele; man wisse jedenfalls, was man mit den Geflüchteten anfangen werde. 

Putin wollte die Pipeline, und Putin bekam die Pipeline. Seine willigen Vollstrecker saßen in Deutschland.

Verrückter als ein John-Grisham-Thriller

Was sich hier an krimineller Energie, Korruption und schmutzigen Tricks aufhäuft, lässt beim Lesen den Kopf schwirren: Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Bestechung, Giftanschläge, Auftragsmorde, Cyberattacken, Nato-Daten im Internet, ein ungeklärtes Attentat auf die Pipeline, ein Flugzeugabschuss, Propaganda-Lügen, vertuschte Umweltschäden, gar eine deutsche Finanzbeamtin, die eine Steuererklärung im Kamin verbrennt! So liest sich das Playbook für «strategische Korruption» als Teil einer zeitgenössischen hybriden Kriegsführung. Das letzte Kapitel ist noch nicht geschrieben.