Ein längst überfälliger Roman über „Weisshäute“ und „Rothäute“
HanserTommy Orange | Verlorene Sterne | Hanser | 304 Seiten | 26 EUR
Die meisten Menschen würden sehr wahrscheinlich pikiert abstreiten, dass sie sich rassistisch verhalten oder auch nur unbewusst rassistische Vorurteile pflegen. Wer ebenfalls so selbstgerecht oder naiv denkt, für den kann die Lektüre von Verlorene Sterne eine manchmal beschämende, überwiegend erhellende und sicherlich aufwühlende Lektüre werden.
Beschämend, weil einem klar werden könnte, wie sehr man selbst am Klischee vom „edlen Wilden“ hängt. Erhellend, weil Tommy Orange, selbst ein Mitglied der Cheyenne und Arapho Tribes, von Indianern erzählt, die Karl Mays „Winnetou“ und dessen Schwester „Nscho-Tschi“ wie seelenlose Pappkameraden wirken lässt. Die sie ja auch sind. Aufwühlend, weil jede Leserin und jeder Leser, egal ob weiß-, rot-, schwarz-, gelb-, oder gemischtrassig, angeregt wird, sich selbst zu prüfen und zu fragen: Wer waren meine Vorfahren? Was habe ich mit ihnen gemeinsam? Wer bin ich? Wer will ich sein?
Trotz dieser Fragen ist Verlorene Sterne mehr als ein Roman über amerikanische Ureinwohner oder ein scharfsinniger, origineller Beitrag zu aktuellen Debatten über Rassismus und Identitätspolitik.
Die Familiengeschichte, die sich über 150 Jahre – vom Ende der Indianerkriege bis heute – erstreckt, ist voller Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten. Doch Tommy Orange erzählt ohne moralischen Zeigefinger, das heißt ohne Anklage und auch ohne Selbstmitleid. Stattdessen mit der Genauigkeit eines Historikers und dem großen Herzen eines klugen Skeptikers.
Am Anfang steht die Kampagne der Regierung zur „Beseitigung der ursprünglichen Bewohner“ des jungen US-amerikanischen Staates. Die Familiengeschichte beginnt mit Jude Star, einem Überlebenden des Sand-Creek-Massakers, das 1864 stattfand und erstreckt sich bis zu seinen Nachkommen, zwei jungen Indianern im 21. Jahrhundert. Die nicht einmal mehr sicher sind, ob sie sich noch Indianer nennen dürfen.
Dazwischen liegen sechs Generationen, die Massaker, Hungersnöte und Suchtkrankheiten überlebt haben, die mehrfach „umgesiedelt“, in militärischen Internaten umerzogen oder zur Adoption für „weiße“ US-amerikanische Eltern frei gegeben wurden. Gemäß der Menschen verachtenden Parole US-amerikanischer und kanadischer Regierungen: Um den Menschen zu retten, muss man den Indianer in ihm töten.
In den einzelnen Lebensgeschichten rebellieren die Indianer gegen die übermächtigen Weißen, suchen ihr Heil in Geistertänzen oder versuchen resigniert, alle Erwartungen der Sieger zu erfüllen. Einige gehen bei der Selbstaufgabe so weit, dass sie ihre Namen ablegen und die Vor- als auch Zunamen ihrer Unterdrücker annehmen oder sich Namen aus der Bibel aussuchen.
Besonders die Schicksale der Indianer, die sich aus Überzeugung taufen lassen und erleben, wie ihre weißen, christlichen Mitmenschen sie weiter drangsalieren, sind kaum zu ertragen. Eine lange bitter-süße Ansprache, die eine Mutter an das Baby in ihrem Bauch richtet, macht fassungslos.
An solchen Stellen, die einem beim Lesen den Hals zuschnüren, ist man Tommy Orange dankbar, dass er nicht linear und chronologisch erzählt, sondern exemplarische Szenen und Lebensausschnitte zu einer vielstimmigen Symphonie „gesampelt“ hat. Nach der letzten Seite des Romans überwiegen jedoch weder Empörung, Mitleid, Trauer oder Wut, sondern Staunen über die Leidensfähigkeit, Wandelbarkeit und innere Stärke der Nachkommen der Ureinwohner Amerikas. Und natürlich über Tommy Orange‘ polyphonen Roman mit Schwindel erregenden menschlichen Untiefen, hoffnungsvollen Erlösungs- und Machtfantasien, sowie einem stillen, unzerstörbaren Humor.