Schwerenot während der Schwangerschaft

Hassan Marzougui ist ein tunesischer Schriftsteller und Medienschaffender mit einem DEA-Abschluss in zivilisatorischen Studien der Universität von Tunesien und Produzent von Kultur- und Dokumentarformaten.
Er wollte mich einfach nur töten.
Er richtete seine Waffe auf mich, einfach so, ganz natürlich, und sagte mit einer rauen Stimme, die nichts von der Sanftheit seines Gesichts widerspiegelte:
- Wenn du nicht zurücknimmst, was du veröffentlicht hast, jage ich dir eine Kugel zwischen die Augen.
Dann steckte er seine Pistole in sein elegantes schwarzes Holster, spuckte mir ins Gesicht und entfernte sich.
Das Bild der schwarzen Pistole mit dem Regierungsemblem brannte sich für einige Augenblicke in mein Gedächtnis ein. Es prägte sich dort ein, erschreckte mich zunächst, aber als ich an die so falsch klingende, harte Stimme und das weiche Gesicht zurückdachte, spürte ich, wie mir kalter Schweiß den Rücken hinunterlief.
Ich fragte mich, während ich mir seinen Speichel, der während seiner Tirade auf mich niedergegangen war, abwischte: Kann ein Polizist, der mit meinen Steuern bezahlt wird, mich wirklich mit einer Waffe töten, die er mit eben diesen Steuern gekauft hat? Und was wird er vor Gericht sagen? Wird er behaupten, er habe mich wegen eines einfachen fiktiven Textes, der ihm nicht gefallen hat, getötet?
Das ist an sich schon eine irre Geschichte. Ein hämisches Lächeln formte sich aus meinen ausgetrockneten Lippen und ich spürte, wie mein Hemd die Feuchtigkeit aufnahm, die mir über den Rücken kroch.
Ich war nicht mutig genug, auch wenn ich davon überzeugt war, dass dieses sanfte Gesicht, das sich hinter einer aufgesetzten, rauen Stimme verbarg, verlorener war als ich. Er wollte mich mit dieser gespielten Härte und der Waffe in der Hand glauben machen, dass er den Mut hatte, einen als Verräter titulierten Schriftsteller zu töten.
Plötzlich sammelte sich in einer düsteren Ecke meines Geistes ein loser Gedanke, so wie alte Papiere oder verstreute Trümmer, die sich auf dem Bürgersteig einer verlassenen Straße ansammeln:
Ein Polizist will einen Skandal ersticken, der durch einen von seinem Schriftsteller-Cousin verfassten Text ausgelöst wurde, indem er ihn mit einer Kugel aus einer "nationalen" Pistole auslöscht. Und dieser Schriftsteller-Cousin wiederum will diese Kugel in einen Text einbauen, der ihn endlich zu einem wirklichen Autor machen würde. Die Leute würden ihn lesen, nachdem sie seine von Kugeln durchsiebte Leiche entdeckt haben. Und diesen Text würden die Kritiker - natürlich erst nach meinem Tod - als ein seltenes Beispiel für das gerade so hochgeschätzte autofiktionale Schreiben ansehen, ganz im Sinne der großen Autoren, die bereits aus ihren Erfahrungen heraus geschrieben haben. Diese Kugel würde mich zu einem großen Schriftsteller machen.
Das gleiche hämische Lächeln kehrte zurück und umspielte meine blassen Lippen. Ich stand auf. Mein Cousin war verschwunden.
Da ich ein Bürger bin, der die Polizei fürchtet, ja, sich sogar fürchtet mit ihr oder auch nur über sie zu sprechen, und erst recht, wenn mir eine Waffe ins Gesicht gehalten wird, zog ich meinen Text umgehend zurück. Aber es war zu spät: Viele Menschen, ob ich sie nun kannte oder nicht, hatten ihn bereits gelesen und waren durch die Aufregung, die er verursacht hatte, aufgeschreckt worden. Es war auf zahlreichen Internetseiten im Umlauf gewesen, sowohl auf "gelben" als auch auf "weißen".
Ich muss gestehen, dass ich ein feiger Bürger bin, aber ich wollte wenigstens ein mutiger Schriftsteller sein. Also erfand ich Erzähler für meine Geschichten, so wie Hunde, die nichts unberührt lassen. Ich glaubte nicht wirklich an Fiktion. Ich brauchte etwas Reales, eine Tatsache, ein Ereignis. Ich brauchte eine sichtbare Beute, die ich einem meiner Erzählerhunde liefern konnte, damit er sie wie einen Hühnerschenkel kauen konnte.
Ich zog den Text zurück, nachdem er viral gegangen war und die Leute ihn gelesen hatten, und ich verlor dadurch gleich zweimal: einmal, als diese Drohgebärde meine Würde beschmutzte, und ein zweites Mal, weil mein Text als Sünde und nicht als Geschichte aufgefasst wurde.
Erst nachdem ich diese Vorladung erhalten hatte - in Form eines Gerichtsverfahrens im Haus meines Onkels Siddiq, des Familienoberhaupts - vermochte ich die Angst vertreiben, die mich seit dem Tag mit der Pistole befallen hatte. Auch wenn die Feuchtigkeit, die mir über den Rücken gelaufen war, mich schon ein wenig beruhigt hatte.
Bei diesem Treffen wurden alle Meinungen, die ich hörte, grob und völlig ungefiltert geäußert. Mein Onkel Siddiq hatte uns im Gästezimmer seines Hauses versammelt. Er ist das älteste Mitglied der Familie, dessen Namen ich trage, und unter dem ich auch meine Texte veröffentliche. Er hat meine Großeltern gekannt, kennt ihren Vater, meinen Vater und alle Verstorbenen der Familie, nur bei Neugeborenen irrt er sich oft. Man wendet sich in kritischen Situationen an ihn, um sich noch mit einer Familie identifizieren zu können und einem Patriarchen verbunden zu fühlen. Bei vielen anderen Konflikten hört man kaum etwas von ihm. Nur bei Katastrophen, die in der Vergangenheit liegen, greift er ein, um in seiner Stellungnahme Fälle mit einzubeziehen, die bis in eine uns unbekannte Zeit zurückreichen. Er ist sowohl Erzähler als auch Zeitzeuge. Alle halten ihn für den einzigen, der noch jener Wahrheit aus der Vergangenheit kundig ist, die wir brauchen, um die Konflikte der Gegenwart zu lösen.
Und nun brauchten wir ihn für diesen seltsamen, für unsere Familie ganz und gar nicht üblichen Konflikt.
Onkel Siddiq begann mit einer Predigt, in der er Religion, Sitte, Verwandtschaft und Gesetz vermischte - ein Gesetz, das er nicht kennt, aber er zitierte das Wort aus Höflichkeit gegenüber meinem Cousin, der Polizist ist. Er amalgamierte all das, um mich davon zu überzeugen, dass ich meine Cousins entehrt hatte, und um sie ihrerseits davon zu überzeugen, dass sie die Weisheit und Größe besäßen, mir vergeben zu können, und dass die Ehre ihres Vaters und ihrer Großmutter väterlicherseits keinesfalls einem herumstreunenden Taugenichts wie mir erschüttert werden könne.
Diese Worte besänftigten einige, aber nicht alle - vor allem nicht den Cousin mit dem sanften Gesicht. Er ist der Polizist, auf den die Familie stolz ist, der in kritischen Momenten an ihrer Seite steht. Und hinter ihm, so glauben sie, steht ein ganzes Land.
Ich ließ zu, dass sie die Worte wie Ziegelsteine auf meinem Kopf zertrümmerte, und ich spürte, wie der Staub ihrer Beleidigungen mehr und mehr mein Gesicht bedeckte. Aber ich wusste, dass ich still sein musste. Die Argumente, die unter meiner Zunge zuckten, konnten nichts gegen die verbalen Ziegelsteine ausrichten, die von Speichelfontänen begleitet auf mich niedergingen. Mein Onkel versuchte den Strom der Beschimpfungen zu unterbrechen:
- Nachdem, was deine Cousins gesagt haben, solltest du das Ausmaß der Beleidigung begreifen, die du ihnen und uns allen zugefügt hast. Daher hast du keine andere Wahl, als dich zu entschuldigen und vor allen zu erklären, dass das, was du geschrieben hast, eine Lüge und eine pure Verleumdung ist.
Der mit dem sanften Gesicht ergriff das Wort:
- Mit Verlaub, Onkel Siddiq.
Dann wandte er sich an mich:
- Wir werden nichts anderes als eine schriftliche Entschuldigung akzeptieren, die auf denselben Websites veröffentlicht wird, auf denen du deinen verfluchten Text veröffentlicht hast.
Onkel Siddiq fragte, was das Wort "Websites" bedeute, aber niemand antwortete. Sie hatten keine Zeit, ein Konzept zu erklären, das dieser alte Mann nur schwer oder gar nicht verstehen würde.
Mein Blick traf den des Polizisten, der nebenbei mit seiner Waffe spielte und ich musste wieder an sein ekelhaftes Speicheln während seiner Drohungen denken.
- Sehr gut. Ich entschuldige mich bei euch, Cousins, vor unserem Ältesten, Haj Siddiq... Alles, was ich geschrieben habe, war reine Fiktion.
Zeichen der Erleichterung erschienen auf dem Gesicht des Onkels, aber eine feste Stimme durchbrach diese Ruhe:
- Nein. Spiel nicht mit uns, du Betrüger. Nenne die Dinge bei ihrem Namen. Alles, was du geschrieben hast, ist reine Lüge. Und solange du in deiner schriftlichen und veröffentlichten Entschuldigung nicht ausdrücklich das Wort "Lüge" erwähnst, werden wir sie nicht annehmen.
- Ich hoffe, das ist klar, Onkel Siddiq, und du bist Zeuge dafür. Damit du nicht später wieder kommst und uns unsere Taten vorhältst.
- Sebstverständlich, mein Sohn.
Der Ton des älteren Bruders war fest und endgültig.
Das Auffällige an diesem Treffen war, dass sie mich abwechselnd als Lehrer und als Intellektuellen beurteilten. Sie warfen mir vor, ich würde Intellektuelle und Gelehrte gleichermaßen entehren. Ein echter Intellektueller schreibe ehrlich, belüge die Öffentlichkeit nicht und müsse seinen Schülern als Vorbild dienen... Und sie schlossen mit dem Satz: "Willst du ein Erzieher kommender Generationen sein? Du? Du bringst doch nur Schande über die Bildung."
Kaum war ihre Zerstörungsmaschinerie verstummt, nahmen sie mich als Cousin unter die Lupe, der die Familienehre verraten hatte, aus Neid auf den Erfolg seiner Cousins in Handel, Frömmigkeit und Reichtum - während ich ein ketzerischer Lehrer blieb, der um die Veröffentlichung seiner Artikel in obskuren Zeitungen bettelte.
Die ganze Zeit über schwieg ich, bewegte meine Augen wie ein kleines Kaninchen und musterte die Gesichter. Auf jedes hässliche Gesicht folgte ein noch abstoßenderes. Aber ich hatte keine Angst. Im Gegenteil, ich verspürte diese seltsame Erregung bei dem Gedanken, einen meiner Erzähler auf diese Gesichter loszulassen, um sie zu zerreißen.
Ich kenne sie alle. Ich kenne ihre Geheimnisse, ihre Skandale. Ich weiß, dass das, was ich weiß, ausreichen würde, um sie in einem langen Text alle auf einmal zu häuten oder sie in kleinen Erzählungen jeden für sich und ganz filigran zu häuten -ganz nach meiner Schreiblaune
Die Atmosphäre war vergiftet. Derjenige, der sprach, erhob seine Stimme zu der des Vorredners. Aber keiner wagte es, auf die Einzelheiten dessen einzugehen, was ich geschrieben hatte; sie begnügten sich damit, die ganze Geschichte zu leugnen. Meine Erzählung - die zuvor veröffentlicht und dann zurückgezogen worden war - war der allgegenwärtige Abwesende in dieser Versammlung. Es war offensichtlich, dass sie sie nicht gelesen, sondern nur davon gehört hatten. Und das erinnerte sie an eine Wahrheit, die an ihnen nagte, eine Wahrheit, die in ihren Köpfen außerhalb meines Textes schwebte und die sie alle fürchteten.
In Wirklichkeit hatte ich geschrieben, was sie bereits wussten, und dann etwas hinzugefügt, was sie sich nicht einmal vorstellen konnten. Ich war schon immer davon überzeugt, dass es keine Geschichte ohne Skandale gibt. Und dass unsere Skandale das Explosivste sind, das wir besitzen.
Bei diesem Treffen öffnete sich mein innerer Hunger, eine neue Geschichte zu schreiben, in seiner ganzen Mächtigkeit. Denn sie wissen, was ich weiß. Und sie wissen, dass andere wie ich wissen, was ich weiß. Aber sobald das, was wir alle wissen, zu Tinte auf Papier wird, leugnen sie, was ich weiß und was sie selbst wissen.
Endlich wagte ich es, ihnen die Frage zu stellen:
- Wenn das, was ich geschrieben habe, eine Lüge ist, warum sind dann hier alle so wütend? Ich habe weder Namen noch Orte erwähnt. Ich habe eine Geschichte in abstrakter Form geschrieben. Warum glaubt Ihr, dass ich von Eurer Großmutter und Eurem Vater gesprochen habe?
Das Gesicht von Onkel Siddiq, der glaubte, die Angelegenheit sei durch die Annahme meiner schriftlichen Entschuldigung erledigt, zog sich zusammen. Aber ich war dabei, eine Bombe zu zünden, deren Folgen er vielleicht nicht würde verkraften können. Meine Frage war so destabilisierend, dass Beleidigungen über mich niedergingen: "Hurensohn", Drohungen, Einschüchterungen. Ohne die Anwesenheit des Onkels hätte an diesem Nachmittag die Hölle losbrechen können.
Ich unterband mein listiges Lächeln und stellte ich die Frage noch einmal anders:
- Liebe Cousins, den Text zu entfernen - was ich bereits vor zwei Tagen getan habe - reicht doch. Was ihr jetzt tut, oder tuen wollt und sei es mich zu töten - ich wandte mich dabei an den Cousin mit dem zarten Gesicht, dessen Augen zu zittern schienen -, wird euch nichts nützen. Noch bevor Ihr auf mich schießt, wird der Text wie eine Kugel herauskommen. All Eure wütenden Reaktionen werden nur beweisen, dass das, was ich geschrieben habe, wahr ist. Deshalb rate ich Euch als Cousin, dem die Familie genauso wichtig ist wie Euch, den Text einfach zu vergessen.
Alle waren verwirrt, und ich spürte, dass der Cousin mit dem sanften Gesicht seine Macht über mich verloren hatte. Was Siddiq betraf, so beobachtete er ihre Reaktionen wie ein Zugführer, der befürchtet, dass ein unvorsichtiges Kind oder ein Betrunkener die Gleise überqueren könnte. Was mich betraf, so spürte ich wieder die Freude am Schreiben, und ich hatte das Gefühl, dass ich mit dieser Freude allmählich wieder die Oberhand gewann.
Dann stellte ich ihnen eine weitere Frage, die mit einer geschickt dosierten Naivität unterfüttert war:
- Antwortet mir doch mal ganz ehrlich: Habt Ihr meinen Text überhaupt gelesen?
Onkel Siddiq richtete sich auf, als hätte er gerade einen Schmerz in der Seite verspürt:
- Was meinst du damit?
- Ich meine einfach: Habt ihr den Text gelesen? Haben Ihr ihn ganz gelesen, die ganzen sechs oder sieben Seiten?
Onkel Siddiq wandte sich an die Gruppe, dann an mich und murmelte:
- Ich habe ihn nicht gelesen... Und was bedeutet denn jetzt eigentlich "auf Websites veröffentlicht"? Ich kenne mich mit Websites nicht aus. Ich kenne halt Bücher, die gelben und die weißen.
Niemand antwortete. Offensichtlich diente seine Frage dazu, ihnen Zeit zu verschaffen, um ihm zu antworten, aber nicht mir.
Als er darauf bestand, zu wissen, was diese Websites nun sind, um von meiner Frage abzulenken, erklärte ihm einer der Anwesenden, dass es sich um Websites handelt, ähnlich wie Zeitungen oder Zeitschriften, nur dass man sie auf einem Bildschirm statt auf Papier liest.
Onkel Siddiq nickte und tat so, als würde er verstehen, ohne den Blick von meinem Gesicht zu nehmen. Er suchte nach einem Ausweg aus der Falle, in die ich sie alle gelockt hatte. Meine letzte Frage war meine scheinbar unbedeutende, aber äußerst gewinnbringende Karte. Nicht mit "Ja" zu antworten, machte mich zu einem Angeklagten ohne Verbrechen; mit "Ja" zu antworten, würde sie in weitere Details verwickeln und mir die Gelegenheit geben, unerwartete Fragen zu stellen - all das würde wundervolles Material für meine nächste Geschichte. Ich spürte regelrecht den Schwanz des Hundes meines Erzählers wild wedeln, der bereit war, das lahme Bein der Geschichte zu verschlingen.
Nach einem langen Schweigen, wiederholten Drohungen und den Blicken von Onkel Siddiq, bei denen ich spürte, wie er von Anklage zu scheuer Bewunderung wechselte, sagte ich zu ihnen:
- Ihr seht doch ganz genau, meine lieben Cousins, dass ihr mich für nichts und wieder nichts beschuldigt habt. Hast du gemerkt, Onkel Siddiq, dass sie mich eines Verbrechens beschuldigen, obwohl sie den Text nicht einmal gelesen haben?
- ...
Als Onkel Siddiq spürte, dass meine eiskalten, zynischen Worte sie wirklich erschüttert hatten, richtete er sich wieder auf. Es war deutlich, dass er das Wort ergreifen würde, um den Konflikt zu beenden, da er richtig wahrgenommen hatte, dass sich die Waage nun zu gleichen Teilen zwischen den ausgesprochenen Beleidigungen und der empfundenen Angst einpendelte. Er suchte nach einem weisen Ausweg.
- Hört zu, Ihr jungen Leute, was auch immer passiert, Ihr gehört zur selben Familie, Ihr seid Cousins. Was ich über das gehört habe, was dieser hirnlose junge Mann - euer Cousin - geschrieben hat, sollte nicht als Vorwand dienen, um unsere Geheimnisse zu enthüllen, oder Fremden eine Gelegenheit geben, über die glorreiche Geschichte unserer Familie zu lachen... Eine Geschichte, von der Ihr leider viel zu wenig wisst.
- Ich persönlich würden liebend gern mehr darüber erfahren. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass mein Vater mir nicht alles erzählt hat, Onkel Siddiq!
Er ignorierte mich, rückte seinen Turban zurecht und setzte ihn wie einen umgedrehten Topf wieder auf seinen Kopf.
- Was du über deine Großtante Umm al-Kheir und deinen Großvater Saleh geschrieben hast, ist völlig haltlos.
- Ja, was habe ich denn nun geschrieben?
- Stell dich doch nicht so dumm an. Du weißt ganz genau, wovon ich rede.
- Ich habe nur das geschrieben, was mir meine Fantasie diktiert hat, was mein Verstand konstruiert hat. Das ist doch kein Versuch gewesen, irgendwelche Geheimnisse aus der Vergangenheit unserer Familie auszugraben.
- Ich verstehe nichts von deinen Hirngespinsten und habe auch nicht vor, mich damit aufzuhalten.
Die Gesichter meiner Cousins drückten eine fragile Festigkeit aus, die durch ihre kollektive Verlegenheit verraten wurde.
- Was ich jedenfalls darüber gehört habe, ist völlig falsch.
- Ja, was hast du denn jetzt gehört?
Onkel Siddiq bemerkte mein schräges, linkisches Lächeln und auch das aufgedunsen-zarte Gesicht meines Cousins, das wie ein übervoller Sack zu zerplatzen drohte. Er beschloss, die Diskussion nun ernsthaft zu beenden:
- Hör mir zu und unterbrich mich nicht, und auch du solltest mir gut zuhören.
Ich zündete mir eine Zigarette an und zog das Teetablett zu mir heran, um meine Asche darauf fallen zu lassen. Die Geste war absichtlich theatralisch überzogen, aber ich wollte, dass sie die damit inszenierte Arroganz und Provokation auch erkannten. Onkel Siddiq sah das alles, und er schien es eilig zu haben, die Sache zu beenden, bevor die Situation eskalierte. Er sprach ohne Umschweife und starrte auf einen Punkt vor sich, ohne jemanden anzusehen. Er schien in einer Vergangenheit zu forschen, vor deren Last er gleichzeitig zu fliehen wünschte.
- Die Geschichte, mit der die Leute seit Jahren hausieren gehen, ist ein Lügengewebe über Eure Großmutter Umm al-Kheir. Und Euer Großvater Saleh war nicht der Mann, als der er oft verleumdet wurde. Der verstorbene Hajj Saleh - möge Gott ihm gnädig sein - hat der frommen Hajja Umm al-Kheir jedenfalls nie ein Unrecht angetan.
Die Gesichter meiner Cousins wurden rot, während ich einen gespielten Ausdruck von Neutralität beibehielt, um den Faden der Erzählung nicht zu unterbrechen, den Siddiq endlich bereit schien, zu entrollen. Mein innerer Schweinehund witterte erneut die Spur einer aufregenden, bis dahin ungehörten Geschichte.
- Euer Vater, Hajj Mansur, ist der rechtmäßige Sohn Eures Großvaters, Hajj Tijani, aber Gott verfluche denjenigen, der all diese Verdächtigungen hervorgerufen hat. Ich möchte nicht ins Detail gehen, um keine Wunden aufzureißen, die mit den Menschen, die sie erlebt haben, eigentlich gestorben sind. Onkel Siddiq warf mir einen Blick zu. Diesmal war ich gemeint. Ich machte ein konzentriertes, bewegtes Gesicht, als wollte ich ihn ermutigen, mehr zu sagen.
- Hajj Saleh war, wie Ihr wisst, ein attraktiver Mann. Er lebte mit seinem Bruder Tijani unter einem Dach. Sie teilten ihre Mahlzeiten und sie teilten ihren Alltag. Nur der Schlaf trennte ihre Haushalte: Jeder hatte sein eigenes Zimmer, so wie es damals üblich war.
Mein verfluchter innerer Erzähler - dieser Hund - begann sich sofort etwas vorzustellen: einen attraktiven jungen Mann, seine Schwägerin, die Hitze der Wüste, die Härte des Lebens... Ich schloss für einen Moment die Augen. Siddiq schlug mit seinem Stock auf mich ein und ich kam wieder zu mir.
- Was die Leute nicht wissen, ist, dass die schwangere Umm al-Kheir während der ja nur allzu bekannten Heißhungerattacken und Schwächeanfällen, die Schwangere überkommen, sehr an Saleh hing. Sie sah ihn morgens und abends an, kam ihm näher, und wie gesagt, er war einfach sehr schön, möge Gott ihm gnädig sein. Das war völlig losgelöst von ihrem Willen, es waren die Regeln der Schwangerschaft. Als sie Abdullah gebar, sah er seinem Onkel Haji Saleh verblüffend ähnlich. Die Frauen haben deshalb mit ihrer bösartigen Fantasie sofort Geschichten darüber verbreitet. Die Erwähnung der imaginativen Kraft der Frauen fiel mir auf: Ich hatte in meinen Erzählungen noch nie eine weibliche Erzählerin verwendet. Warum sollte ich für diese Geschichte nicht eine Hündin statt eines Hundes wählen? Was für eine Gedankenblitz! Dann kehrte ich zu der Stimme des Onkels zurück.
- Mit den Jugendlichen war es nichts anders... (er schluckte mühsam seinen Speichel herunter). Dabei war es ein Schwangerschaftseffekt. Und zwar ein nur allzu bekannter Schwangerschaftseffekt.* Und Gott ist Zeuge dessen, was ich sage. Gott weiß, dass ich es schon vielen gesagt habe, aber es war mir immer peinlich, es Ihnen zu sagen. Dennoch ist es jetzt notwendig, dass Ihr diese Geschichte aus meinem Mund hört. Ich dachte eigentlich, das Schweigen würde diese Wunde schließlich trocknen lassen, wie eine Wunde am Knie... Aber Wunden heilen einfach nicht, wenn man sie mit den Fingernägeln immer wieder aufkratzt.
*Im Arabischen ist الوحام eine wichtige Phase während der Schwangerschaft einer Frau, in der sie Nahrung oder andere Dinge strikt verweigert oder sehnsüchtig begehrt. Wenn sie etwas wollte, es aber nicht bekommen hat, wird ein Abbild dieser Sachen auf der Haut des geborenen Kindes zu sehen sein.
Onkel Siddiq wischte sich über das Gesicht, als wolle er Schweiß und Staub abwaschen. Ich drehte mich um: Die Gesichter hatten ihre Farbe zurückgewonnen. Meine Zigarette war erloschen.
Der mit dem sanften Gesicht ergriff das Wort:
- Wir müssen Onkel Siddiq für seinen Mut und seine Weisheit danken.
Dann wandte er sich an mich:
- Die Lösung ist ganz einfach. Du musst dieses Detail in deine Geschichte einfügen.
- Welches Detail?
- Die Geschichte vom... des Heißhungers in der Schwangerschaft.
- Ah... der Heißhunger... ja, der Heißhunger. Sehr gut.
Ich ging hinaus, ohne mich von ihnen zu verabschieden. Onkel Siddiq hatte mir ein Zeichen zum Gehen gegeben. Er wollte meinem Blick nicht begegnen. Ich spürte, dass große Kompromisse oft eine große Lüge erfordern.
An der Tür landete plötzlich eine Frage aus dem Reich des Teufels im Nest meines Kopfes, und ich drehte mich zu Onkel Siddiq um, während ich meine Schuhe anzog:
- Was mich verwirrt, Onkel, ist, dass dieser Tick, beim Sprechen etwas Speichel zu verspritzen, eine wohlbekannte Angewohnheit meines Großvaters ist, die an meine Cousins weitergegeben wurde... Aber nicht an meinen Vater oder meine Brüder...
Onkel Siddiq hatte sich bereits an meine Cousins gewandt, bereit, ihnen zu erzählen, was sie hören wollten. Er empfing meine Frage wie einen Schlag auf den Kopf. Er bewegte den Kopf und sah mich in der Türöffnung stehen, gerade wie ein Pfahl. Dann sagte er mit ruhiger, weiser Stimme:
- Ich habe dir doch gesagt, dass es an der Schwangerschaft liegt... Und so ist es, du Schlingel. Nur die Schwangerschaft.