Jeden Tag lasse ich einen Vogel zurück
Anlässlich der aktuellen Katastrophe im Nahen Osten haben wir Autor:innen aus der Region eingeladen, Geschichten, Gedichte und Essays zu schreiben, um ein anderes Narrativ anzubieten als die gewöhnlichen „Breaking News“.
Ich hinterlasse jeden Tag ein Grab für den Mann, der ich war, ein Leichentuch für den Mann, der ich sein werde. Ich hinterlasse jeden Tag einen Vogel, der sicher vor mir am Bett meiner Mutter ankommt.
Ich reiße mir hier die Haut auf. Das Metier, das wir im Exil erlernen, wird zur Identität: das Zerreißen und Ausradieren. Wir sind es, die unsere Geschichten und die Bitterkeit darin wieder ausgraben und uns aus ihnen neue Tage nähen, Tage, in denen weiter tiefe Verzweiflung steckt. Sie vergiftet sie, und jedes Mal, wenn wir sie überwunden glauben, tauchen die Narben der Sehnsucht und der Erinnerungen wieder auf.
Jedes Mal, wenn ich mir die Haut aufreiße, finde ich Fragmente: die eingeklemmten Fingernägel eines Mannes in der Altstadt, geronnenes Blut aus der Kindheit, die Finger meiner Mutter, die mich in unserer kalten Wohnung wuschen, Rosenwasserduft, die Schläge meines Vaters mit dem Knüppel aus Granatapfelholz, die Einstiche des blauen BIC-Stifts, den mein Bruder in meine Haut bohrte. Jedes Mal, wenn ich nachforsche, finde ich die Vergangenheit in mein Fleisch geschrieben: schmerzhafte Liebesspuren, feurige Küsse, Bisse aus Angst, meine Liebhaber, die zu Waldgeistern wurden. Jedes Mal, wenn ich etwas aufreiße, stoße ich auf zerbrochenen Stahl, den Stahl meiner Stadt, die ich verlassen habe. Dieser Stahl, der von denen vergessen wurde, die mich hier in diesem neuen Land wieder zusammengesetzt haben.
Suhaib Ayoub ist ein libanesischer Dramatiker und Romanautor. Er hat zwei Romane auf Arabisch verfasst, die im Verlag Dar Nawfal in Beirut erschienen sind: Un homme de satin (2018) und Le loup de la famille (2024).
Hier sind wir bewusst oder unbewusst gezwungen, uns neu zu erfinden, uns selbst ein wenig zurückzulassen, um Schichten neuer Identitäten aufzunehmen: einige, die wir mit Vorsicht angehen, andere, die wir akzeptieren müssen, um uns anzupassen. Hier haben sie mich neu zusammengesetzt. Gemeinsam mit ihnen habe ich mich daran gemacht, mich selbst zu hinterfragen und meine Landkarte neu zu entwerfen. Denn weil wir nicht mehr dort sind, braucht es eine neue Karte. Dieses schwierige, zärtliche, explosive, verheerende, beruhigende, wilde und elende „dort“.
Hier, in der Gegenwart, müssen wir eine mentale Karte erstellen, auf der die Trauer nicht nur möglich, sondern beständig ist. Sie wird zu einem permanenten Abdruck, zu unserer Sprache als Exilanten, so unterschiedlich wir auch sein mögen. Diese Trauer stellt wieder eine Beziehung zu dem her, was wir erlebt haben und gerade erleben.
Dort, wo wir herkommen, ist alles gespeichert. Dort bewegen wir uns mit Leichtigkeit, ohne das Bedürfnis nach einem Führer oder einer Orientierungshilfe. Dort liegt alles, was wir kannten, liebten, hassten oder beneideten, nun hinter uns, kommt nicht mehr zurück. Denn, wie der Dichter Issa Makhlouf schreibt, „es kehrt von der Seite der Abwesenheit zurück“. Dort wussten wir, auch wenn wir nicht alles wussten, wie wir sogar blind nach Hause kommen, durch unsere Straßen gehen und in unseren Betten schlafen können. Aber hier sind wir verloren. Wir schlafen in den Betten und Zimmern anderer, und wir schlafen selten.
Im Exil schlafe ich nicht: Ich verirre mich in meinen Albträumen, versinke auf den Fliesen, in den Windungen des Geistes, in dieser ignorierten und aufgestauten Angst und in einem Tod, der die Risse in unseren Leben überlebt.
Ich habe meinen Körper geformt, der auf seiner langen Reise zwischen Städten, Gegenständen und den Trümmern der Trauer vielfach zerbrochen ist, und ich habe sein inneres Exil neu erfunden. Es gibt ein Exil im Exil, und jeder Schriftsteller hat seine vielen Exile. Mein Körper, der zum Wrack geworden ist, findet seine Narben und seine Vergangenheit an Orten, die zu seinen Zufluchtsorten geworden sind. Dieser Körper hat kein Zuhause. Hier habe ich kein Zuhause, und ich weiß zutiefst, dass Häuser vor allem unsere ersten Häuser sind, selbst wenn sie beschmutzt, von Schuld oder ererbtem Hass durchdrungen sind.
Die Fantasie ist also zu meinem Haus geworden, und das Exil zu seinem Werden: Es spiegelt sie wider und baut sie auf, Konzept für Konzept, Erfahrung für Erfahrung, Schicht auf Schicht. Heute bin ich ein vom Exil geformtes Gebäude, das keine Füße hat, um sich zu verankern. Es fliegt, setzt sich für einen Moment nieder, um sich auszuruhen, und fliegt dann wieder davon. Es sucht, ohne je zu finden, denn es hat keine Wurzeln mehr, es ist seit langem entwurzelt. Ich bin also frei. Und hier übt das Exil seine Macht aus: Es formt diese Freiheit, treibt sie wahnsinnig an, bis es meine Sicht der Welt kristallisiert, sowohl als Individuum als auch als Schriftsteller.
Seit neun Jahren weiß ich nicht, wie dieser Körper, der durch Angst, Furcht, Entfernung und Trennung geformt wurde, wieder in einen tiefen Schlaf fallen kann. Wie sollte er nicht durch Albträume und Träume dorthin zurückkehren? Wie sollte man nicht spüren, wie ihre Fäuste ihn ersticken, ihn von seinem eigenen Gewicht schütteln und erschrocken aufwachen? Eines Tages wachte Gloria Mizrahi, die Protagonistin meines Romans, in Madrid auf. Sie roch den Geruch von Brot, das auf der Plaza Malasaña aus dem Ofen kam, und beging Selbstmord, indem sie mit dem letzten Rinnsal Blut, das aus ihrer Schläfe floss, in ihre Stadt Tripolis zurückkehrte. Sie lag zwischen den Gegenständen, die sie aus der Stadt mitgenommen hatte, die sie für immer verlassen hatte.
Hier kann ich meine tiefste Angst zum Ausdruck bringen: dass mein Schicksal dem ihren ähnelt. Dass ich mich am Ende in den Städten anderer Menschen, weit weg von meiner eigenen Stadt, umbringe. Denn, wie Jabbour Douaihy einmal in seiner Kurzgeschichtensammlung schrieb: „Unter den eigenen Leuten zu sterben, ist wie einschlafen“.
Ich bin dieses Wesen, das in Panik wie Gloria aufwacht, um zwei Uhr morgens Wasser schluckt und die Stille dieser Stadt betrachtet, die man die Stadt des Lichts nennt. Er geht aus dem Haus und geht zu Fuß. Es gibt keinen Lärm, vielleicht nur den eines Obdachlosen, der seine Flasche verloren hat. Ich bin wie er, ein Obdachloser. Ich weigere mich, meinen Zustand anzuerkennen. Ich ziehe meine gemusterten Hemden, bunten Broschen und Seidenschals an und gehe hinaus, damit sie meine Irrfahrt nicht entdecken. Ich bin unvollständig, und ich gebe es nicht zu. Aber ich versuche zu leben, mit gekappten Wurzeln und einem wiederaufgebauten Körper. Seine Gelenke versuchen, leichter zu werden, sich zu bewegen, zu stolpern.
Mein Exil hat jedoch den Horizont meines Geistes erweitert und mein Wissen bereichert. Es hat mich zu Dialekten und Sprachen geführt, von denen ich einige beherrsche. Es hat mir Experimente und Freiheit geboten und mich an Orte gebracht, an die ich nie hätte gelangen können: zu einem Wissen, das fast jedem zugänglich ist, zu fast magischen Erfahrungen und zu Beziehungen, die von Vielfalt, Freiheit und Staunen geprägt sind.
Die Bücher, das Kino und das Theater, die nun Teil meines neuen Lebens sind, waren die Begleiter meiner strengen Einsamkeit im Exil. Sie bilden heute ein unsichtbares Haus, das mich vor allem vor mir selbst schützt. Als ich auf dem Flughafen Charles de Gaulle landete, war der letzte Rest meines alten Ichs erloschen. Es fiel von mir ab wie ein ferner Schlaf. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich kann mich nicht einmal mehr an das letzte Mal erinnern, als ich meine Stadt Tripolis gesehen habe. Also stelle ich mir alles vor, mit der Unschuld derer, die wieder an ihre Erinnerungen anknüpfen.
Ich habe versucht, meine Stadt neu zu erfinden, und ich versuche es immer noch. Denn hier konnte ich sie neu erschaffen, mit riesigen Räumen der Beschwörung und der Liebe. Ich empfinde keine Bitterkeit mehr gegenüber dem Schmerz, den sie mir zugefügt hat. Im Gegenteil, ich habe gelernt, ihn zu schätzen, indem ich ihn dokumentierte, ihn von seiner blutigen Vergangenheit und seinen persönlichen Tragödien befreite und seine Geschichten mit einem distanzierten Blick, der ihn nicht mehr ablehnt, neu zusammenfügte. Die Literatur, dieser Akt des Schreibens, Reflektierens und Komponierens, hat mir Spielfelder eröffnet, die ich verloren hatte. Die Literatur ist hier, nicht dort.
Die Literatur, die ich in meinen Pariser Zimmern, in den Bars der Stadt, in ihren quälenden Nächten und mit der Freiheit, die das Exil in all seinen Formen erweitert hat, gestalte, verleiht meinem Schreiben über meine ferne Stadt heute eine besondere Intensität. Sie entlastet meine Zunge und meine Finger und ermöglicht es mir, das zu sagen, was in meiner ersten Stadt unaussprechlich war. Sie hilft mir, voranzukommen und einen anderen Souhaib zu formen, einen, der sich von dem, der ich war, gelöst hat und von dem alten nur den Namen behalten hat. Souhaib ist für sich selbst zum Rätsel geworden. Sein heutiges Gewand hat nichts mit dem zu tun, das er einst trug, weder sein Akzent noch seine Sprache, nicht einmal seine Schrift, die nun durch ihre Worte und ihre Bedeutung die Sprache des Exils atmet.
Ich habe meine alte Sprache hinter mir gelassen, die durch den schriftlichen Journalismus in Tripoli und später in Beirut geschmiedet wurde. Ich habe die Muttersprache aufgegeben, die mich manchmal stolpern lässt. Dann flüchte ich mich in das poetische Schreiben auf Französisch, als eine Art, diesen letzten Aspekt meiner Identität anzuerkennen. Ich schlendere durch die Bars von Strasbourg-Saint-Denis und esse in den Restaurants der Bastille und von Saint-Germain wie ein Unsichtbarer. Vielleicht ist das ein geheimes Vergnügen: ein Geist zu werden. Ich durchquere furchtlos die Metrostationen, die Treppen von Montmartre, und ich lege mich leicht ins Gras des Jardin du Luxembourg und beobachte diese Welt mit der Zärtlichkeit eines Fremden.
Ich bin ein Fremder, wie ich es schon in meiner eigenen Stadt war und wie ich es in allen Städten der Welt sein werde. Es gibt kein Entkommen aus meinem Exil, kein Entkommen aus meiner Fremdheit. Als ich an einem heißen Tag im Spätsommer 2015 in Paris ankam, hatte ich meinen Körper in Tripolis zurückgelassen. Und als ich hier ankam, stellte ich fest, dass sich viele Geister in mir eingenistet hatten.
Lange Zeit glaubte ich, dass wir unsere vergangenen Fußabdrücke in unseren Taschen aufbewahren und sie hinter uns säen können, wie Samen, die uns eines Tages den Weg weisen würden. Aber irgendwann habe ich begriffen, dass es für uns keinen Weg gibt. Wir sind nur Körper, die von den Straßen, die wir gezwungenermaßen nehmen mussten, geformt und verändert wurden. Ich bin ein neuer Körper, ohne Verbindung zu dem, der ich war, oder zu dem, der ich werden werde. Ich bin ein Wesen, das in einem Gedicht oder einer Filmszene schläft, das wie ein Geist zwischen den Tischen der Cafés umherwandert und Helden erfindet, um sie nachts mit sich in seine Stadt zu nehmen.
Jeden Tag kehre ich in diese Stadt zurück und wache dann erschrocken auf, während ich vor ihr fliehe. Ich nehme schnell einen Schluck Wasser und gehe auf die Straße, um den Obdachlosen zu finden, der seine Flasche verloren hat.