Eine Hand sucht die andere

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Eine Hand sucht die andere

Ein Gedicht aus dem Libanon
Bana Baydoun

Anlässlich der aktuellen Katastrophe im Nahen Osten haben wir Autor:innen aus der Region eingeladen, Geschichten, Gedichte und Essays zu schreiben, um ein anderes Narrativ anzubieten als die gewöhnlichen „Breaking News“.

Vom Bildschirm fällt eine Hand, fällt ein Auge, fällt ein Herz
Ein Auge, das vom Paar das andere sucht, 
Eben noch schauten sie gemeinsam in den Himmel, 
als er zusammenbrach

Eine Hand umfasst eine andere,
Sie gehören zwei Jungen, die kurz zuvor gemeinsam tobten 
Die Mutter wollte sie gerade schimpfen, da fiel der Himmel wieder 
Die Hand blieb an der Hand des Freundes hängen

Die Überlebenden versuchen, die Stücke wieder zusammenzufügen,
aber einige wollen nicht loslassen

In Gaza schlafen Mütter, die das Herz ihrer Söhne in ihren Händen halten 
Es schlafen Brüder mit den Lungen ihrer Schwestern auf dem Herzen 
Jedes Teil ist mit dem anderen verbunden, jeder wacht über den anderen

Bana Beydoun ist eine libanesische Dichterin und Schriftstellerin.

Alle Kriege haben Kollateralschäden, sagt der Moderator süffisant auf Englisch
Während ein Kind in Gaza sorgsam die Körperteile des Bruders aufliest und sie in
seine Schultasche legt
Dem Arzt wird es vom Lachen des Bruders erzählen, von seinen kräftigen Schlägen,
seiner lauten, manchmal nervigen Stimme 
Kein Detail wird es vergessen, damit der Arzt den Bruder so zusammenflickt, wie er war

Alle Kriege haben Kollateralschäden, wiederholt der Moderator
Während ein Vater robotergleich seine beiden Kinder in Nylonbeuteln wegträgt 
Seine Augen sinken versteinert jedes Mal tief in die Höhlen, wenn die Stadt wieder bebt

"Verurteilen Sie sich nicht selbst?", fragt der Moderator 
Er antwortet nicht. Der Moderator, überzeugt von der Gültigkeit seiner Theorie,
leckt sich über die rissige Lippe
und schluckt, was von Haut und Blutkruste bleibt

Wieder stürzt der Himmel herab

Die Putzkraft im Studio wischt auf
Fragmente fallen vom Bildschirm,
verbinden sich miteinander 
Sie türmen sich auf, bis sie einen einzigen Körper bilden,
der sich streckt, bis zum flammenden Abgrund,
dort, wo einst ein Himmel war

In Gaza geht das Jenseits diesem Leben voraus

In Gaza endet die Welt jeden Tag
Und auf allen vieren sammelt ein Kind die Scherben auf,
Die Welt ist nur ein Puzzleteil, zu finden lose verstreut zwischen dem einen Tod und einem anderen
In Gaza leben diejenigen, die nicht auf der Karte dieser Welt erscheinen,
In Gaza leben diejenigen, die weder im Verzeichnis der Lebenden noch der Toten stehen.
Lange noch werden sie leben, wenn alles erloschen ist.
Sie wurden geboren, nachdem die Welt zu Ende ging.