Eine Hand

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Eine Hand

Das Mobiliar des Celan’schen Gedichts
Alexandru Bulucz
Bildunterschrift
Alexandru Bulucz

Eine Hand (Paul Celan)

Der Tisch, aus Stundenholz, mit

dem Reisgericht und dem Wein.

Es wird

geschwiegen, gegessen, getrunken.

 

Eine Hand, die ich küsste,

leuchtet den Mündern.

Galante Lügen: die Lyrikkolumne unter der Federführung von Alexandru Bulucz - frei nach Johann Christian Günther, dem Barockdichter auf der Schwelle zur Aufklärung, der Spötter mit den Worten wiedergab, Poeten seien "nur galante Lügner". Hier wird Dichtung reflektiert und präsentiert werden: in Rezensionen, Essays, Monatsgedichten und gelegentlich auch Bestenlisten.

Als Ingeborg Bachmann und Paul Celan im Herbst 1957 erneut zum Liebespaar wurden, nahmen sie auch den Faden ihres poetischen Gesprächs wieder auf. Dem war jedoch nicht viel Zeit vergönnt: Am 7. Januar 1958 schickte er ihr „Eine Hand“ – das Gedicht, in dem geschwiegen wird, war ausgerechnet das letzte eigene, das er auf den Postweg zu ihr geben würde. 1959 nahm er es dann in seinen Gedichtband Sprachgitter auf.

Die Bildlichkeit ist eingängig: Eine einfache Mahlzeit, bestehend aus einem Reisgericht und dem Wein, eine Hand als Pars pro Toto, stehend für das Gegenüber, und ein Kuss. Das lyrische Wir bleibt in der Passivkonstruktion irritierend unausgesprochen. Das Schweigen wird neben dem Essen und dem Trinken als gleichwertiger Bestandteil der Mahlzeit, geradezu als Nahrung behandelt, als immaterielles Pendant zum Essen und dem Trinken.

Die Motive des Weins und des Schweigens machen das Gedicht für religiöse Lesarten empfänglich. Diskutiert wird es etwa auch im Kontext des Pessachfestes und der Abendmahlfeier. Es ist aber vor allem das Stundenholz – die Profanierung des Sakralgegenstands zu einem Tisch als Ort der Begegnung –, das „Eine Hand“ eindeutig in der Religion verortet. Im Zusammenspiel mit dem Kuss unterstreicht es die religiöse Dimension der Erotik. Celan kannte das auch Stundentrommel genannte, die Glocke ergänzende Schlag- und Klangbrett der Ostkirchen (gr. semantron) vermutlich schon aus der Bukowina, spätestens aus Rumänien und wahrscheinlich auch aus dem Buch Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos (1956) von Erhart Kästner, der 1958 die „Rede für Paul Celan bei Verleihung des Bremer Literaturpreises“ hielt. 

Das „Rufen“ mönchischer Gemeinschaften zu Gottesdiensten durch das Schlagen des Stundenholzes ist schon seit dem 4. Jahrhundert belegt. Eine Vorform dessen soll das Wecken der Mönche durch Schläge an die Zelltüren mit einem sogenannten Weckhammer gewesen sein. Insofern wäre das Schlagen des Stundenholz die ökonomischere Variante. Nach dem Umar-Pakt infolge der muslimischen Eroberung Jerusalems im 7. Jahrhundert, der auch die liturgische Praxis der Christen regelte, war das Schlagen des Stundenholzes vier Jahrhunderte lang ihre einzige Möglichkeit, anstehende Versammlungen zu signalisieren. Das Instrument ist in Rumänien bis heute derart gegenwärtig, dass das entsprechende rumänische Wort dafür, „toaca“, in eine Reihe von rumänischen Redewendungen Eingang gefunden hat und eng mit dem Zeitbegriff der rumänischsprachigen Welt verknüpft ist: „pe la toacă“ etwa heißt „um die Vesperzeit“.

Für das Stundenholz eignet sich aufgrund seiner Beschaffenheit und Klang- und Resonanzqualität insbesondere Berg-Ahorn. Mit seinen zweiteiligen Flügelnüssen, dem von Kindern gern zum „Propellerspiel“ eingesetzten engelhaften Flügelpaar, ist der Berg-Ahorn ein Flügelflieger (Pterometeorochorie) und spiegelt als solcher zufällig die symbolische Funktion des Stundenholzes als Engelsposaune. Die Stundenholzklänge zeugen von der religiösen Vorstellung einer von Engeln erschaffenen Musik und verbinden irdische und himmlische Musik, Erde und Himmel, Mensch und Gott. 

Der griechische Maler Emmanuel Zanfurnari, er wirkte im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert und ist für seinen kompositorisch komplexen byzantinisch-venezianischen Stil bekannt, hat diese Verbindung unverhohlen gezeigt – eine Ausnahme in der reichen Kunstgeschichte. Derjenige, der auf seinem von der Vatikanischen Pinakothek beherbergten Tafelbild „Die Entschlafung des Heiligen Ephraim des Syrers“ das Stundenholz schlägt, um die mönchische Trauergemeinschaft zu Ephraims Begräbnis zu versammeln, ist nicht, wie man vermuten würde, als Mönch dargestellt, sondern als Engel. Dafür benutzt er ein kleines Stundenholz, das Hand-Semantron, das er mittig in der einen Hand trägt und mit einem Holzhammer in der anderen schlägt. 

Paul Celan lässt in seinem Gedicht offen, ob es sich um das kleine oder das große Stundenholz handelt. Letzteres ist ein freischwingend aufgehängter Holzbalken und kann mit zwei Holzhämmern geschlagen werden.