So kommt man zur Theorie

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So kommt man zur Theorie

Zur Anatomie des glücklichen Fussballfans
Mario Bernet
Bildunterschrift
Mario Bernet

Mario Bernet ist Grundschullehrer. Daneben Schulbuchautor, Kolumnist in einer pädagogischen Zeitschrift und Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich und seit seiner Kindheit unverbesserlicher Fan des FC Zürich.

«Frag nicht, was die Mannschaft für dich tun kann. 
Frag, was du für die Mannschaft tun kannst.»
- Jakob »Köbi« Kuhn, Schweizer Fussballlegende

«Was tust du da?» Klang die Frage meiner Arbeitskollegin erstaunt, spöttisch oder gar vorwurfsvoll? Jedenfalls fiel mir die Dose mit den Reissnägeln aus der Hand und der Spielplan zur EURO 2024 baumelte schief an der Wand unseres Teamzimmers. In stiller Vorfreude hatte ich an meiner kleinen Oase für die kommenden Wochen gebastelt. Nein, ertappt fühlte ich mich nicht, aber ich war unschlüssig: Sollte ich mich auf die Frage meiner Kollegin einlassen? Sie liess nicht locker: «Weisst du, was Alex Capus dazu sagen würde? Fankult ist Opium fürs Volk. Er hält unseren Verstand zwecklos beschäftigt und hindert uns daran, uns wirklich mit der Welt zu beschäftigen, in der wir leben.» (1)  Mit diesem Steilpass schickte sie mich in die Tiefe des Raumes, und ich versprach ihr eine gründliche Antwort. Wenn ich sie richtig verstehe, wollte sie wissen, ob Fussballbegeisterung nicht zwingend mit Dummheit einhergeht. Liebe Kollegin, hier ist die kleine Ballstafette zu deiner Frage:

 (1) Alex Capus: Warum ich kein Fussballfan bin. In: ZWÖLF. Fussballgeschichten aus der Schweiz Nr. 90 (2022), S. 27

Kein Beifall, keine galoppierenden Pferde

Von entwaffnender gedanklicher Klarheit war der Befund des Altgriechen Epiktet, noch ehe der Fussball erfunden war: «Häufiger Besuch der Spiele ist nicht nötig. Gerätst du einmal dazu, so blicke nur auf dich. Nimm hin, was geschieht, und gönne jedem seinen Sieg. So bleibt deine Haltung ungestört. Beifallsrufe, Gelächter oder bewegte Anteilnahme vermeide völlig.» (2) Damit war die Torte vor fast 2000 Jahren theoretisch gegessen, aber Epiktet hatte die Rechnung ohne das Labyrinth gemacht, das die Seele des gemeinen Fans ausmacht. Und so schwelten Spiel und Wettstreit durch die Jahrhunderte weiter, nahmen vielleicht zivilisiertere Formen an, drehten sich aber weiterhin um Sieg und Niederlage – und der Fan fieberte mit und setzte seine Seele frohgemut der Laune des Zufalls aus.

 (2) Epiktet: Handbüchlein der Moral. Zürich 1987: Diogenes, S. 51


Es ist bemerkenswert, dass die Anekdote um einen aristokratischen Weisen aus dem mittleren Osten kolportiert wird, um die Nichtigkeit der abendländischen Spielversessenheit zu enthüllen. Der Schah von Persien soll vor über hundert Jahren bei einem Besuch am kaiserlichen Hof in Berlin die Einladung zu einem Galopprennen ausgeschlagen haben, und zwar mit dem Hinweis: «Dass ein Pferd schneller läuft als das andere, weiss ich. Mich interessiert nicht zu wissen, welches.»

 (3) Zitiert nach: Dirk Schümer: Gott ist rund. Die Kultur des Fussballs. Berlin 1996: Berlin Verlag

Fussball als Gespräch

Nobel, was der Schah mit trockenem Humor vorgetragen haben soll. Aber ohne den Unterhaltungswert eines Pferderennens schmälern zu wollen, sei doch der Einwand erlaubt: Hätte der Adlige ähnlich ungerührt auch die Einladung zu einem Fussballspiel verschmäht? Epiktet und dem persischen Edelmann blieb erspart, ihr lakonisches Urteil dem Charme eines Fussballspiels auszusetzen. 

 (4) Philippe Dubath: Zidane und ich. Brief eines Fussballspielers an seine Frau. Zürich 2004: Bilgerverlag, S. 29

Da wäre einmal das Geschehen auf dem Rasen selbst, das ungleich vielschichtiger ist als die Gehetztheit von Pferd und Reiter: «Der andere ist da, ohne ihn würde es kein Spiel geben. Genauso wenig ohne dich. Ihm gut den Ball zuzuspielen heisst, ihn respektieren.» (4) So brachte es Philippe Dubath in seiner Liebeserklärung an den Fussball auf den Punkt: Fussball ist in seinem Kern eine Form des Gesprächs, eine Suche nach Verständigung von Fuss zu Fuss.
Für die Betrachtenden gilt also zumindest: Ihr Gegenstand ist nicht einfach ein trüber Wettstreit, sie haben es mit nichts weniger als einer Analogie zu den Gezeiten des Lebens zu tun: «Genau das bindet uns an ihn. Das Spiel, das immer wieder von vorn anfängt. Alles fängt immer und immer wieder von vorne an. Alles ist vergeblich, weil vergänglich, aber alles lässt sich immer wieder neu aufbauen.» (Dubath 2004, S. 58)

Hooligans des Denkens

So einladend und gehaltvoll Dubaths Einwände gegen die Gelassenheit auch wirken mögen, sie bringen die hartnäckige These nicht zum Verschwinden: Die Euphorie angesichts des sportlichen Wettstreits sei Sache des gemeinen, ungebildeten Publikums, das vorsätzlich Woche für Woche den eigenen Seelenfrieden gefährdet und Unfrieden verbreitet. «Fussball ist Krieg»: Ausgerechnet Rinus Michels, FIFA-zertifizierter «Fussballtrainer des 20. Jahrhunderts», soll verantwortlich sein für diese vernichtende Gleichung. (5) Er soll sich auch nicht gescheut haben, von seinen Spielern den «Totalen Fussball» zu fordern, mit dem er erst im Final der Weltmeistermeisterschaft 1974 gebremst wurde. 

(5) Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fussball als Realitätsmodell. Köln 2004: Kiepenheuer & Witsch, S. 94

Der Literatur- und Sozialwissenschaftler Klaus Theweleit hat Michels’ Diktum einer differenzierten Überprüfung unterzogen. Diese bringt ihn zunächst in die Nähe von Dubath. Fast schon befangen wirkt daher seine Behauptung: «Beide Mannschaften kämpfen auch - ob ihnen dies bewusst ist oder nicht - für die Unversehrtheit des Balles. Am Grunde des Spiels liegt für alle ihre Liebe zum Ball.» (Theweleit 2004, S. 95) Nichts Neues, lässt sich da einwenden. Aber Theweleit ist vertraut mit den Versuchungen, die im Fussballspiel auch lauern, geht kenntnisreich auf diese ein und bilanziert: «Wenn so die einen sagen, Fußball militarisiere, kann mit gleichem Recht geantwortet werden, Fußball zivilisiere kriegerische Potenziale.» (Ebd.) Oder etwas anschaulicher: «95 % der Zuschauer in den Stadien bekämpfen Wochenende für Wochenende erfolgreich den eigenen Hooliganismus.» (Theweleit 2004, S.96)

Eptiket und dem Schah kann somit entgegengehalten werden: Beim Fussball geht es nicht um einen ausgewogenen Gefühlshaushalt, vielmehr sind darin die Ausprägungen von Wettstreit, Sieg und Niederlage, Euphorie und Enttäuschung zu einem Spiel des Lebens verwoben. Es ist somit mehr als ein abgeschmackter Rausch, den dieses Spiels verspricht - womit auch der Vorwurf, der Fussball sei das moderne «Opium des Volkes», zu kurz greift. (6)    

 (6) Vgl. dazu: Eduardo Galeano: Der Ball ist rund und Tore lauern überall. Wuppertal 1997: Peter Hammer, S. 47-48

Albert Camus, Robin Hood und der liebe Gott

«Madrid oder Mailand, Hauptsache Italien.» Unfreiwillige Perlen wie diese, die dem deutschen Fussballer Andreas Möller zugeschrieben wird, machen unter kultivierten Fussballfans die Runde. Damit lassen sich nicht in erster Linie Rückschlüsse ziehen auf den Bildungshorizont der Stars, vielmehr manifestiert sich darin die Überheblichkeit des aufgeklärten Fussball-Zaungastes, der nicht zu seiner Begeisterung steht. Er bestaunt die Ballfertigkeit der Stars und ist neidisch auf die Annehmlichkeiten, die mit dieser Kunst verbunden sind, möchte aber signalisieren: Früher war mir Ernst mit diesem primitiven Vergnügen, nun will ich Besseres im Sinn haben.

 (7) Albert Camus: Was ich dem Sport verdanke. In: Le Monde diplomatique 11.06.2004

Dabei gibt es Dokumente, die einen differenzierten Blick ins Innenleben des Fussballs und mögliche Rückschlüsse auf das richtige Leben freigeben. Als einzigartiges Juwel gilt darunter ein beiläufig verfasster Zeitungsartikel von Albert Camus, einst ein passabler Fussball-Torhüter, aber bekannter geworden als unbestrittener Zinédine Zidane der französischen Literatur und Moralphilosophie.
«Denn auch wenn mir die Welt in all den Jahren einiges geboten hat, alles, was ich schliesslich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtungen weiss, verdanke ich dem Sport.» (7) Dass es zulässig ist, Sport mit Fussball gleichzusetzen, verbürgt der Rest des Textes, in dem es um Camus’ Juniorenzeit bei Racing Universitaire d’Alger geht. Diese Zuckerflanke des Meisters wird denn auch immer wieder ins Feld geführt, wenn es darum geht, der Fussballbegeisterung höhere Weihen zu verleihen.

 (8) Raphaël Nuzzolo: Veränderungen mag ich nicht so. Interview in: ZWÖLF. Fussballgeschichten aus der Schweiz Nr. 80 (2020), S. 47

Dabei gibt es bescheidenere, nicht minder ergiebige Dokumente. Zwei davon seien hier vorgestellt, in beiden kommen Fussballer zu Wort, die im Schweizer Spitzenfussball von sich reden gemacht haben. Da ist zunächst Raphaël Nuzzolo, ein ebenso produktiver wie bescheidener Stürmer beim Verein Neuchâtel Xamax, der in seiner zwanzig Jahre dauernden Karriere als Berufsfussballer auch durch eine beispielhafte Vereinstreue zu gefallen wusste. In einem Interview mit dem Fussball-Magazin «Zwölf» bedauert der Stürmer, dass der «Video Assistant Referee» das Wirken der Stürmer im Strafraum einschränke. Früher habe er mit der Fehlbarkeit der Schiedsrichter spielen können: «Wenn du im Sechzehner warst und der Gegner tackelte, musstest du den Penalty suchen. Wenn ich ein Tor mit der Hand erzielen muss, um der Mannschaft zu helfen, dann tue ich das.» (8)    
Ist Nuzzolos Geständnis leichtsinnig und gar Ausdruck einer unmoralischen Haltung? Auf den ersten Blick gibt’s da wenig zu retten, der Stürmer sucht den Betrug. Aber ist die Lage genauso eindeutig, wenn Neuchâtel Xamax beim übermächtigen FC Basel zu Gast ist? Umweht den fehlbaren Stürmer dann nicht plötzlich ein Hauch von Gerechtigkeit, der an Robin Hood gemahnt? Wie auch immer: Wir sind definitiv bei Fragen der Gerechtigkeit angelangt. Dafür ist zwar nicht die Philosophie im Sinne des Nachsinnens über umfassendes Glück wie bei Epiktet zuständig, aber eine ihrer Teildisziplinen: die Ethik.

(9) Geoffroy Sere Die: Weil Gott mich liebt. Interview in: ZWÖLF. Fussballgeschichten aus der Schweiz Nr. 36 (2013), S. 22-23

Im gleichen Magazin wurde Geoffroy Serey Dié befragt, ein ungestümer Fussballprofi mit einer spektakuläreren Laufbahn, die ihn von der Elfenbeinküste in die Stadien Tunesiens, Deutschlands und der Schweiz brachte. Viele helvetische Fussballfans verbinden seinen Namen bis heute mit einer Ohrfeige, die er im Jahr 2012 in Lausanne einem Balljungen verpasste. Der Interviewer lanciert den Fussballer mit der Frage, wie denn sein Leben sei. «Es ist immer schwierig», antwortet Serey Dié und schiebt nach: «Weil Gott mich liebt.» Der Interviewer bittet ihn, diesen überraschenden Hackentrick zu erläutern. «Gott hat mir ein wundervolles Leben geschenkt. Es wäre nicht gerecht, wenn mich Gott nicht regelmässig prüfen würde. Ich hätte ja keine Gewissheit, dass er existiert.» (9)   Zugegeben: Den geneigten Leser und die sachverständige Leserin mag dieser Doppelpass in ungläubigem Schwindel erstarren lassen, aber kaum jemand wird Lust empfinden, Serey Dié von den Beinen zu holen.

Nach dem Fussball

«Als im fünften Schuljahr unsere erste Klassenmannschaft zusammengestellt wurde, war ich nicht dabei. Ich gehörte zu den dreien, die nicht mitspielen konnten. So kommt man zur Theorie.» (Schümer 1996, S. 265) Nach Epiktet ist der Fussball ein Hindernis auf der Suche nach Glück und Gelassenheit. Aber manch ein verhinderter Fussballer beschäftigt sich mit Fragen, die immerhin beweisen, dass Fussball nicht das Gegenteil von Philosophie ist.