Heut noch
Zsuzsanna Gahse ist eine österreichisch-deutsch-schweizerische Autorin; sie floh mit ihrer ungarischen Familie 1956 in den Westen, Stationen seither sind Wien, Stuttgart und Luzern – heute lebt sie in Müllheim (Kanton Thurgau, Schweiz). Ihre literarische Arbeit ist zwischen Prosa und Lyrik, zwischen erzählerischen und szenischen Texten angesiedelt. Für ihre rund 30 Buchpublikationen und Übersetzungen erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen.
Auf dem Weg zum Hotel fragte ich einen mir bekannten ungarischen Autor, nennen wir ihn Eduard oder Peter Paul, wie es derzeit einer gemeinsamen Bekannten gehe. Mit ihr sprach ich bei unserer letzten Begegnung von einem alten Buch, das wir zur Grundschulzeit wohl gleichzeitig gelesen hatten und das uns nach wie vor interessierte. Ich erinnere mich an das Kapitel, in dem von besonderen fremden Sprachen die Rede war, von erstaunlichen Ausdrucksweisen wie zum Beispiel es wird durch mich gesprochen, anstatt ich spreche oder es wird durch mich gesungen, anstatt ich singe. Als ich das Peter Paul erzählte, antwortete er auf Anhieb und lächelnd, dass es sich bei jenem Buch um eine sozialistische Behauptung gehandelt habe. Kurz später war meinerseits vom gemeinsamen Ursprung der finnisch-ungarischen Sprachen die Rede. Dazu könne er nichts sagen, meinte er. Im Ungarischen stecke eher Deutsch, Türkisch oder Serbisch.
Vor Jahren hatte der damals auch hierzulande bekannte György Konrád über seine Muttersprache fast wörtlich so gesprochen und Gemeinsamkeiten mit dem Finnischen eindeutig abgelehnt. Konrád galt als politisch wacher Autor, umso mehr war ich über seine Auffassung erstaunt.
Es ist irritierend, wenn ein Schriftsteller zwischen Lehnwörtern, die aus einem nahe gelegenen oder angesehenen Land eingewandert sind und der Grundstruktur einer Sprache nicht unterscheiden kann oder will. Und wenn er elementare, erkennbar gemeinsame, offensichtlich uralte Wörter ignoriert und dieses Nichtwissen, diese Stumpfheit sogar für die aufgeklärte Haltung, für die Distanzierung von einer ehemaligen Diktatur oder wovon auch immer darstellen will, kann ich schlecht weiter zuhören und habe zumindest Ohrensausen. Mit einer politischen Distanzierung hat das überhaupt nichts zu tun. Ich glaube nicht, dass Peter Paul oder sonst jemand behaupten wollte, dass Sprachen eigenständig und ohne Zusammenhang mit anderen Sprachen vom Himmel fallen und später mit einzelnen Wörtern bestückt werden, die aus benachbarten Ländern übernommen wurden. Peter Paul lächelte aus einer Verstocktheit heraus. Er hatte einen Schal um den Hals und sprach in seinen Schal hinein.
Sicher hatte die Sowjetunion die Zusammengehörigkeit der verbündeten Länder jahrelang überbetont, und das wiederhole ich, um Peter Paul und den einst bekannten György Konrád nicht allzu brüsk in eine Ecke zu stellen: Sicher hatte die Sowjetunion die enge Zusammengehörigkeit der verbündeten Länder einst überbetont, aber gerade den Etymologen wurde viel Freiraum gelassen. Einen ehemals hoch angesehenen Sprachforscher der finno-ugrischen Sprache (Géza Bárczy) habe ich gerne ausführlich gelesen und hatte dadurch einen Riesengewinn. Ihn kannten und kennen von der Uni her die studierten Autoren, vielleicht sogar die Nichtstudierten, aber sie schauen von oben auf ihn herab und lächeln in ihre Schals hinein. Sie sehen sich als aufgeklärte Gegner eines vergangenen Regimes oder welchen Regimes auch immer, sie sind stolz auf ihre Haltung, und nach wie vor werfen sie die Sprachen über Bord, sie werfen ganze Sprachen über Bord, um zu keinem der ehemals Verbündeten zu gehören. Das tun manche heut noch. Sie wissen genau, zu wem sie keine Verbindung haben wollen. (Bei ihren Ansichten erwägen sie auch eigene Vorteile.) Sie verpuppen sich in ihren eigenen Köpfen, gewisse Hirnregionen stecken in Kokons, und wohin sich einmal der Larvenzustand entwickeln wird, ist unbekannt. Das Gespinst könnte eines Tages völlig eintrocknen. Und am Ende ist dieser gewollte Larvenzustand eine Parallele zur unglücklichen Erkrankung durch Alzheimer.
Hinzufügen sollte ich, dass es von Vorteil ist (ein Privileg ist, sagt man heute), eine finno-ugrische Sprache zu kennen und dadurch die völlig anders gebauten europäischen Idiome in ihren Zusammenhängen zu sehen. Die Ähnlichkeiten zwischen Slawisch, Germanisch, Romanisch oder Griechisch sind beeindruckend, dass aber nicht alle erdenklichen Sprachen entsprechend gebaut sein müssen, ist zum Beispiel durch die Struktur des Ungarischen deutlich sichtbar. Nur zum Beispiel, denn Kenner des Türkischen, Baskischen oder einer arabischen Sprache haben (eine lange Liste könnte hier noch folgen) ebenfalls das Privileg, die Sprachfamilien in Europa zu sehen.
Eine Fortsetzung folgt selbstverständlich unter dem Stichwort Schal.