Das uralte Dilemma zwischen Journalismus und Literatur

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Das uralte Dilemma zwischen Journalismus und Literatur

Warum Fakten als literarische Ressource unverzichtbar sind: Ein Streifzug durch die lateinamerikanische Literatur entlang der Grenzen zwischen Wahrem und Unwahrem
Juan Carlos Guardela Vásquez
Bildunterschrift
Juan Carlos Guardela Vásquez

Juan Carlos Guardela Vásquez (San Juan Nepomuceno, Bolívar) ist sozialer Kommentator, Chronist und Universitätsprofessor. Er arbeitet für Presse, Rundfunk und Fernsehen und veröffentlichte unter anderem zwei Reportage-Bände: El edén vencido (2020) und Lo que va a sanar espanta (2011). Beiträge von ihm wurden auch in die Anthologie Lo mejor del periodismo de América Latina aufgenommen, mit einem Vorwort von Tomás Eloy Martínez, veröffentlicht im Verlag Fondo de Cultura Económica (FCE) im Jahr 2006.

Fiktion und Realität

Viele Autoren halten es für falsch, hier eine Dichotomie zu sehen, aber ich glaube, dass es unter den gegenwärtigen Umständen angebracht ist, sich diesen Sachverhalt wieder einmal genauer anzusehen. Sollten Fiktion und Realität beim Schreiben auseinander gehalten werden, erst recht im Journalismus?

Manche Schriftsteller halten alles für Fiktion, schließlich ist Schreiben Mimesis, also die Nachahmung der Wirklichkeit, um es salopp auszudrücken. Bei dieser Nachahmung dürfen Dialoge oder fiktive Figuren eingeführt werden, um eine noch nicht erzählte Realität zu vermitteln. Für andere gibt es eine klare Trennung zwischen Literatur und Journalismus: Beim Schreiben sollten die Fakten gewahrt werden. 

Der Mexikaner Juan Villoro setzte dieser Diskussion vor einigen Jahren einen seinem  Essay La crónica, ornitorrinco de la prosa einen klaren Schlusspunkt,  in dem er die Chronik mit einem Tier verglich, weil sie auf eine Vielzahl von Genres zurückgreife. „Das Vorurteil“, so Villoro, „dass der Schriftsteller ein Künstler und der Journalist ein Handwerker sei, ist  völlig überholt. Eine gelungene Chronik ist  wie gedruckte Literatur “. Eine Chronik kann sich der Mittel des Romans, der Reportage, der Erzählung, des Interviews, des Theaters, des Essays oder der Autobiographie bedienen. „Die Liste der Einflüsse sind schier endlos.“

Diese Definition wird von Anhängern der Interdisziplinarität verteidigt, da für sie die traditionellen Grenzen verschiedener akademischer Disziplinen überschritten werden können und sollten, ebenso wie die Grenzen zwischen verschiedenen Denkschulen durch neu entstehende Bedürfnisse oder die Entwicklung neuer theoretischer Ansätze verletzt werden sollten.

Die Trennung zwischen wahrem und falschem Diskurs entstand in der Zeit zwischen Hesiod und Platon, mit dem Aufkommen der Sophisten. Deren Aufstieg gründete genau auf dem, was ihnen vorgeworfen wurde: das Streben nach einem schnöden Sieg durch argumentativ Brillanz statt eine ehrenvollen Suche nach der Wahrheit.

Nun ist das „Ich“ des Chronisten viel stärker als ein Protagonist, von dem aus die Handlungen beobachtet werden, und dies bringt zweifellos und unvermeidlich Voreingenommenheit mit sich.

Normalerweise erzählt man ja aus einem Diskurs heraus und stützt sich auf unerwartete Ereignisse, Verletzungen, Herrschaftsverhältnisse, unterschwellige Plots und Abhängigkeiten. Deshalb ist alles Schreiben ein Resultat der Wirklichkeit, aber gleichzeitig auch ein System der Unterwerfung, und genau deshalb gibt es eine Intentionalität beim Schreibenden. Es versteht sich von selbst, dass nicht alles, was geschrieben wird, wahr ist, und dass nicht alles, was durch den Filter des Erzähler-Ichs geht, notwendigerweise falsch ist.

Gabo versus Vargas Llosa

Wir akzeptieren als Lesende oder Kritiker diese Erfindungen, so als ob die Zurschaustellung des Talents eines Autoren ausreichend Entschuldigung ist, dass sie Figuren, Szenen oder Dialoge erfinden. Es ist, als ob die bloße Verwendung eines wunderbaren Stils von vornherein die Unvoreingenommenheit des Autors gegenüber den Tatsachen impliziert.

Den gegnerischen Flügel führen zwei unserer Nobelpreisträger an: Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa. Beide sind brillante Romanciers und Journalisten, aber mit vollkommen gegensätzlichen Ideen und Vorstellungen bzgl. Sachbüchern und literarischem Schaffen.

Für Vargas Llosa ist Journalismus nicht mit Literatur gleichzusetzen. Für ihn ist die Pressefreiheit Spiegelbild einer gesunden Demokratie, und deshalb liegt der höchste Wert des Journalismus in seiner Wahrhaftigkeit. Er ist der Meinung, dass der Wahrhaftigkeitspakt mit dem Leser das eigentliche Wesen dieses "Genres" ist, eine Grenze, die seine Schöpfer niemals überschreiten dürfen. Der Journalist  darf sich also nicht in die reine Fantasie flüchten, darf die Realität nicht mit der Fiktion verwechseln. Die Presse muss objektiv sein, sich an die Fakten halten und systematisch nach der Wahrheit suchen“.

Auch andere Autoren teilen diese Ansicht: Timothy Garton Ash, Salman Rushdie und Jack Shafer. Es ist eine Verpflichtung gegenüber dem Leser, die nicht nur möglich, sondern unerlässlich ist. Für den Peruaner ist ein gewisses Maß an Subjektivität in der Presse möglich, solange der Kontext keine Zweifel aufkommen lässt. Diese Vorstellungen stehen im Gegensatz zu denen von García Márquez und anderen Autoren, darunter Capote, Wolfe, Mailer und anderen.

1998 sagte García Márquez in einem Interview:  Ich würde sagen, dass ich zum Journalismus gekommen bin, weil ich der Meinung war, dass es nicht um Literatur geht, sondern darum, Dinge zu erzählen. Und dass innerhalb dieses Konzepts der Journalismus als eine literarische Gattung betrachtet werden muss, insbesondere die Reportage. Das ist ein Kampf, den ich führe, weil die Journalisten selbst nicht akzeptieren wollen, dass die Reportage eine literarische Gattung ist. Sie betrachten sie  im tiefsten Innern ihrer Seele sogar mit einer gewissen Verachtung. Ich würde stattdessen sagen: Eine Reportage ist eine Geschichte, die ganz und gar auf der Realität beruht, aber es ist eine Geschichte.
(...)
Keine Fiktion ist völlig erfunden. Fiktion ist immer  auch  eine Ausarbeitung von Erfahrungen. Aufgrund der Art und Weise, wie ich zum Journalismus gekommen bin, ist mir klar, dass dieser Prozess eine weitere Etappe in meiner Ausbildung ist, sagen wir nicht literarisch, sondern in der Entwicklung meiner definitiven Berufung, Geschichten zu erzählen. Dinge zu erzählen.

Die Verteidigung von Gabo zieht das Formale den realen Daten vor. Es ist daher notwendig, sich über Begriffe und Definitionen klar zu werden. Dass eine Sache wahr ist, heißt nicht, dass sie überzeugend ist, weder im Leben noch in der Kunst, würde Truman Capote sagen. Die Wahrheit ist jedoch, dass sein Buch Kaltblütig heutzutage wegen der  strikten rechtlichen Bedingungen im amerikanischen Journalismus von keinem Verlag veröffentlicht werden würde. Die Effizienz des Systems, mit dem jede veröffentlichte Zeile überprüft wird, ist allgemein bekannt und hat immer wieder dazu geführt, dass Texte, die ursprünglich als hervorragende Berichterstattung ausgegeben wurden, der Unwahrheit überführt wurden; man denke etwa an Janet Cooke, Stephen Glass und Jayson Blair, um nur einige zu nennen.

Aber es gab natürlich immer  auch Schriftsteller, die  die journalistischen Gepflogenheiten respektiert haben und die sogar Initiatoren des investigativen Journalismus waren wie Upton Sinclair (in Der Dschungel), Larisa Reissner (in Hamburg auf den Barrikaden) oder John Reed (in dem Artikel War in Paterson).

Carlos Monsiváis seinerseits versuchte sich in seinen Texten mit essayistischen, ethnographischer Beschreibungen und soziologischen Überlegungen, aber sein großes Verdienst war, dass er nichts erfunden hat. Es stimmt, dass Rodolfo Walshs Operation Massaker lange vor Capotes Kaltblütig erschienen und dass es in Lateinamerika als Vorläufer des New Journalism gehandelt wid Aber woher nur hat Walsh die so schön konstruierten Dialoge in seinen Werken genommen?

Der Fall K. 

Ryszard Kapuściński, der berühmte polnische Reporter und Chronist, sagte vor einigen Jahren in einem Interview:

Wahrer Journalismus ist intentional, nämlich Journalismus, der sich ein Ziel setzt und versucht, eine Art von Veränderung herbeizuführen. Es ist kein anderer Journalismus möglich. Ich spreche dabei natürlich von gutem Journalismus.

(...)

Der Massenselbstmord in Guyana, als Reverend Jones den Tod von vierhundert seiner Anhänger herbeiführte. (...) Ich war dabei. Die Geschichte hat mich beeindruckt. Meine Pflicht, wenn nicht gar meine Objektivität, drängte mich zu berichten, wie und vor allem warum sich jeder so verhalten hat. Die Motive zu entlarven, die sie zur Selbstverbrennung geführt haben, sie anzuprangern, um zu verhindern, dass sie sich wiederholen. Wissen Sie, wo der Kampf um Objektivität der amerikanischen Sonderbeauftragten endete?"

Die Verteidiger der Form gehen von der Unmöglichkeit der Objektivität aus, aber die Veränderung von Daten und Fakten um der Ausdruckskraft, der Ästhetik oder der Überzeugung willen hebt nicht nur die Grenze zwischen Journalismus und Literatur auf, sondern betritt zwangsläufig den Boden der Propaganda.

Einige europäische Kritiker bezeichnen Autoren literarischer Reportagen als Manipulatoren, da sie nicht zögern, Elemente um der Überzeugung und der Schönheit willen zu verstärken oder zu verändern, und daher ihr Verhältnis zur Realität vernachlässigen.

Die Kapu-Biografin Beata Nowacka schrieb:

Es ist wahr. Der Journalismus von Ryszard Kapuściński ist magisch, weil er als journalistisches Werk seine Grenzen weit überschreitet und den Status eines literarischen Werks erreicht. Die Einzigartigkeit eines solchen Werkes hat den Kritikern Probleme bereitet, die, unvorbereitet auf einen so originellen Aspekt der Reportage, in diesen Büchern nach exakten Daten und präzisen Berechnungen suchten. Stattdessen stießen sie auf eine magische Welt von Operettenkönigreichen, wie aus der mittelalterlichen Finsternis gerissen, eine Welt von Gängen, die von eisiger Luft durchzogen sind, von mächtigen Bäumen, die nachts von Hexen bewohnt werden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass einige Kritiker über eine solche Darstellung der Welt in einer Reportage, einem bis dahin informativen Genre, erzürnt waren. (SERRALLER CALVO, 2015). Kurzum: Wir sind nicht bereit zu akzeptieren, dass so viel Schönheit im Journalismus möglich ist.

Dennoch wird Kapuściński heute vorgeworfen, nicht genug über Afrika gewusst zu haben, was sich in König der Könige. Eine Parabel der Macht zu zeigen scheint. Ihm wird auch vorgeworfen, Aspekte des Lebens von Haile Selassie, dem letzten Monarchen von Äthiopien, erfunden zu haben. Bei Kapuściński besaß der Diktator eine riesige Bibliothek mit Bänden, die ausschließlich seinem Leben gewidmet waren. Für den Schriftsteller Sergio González Rodríguez schmälert die Tatsache, dass er diese fiktiven Elemente in seine Berichterstattung integrierte, weder das Interesse noch die Bedeutung von Kapuścińskis Texten. Kapuściński ist einer der großen Erneuerer des internationalen Journalismus, indem er die Qualität der Erzählung über die einfache Berichterstattung stellte. Sein Werk beinhaltet die Schaffung einer humanistischen Erzählung, die die Praxis des geschriebenen Journalismus, insbesondere in spanischer Sprache und in Lateinamerika, beeinflussen wird.

(...)

Mehr als von Manipulation könnte man von einem literarischen Subtext sprechen, um sein Ziel zu erreichen, um ansonsten viel zu weit entfernte und unterschiedliche Realitäten zu übermitteln. Ich kenne das Ausmaß seiner Lügen nicht (...). Auf jeden Fall wird ein großer Teil seines Vermächtnisses bleiben.

Norman Mailer seinerseits schrieb in Spectral Art:

Von einem Journalisten zu erwarten, dass er dem genauen Detail des Ereignisses treu bleibt, ist gleichbedeutend mit Sentimentalität...Eine Nation, die sich auf der Grundlage detaillierter Fakten, die der subtilen Realität nachempfunden sind, detaillierte Meinungen bildet, wird zu einer Nation von Bürgern, deren Psyche Artikel für Artikel fernab jeder Realität modelliert wurde." Und zu allem Überfluss argumentiert er eindringlich: Objektive Berichterstattung ist ein Mythos. Der Leser hat das Recht, die Neigungen des Mannes oder der Frau zu kennen, die vorgeben, der ehrlichste  und genaueste Journalist zu sein, aber  immer auch Hochstapler sind.

Sollen wir also darauf vertrauen, dass das, was diese Autoren uns erzählen,  auf nachprüfbaren Fakten beruht? Aber welcher Lesende macht sich denn schon die Mühe, jeden Text zu überprüfen?

Es ist schwierig zu sagen, welche der beiden Positionen ehrlicher gegenüber der Realität ist. Die Befürworter des Fiktiven beten ihre Wahrheit an, aber sie als absolute Realität zu betrachten, ist ebenso faszinierend wie gefährlich und letztendlich auch ein Armutszeugnis der öffentlichen Meinung.

Stil versus Information

Es ist unbestreitbar, dass Stil das eine und Information das andere ist; aber alles scheint darauf hinzudeuten, dass der journalistische Chronist, also der Reporter, die beiden entweder unbeabsichtigt verwechselt oder die Ambivalenzen bewusst ausnutzt.

Warum, um nur ein Beispiel zu nennen, verzeihen wir García Márquez, dass er in einigen journalistischen Arbeiten Situationen, Anekdoten oder Figuren erfindet?

Zwischen September und Oktober 1954 veröffentlichte er in El Espectador vier Reportagen in einer Serie mit dem Titel El Chocó que Colombia desconoce (Das Chocó, das Kolumbien nicht kennt). Rojas Pinilla wollte El Chocó in den benachbarten Bundesstaaten bekannt machen, was zu einer beispiellosen Demonstration in der Region führte. Gabo sagt in mehreren Interviews, ohne diese journalistische Arbeit hätte Kolumbien diese Region nie zu Gesicht bekommen.

Wir verzeihen ihm auch, dass er Figuren erfunden hat. Tomás Eloy Martínez schrieb dazu: Die großen Reportagen jener Gründerjahre entstanden im Schutze einer Realität, die gerade geschaffen wurde, als man sie schrieb. Der Staudamm von La Mariposa drohte auszutrocknen, und statt das mit eben diesen Worten zu sagen, erfand García Márquez eine Figur, die sich  das Gesicht nicht mit Wasser, sondern mit Pfirsichsaft benetzt, um sich zu rasieren. Die Diktatur von Marcos Pérez Jiménez zerfiel, und um die Geschichte nicht wie in den Telegrammen der Nachrichtenagenturen zu erzählen, erklärte der junge Erzähler von La hojarasca, dass für die Männer des Widerstands "die Tage abliefen". Angereichert mit der Sprache eines Romans, verklärt zur Literatur, entfaltete der Journalismus vor den Augen des Lesers eine Realität, die noch lebendiger war als die des Kinos. Alles schien so neu, als ob die Dinge nach langer Vergessenheit zum ersten Mal benannt werden konnten". Diese fiktiven Berichte wurden in der Zeitschrift Momento in Caracas veröffentlicht, aber sie waren alle politisch motiviert. Das beweist der Text El clero en la lucha (Der Klerus im Kampf), der eine Woche nach dem Sturz von Pérez Jiménez geschrieben wurde. Für viele ist dies ein "kanonisches" Werk, da es die Beteiligung der Kirche am Umsturz unter Mitwirkung des Erzbischofs von Caracas zeigt.

Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele Leser es heute großartig finden, dass Hunter S. Thompson in seinem Buch Fear and Loathing in Las Vegas die Situation erfunden hat, in der die Kirche am Sturz der Regierung von Pérez Jiménez beteiligt war. Thompson erfand die Situation, in der die gesamte Besatzung und die Passagiere des Präsidentenflugzeugs während des Nixon-Wahlkampfs unter Drogen gesetzt wurden.

Angenommen, die Leute lesen Reportagen

Als Grenzgenre zwischen Literatur und Journalismus bedients sich die Reportage von dem einen und dem anderen, sie ist wie die Faust auf dem Auge. Aber mal Hand aufs Herz: Wann hat die Diskussion über den Unterschied zwischen den Gattungen aufgehört? Wir diskutieren diesen Unterschied nur noch, wenn irgendein Redakteur mal wieder  der Unwahrheit überführt wurde. Aber dann ist die Sache  auch schon wieder vergessen.

Es gibt Autoren, die heutzutage Handbücher für das Schreiben von Reportagen einfordern, denn die Dialektik zwischen Journalismus und Literatur kann ja zu einem sterilen Subjektivismus führen, der uns  versichert, dass die einzige Realität die ist, die wir wahrnehmen. Wenn wir die Wahrhaftigkeit an der Wurzel verteidigen, können wir über nichts mehr sprechen. Wenn wir andererseits sagen, dass es so etwas wie Wahrheit nicht gibt, kann ein solcher Relativismus kalte Manipulationen und Unwahrheiten legitimieren.

Der Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II verteidigte das Thema in einem seiner vielen Workshops mit den Worten: "Puristen sind per definitionem Arschlöcher, denn in einer Welt wie dieser ein Purist zu sein... Ohne Scheiß! Sie haben nichts Besseres zu tun". Heute muss man bei solch fadenscheinigen Begründungen misstrauisch werden. Wenn man erfindet, ist man in der Fiktion. Man kann nicht so tun, als könnten Erfindungen dazu dienen, soziale Prozesse, Mängel in der Gesetzgebung, Situationen der Verwundbarkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen oder die Anprangerung eines Verbrechens zu beschreiben, um die Leere eines Gesetzes zu demonstrieren.

In Kolumbien gibt es zwar den Anspruch, literarische Reportagen zu veröffentlichen, aber kaum einer ist letztendlich dazu bereit. Dennoch gibt es eine große  Anzahl von angehenden Autoren, die Reportagen schreiben wollen, trotz  der vielen Defizite in der journalistischen Ausbildung. Wir müssen den zukünftigen Journalisten einfach versichern, dass das Schreiben von Reportagen eine Chance ist, das nur wenige haben.

Es gibt ein Presse-Netzwerk, das sehr regional  vernetzt ist und das die Hälfte der Journalisten in Lateinamerika beschäftigt. Es gibt Länder, in denen es noch dichter aufgestellt  ist: in Argentinien und Mexiko. Zusammen haben sie 267 Zeitschriften und 480 registrierte Zeitungen, davon 334 Tageszeitungen, aber die große Mehrheit ist lokal oder regional. Das andere Extrem ist Venezuela, wo es nur eine einzige regionale Tageszeitung gibt. Ich weiß von Fällen, in denen Journalisten mit tadellos recherchierten Artikeln von den Verlegern zurückgeschickt werden, mit dem Vorschlag, daraus  doch bitte ein "Feature" zu machen. Ich weiß von großen Texten, die keine Journalistenpreise gewinnen, weil sie nicht das Kleid oder das Futter einer romanhaften Reportage haben.

Einer der wenigen düsteren Momente,  in denen ich erkannte, dass  das Überschreiten dieser unsichtbaren Linie heikel ist, war die  Begnung mit Gay Taleses The Voyeur's Motel. Das Buch handelte von den Geständnissen eines Voyeurs (Gerald Foos), der mehr als 20 Jahre lang Menschen ausspionierte, die in seinem Motel  zu Gast waren. Als das Buch in den USA erscheinen sollte, deckte die Washington Post jedoch auf, dass das Motel in den 1980er Jahren noch gar  nicht Foos gehört hatte. Talese kündigte an, dass er sich von seinem Buch distanzieren würde, da Foos' Glaubwürdigkeit "den Bach hinuntergegangen" sei. Gay hatte den Mut zu zeigen, dass man mit Lügen keinen Journalismus machen kann.

Nie war der kreative Pakt zwischen Leser und Journalist, der vorschreibt, dass alles, was du mir erzählst, absolut wahr sein muss, mehr gefährdet als in der heutigen Zeit.

Deshalb ist  auch notwendig, diese Diskussion auch wieder zu führen, denn ich habe nicht selten festgestellt, dass diese Diskussion in einigen Journalistenschulen und -fakultäten, in denen "schulmeisterliche" und oberflächliche Vorstellungen von "Reportagen" vorherrschen, keine Rolle mehr spielt. Ich sehe auch kein Interesse bei  jungen Generation, und noch weniger sehe ich, dass das Thema in journalistischen und akademischen Kreisen diskutiert wird.

Ich denke, dass das eigentlich Problem leicht zu lösen ist. Es ist schlichtweg eine deontologische (ethische) Frage, ein Aspekt, der heute in der Ausbildung von Journalisten und Kommunikationsfachleuten zu Unrecht vernachlässigt wird.

Journalismus ist eine menschliche Tätigkeit, deren oberster Wert Präzision mit dem Ziel der Gewährleistung von Unparteilichkeit und informativer Strenge ist. "Wir brauchen Informationen, um unser Leben zu leben, um uns zu schützen, um Verbindungen zu knüpfen, um Freunde und Feinde zu erkennen. Der Journalismus ist nichts anderes als das System, das die Gesellschaft geschaffen hat, um uns mit diesen Informationen zu versorgen (KOVACH & ROSENSTIEL).

Kaum, dass  die Diskussion begonnen hat, scheint es, dass die Debatte bereits beendet ist. Aber die Diskussion ist heute umso wichtiger angesichts der Technokratie, in der wir leben, und den "Fake News", die uns umgeben (ein Beispiel dafür sind die unzähligen Lügen, die etwa  inmitten der Pandemie verbreitet worden sind), und auf der anderen Seite die lebhaften Polarisierungen unserer Realität. Das muss diskutiert werden, und zwar immer wieder, damit wir nicht am Ende die Täter verteidigen und die Opfer schwächen.