Die Unvernunft ist rund

Die Unvernunft ist rund

Joseph O’Neills abenteuerlich komponierter und sorgfältig recherchierter Fussballroman "Godwin" spielt mit der Frage, ob sich eine einigermassen integre Biografie in dieser verrückten Welt überhaupt noch entfalten lässt
Joseph O'Neill
Bildunterschrift
Joseph O'Neill

Joseph O’Neill wurde 1964 als Sohn einer Türkin und eines Iren in Cork geboren und wuchs in Holland auf. Er studierte Jura in Cambridge und arbeitete als Anwalt in London. Später ließ er sich als freier Autor in New York nieder. Für seinen internationalen Bestseller Niederland wurde er 2009 mit dem PEN/Faulkner-Award ausgezeichnet, Das Buch war außerdem, wie sein zweiter Roman Der Hund, für den Man Booker Prize nominiert.

Atemlos lege ich das Buch beiseite und frage mich, wie mir geschehen ist. Habe ich mich von einem Familiendrama packen lassen? Von einer Chronologie des Scheiterns fortschrittlicher Weltentwürfe? Von einer Skizze zu den Abgründen einer nicht überwundenen Kolonialgeschichte? Oder schlicht von einem Fussballmärchen? Ich sortiere meine Gedanken, noch immer amüsiert von der Düsterkeit des leeren Versprechens, mit dem das Buch endet.

Der Reihe nach: Mark Wolfe, ein ebenso begabter wie grüblerischer Mitarbeiter einer Ghostwriter-Genossenschaft im US-amerikanischen Pittsburgh, ist angesichts der Weltlage mit guten Gründen mutlos, findet seine Erlösung aber in einer wunderbar tüchtigen Ehefrau und einer bezaubernden Tochter. Sein Vorsatz, dieses «wundervolle Glück wie ein Schatzhüter zu bewahren», wird herausgefordert vom windigen Projekt seines Halbbruders Geoff, der in England lebt: Dieser lockt Wolfe nach Europa, um gemeinsam auf dem afrikanischen Kontinent nach einem Fussballgenie zu suchen, diesem das Tor zum europäischen Fussballparadies zu öffnen und sich durch diesen Deal ein für allemal zu bereichern. Von Godwin, diesem Ausnahmetalent, kennen sie aber nur ein Video mit berauschenden Spielsequenzen, dessen Herkunft sich im subsaharischen Afrika verliert.

Dummerweise versteht Wolfe als US-amerikanischer Intellektueller nichts von Fussball. Er hat kein Auge für die Schönheit des Spiels, geschweige denn für aussergewöhnliche Fussballbegabung, und es fehlt ihm die Ahnung, in welchem Mass der Fussball zum Gegenstand von Träumen, Wundergeschichten und Betrug geworden ist. So reist er zunächst ahnungslos in der Fussball-Halbwelt zwischen England und Frankreichs Norden umher, getrieben von Geoffs mysteriösen Anleitungen. Die Goldgräberstimmung unter den Fussballerscouts droht ihn definitiv einzuholen, als er Jean-Luc Lefebvre trifft. Dieser kennt die Welt des bezahlten Fussballs aus allen erdenklichen Perspektiven, wittert angesichts der Godwin-Geschichte seinen zweiten Frühling als Spielervermittler und lässt den ahnungslosen Wolfe ins Leere laufen.

Kaum meint dieser, die Lektion verstanden zu haben, nimmt das Drama erst recht Fahrt auf: Während Wolfe nach Pennsylvania zurückkehrt und dort mit neuen Vorsätzen beruflich durchstartet, lässt uns der Autor an Lefebvres abenteuerlicher Reise nach Westafrika teilhaben, die ihn in den Norden Benins führt. Dem früheren UEFA-Scout widerfährt auf dem Weg zum Fussball-Wunderkind Erstaunliches, doch dank seiner Erfahrung und der kundigen Unterstützung eines lokalen Guides kommt er dem verborgenen Juwel immer näher. Als der Schatz beinahe geborgen ist, verwebt der Autor ganz grosse Themen wie Sklavenhandel, Ausbeutung und Paternalismus zu einem Finale, das für die einen tragisch im Gambia-River endet und den anderen einen wundersamen Neubeginn am Michigansee verspricht. Familien- und Zeitgeschichte holen dabei den bedauernswerten Wolfe in einem ungeahnten Ausmass ein.

Godwin

Joseph O’Neill | Godwin | Rowohlt | 432 Seiten | 28 EUR

«Geld ist eine Sprache, Fussball ist eine Sprache», kommentiert der naive Wolfe gegenüber seiner Frau den verwegenen Entscheid, sich auf das Fussballabenteuer einzulassen. Aber er scheitert schon im Anlauf an dieser Welt ohne Regeln und Loyalitäten. Dass der Fussball längst die Sphäre der Liebhaberei und des Zeitvertreibs verlassen hat und zur grossen Verlockung geworden ist für Talente, Eltern und Banditen, bringt der erfahrene Spielervermittler Lefebvre in der Mitte des Buchs auf den Punkt: Die Eltern, die ihr Kind nicht in der Hoffnung mustern, eine Spur des Ewigen zu sehen – diese Eltern gebe es nicht.

Will der Autor die Stimme der Vernunft einfliessen lassen, indem er die Geschichte aus zwei Perspektiven erzählen lässt? Neben dem zaudernden Mark Wolfe kommt nämlich dessen Arbeitskollegin Lakesha Williams zu Wort, die seine wunderlichen Launen und seine europäische Irrfahrt nüchtern kommentiert und einen gründlichen Einblick in die Betriebskultur der Genossenschaft in Pittsburgh erlaubt. Doch auch ihre Besonnenheit wird von der Realität eingeholt: Intrigen am Arbeitsplatz setzen ihr zu, und schliesslich wird auch sie Teil des Fussballmärchens.

Joseph O’Neills Roman ist abenteuerlich komponiert, sorgfältig recherchiert und spielt mit der Frage, wie sich eine einigermassen integre Biografie in dieser verrückten Welt entfalten lässt. Aber der Autor streut glücklicherweise auch Episoden ein, die von einem historisch gewachsenen, sorgsam gehüteten Interesse am Phänomen Fussball zeugen. Wenn er vom sanften Jahrhundertfussballer Eusébio, der wortkargen Trainerlegende Ernst Happel, dem Mittelfeld-Haudegen Willem van Hanegem und dem Wunderstürmer Didier Drogba berichtet, wird die Lektüre zu einem besonderen Vergnügen für alle, welche dieses Trivialwissen teilen.
«Ich lerne Englisch, ich lerne Psychologie, ich lerne Geschichte, ich lerne Business, alles auf dem Fussballplatz. Nicht im Klassenzimmer.» Mag sein, dass dieses Zitat auf der vorletzten Seite von «Godwin» etwas modisch klingt. Aber der Fussball birgt zahllose Geschichten, und Joseph O’Neill hat daraus einen tiefgründigen, mitreissenden Roman geschaffen.

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