Der Backenzahn
Es ist Sommer im globalen Süden und Winter im globalen Norden, und im Januar bringt Literatur.Review sie zusammen mit Veröffentlichungen bisher unübersetzter oder noch nicht publizierter Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt.
Carlos Vázquez Cruz (Puerto Rico, 1971) ist Schriftsteller, Lehrer und Musiker. Er promovierte in Romanistik an der University of North Carolina in Chapel Hill, erwarb einen MA in kreativem Schreiben in Spanisch an der New York University und einen BA in Sekundarschulbildung in Spanisch am Río Piedras Campus der Universität von Puerto Rico.
An einem Montag, eine Woche vor der Verteidigung meiner Dissertation, gönne ich mir ein Mittagessen in Linda's Bar & Grill, der Heimat von kubanischen Slidern, Buffalo Wings ohne Knochen und den gefragtesten Barkeepern und Kellnern von Chapel Hill. Ehrlich gesagt ist die Realität weit weniger pompös als sie sich anhört.
Die schmale Lebensader, auch „Dorf“ genannt, erstreckt sich bei weitem nicht auf die gesamte geografische Ausdehnung, sondern nur entlang eines Abschnitts der Franklin Street. Hier sind die vielen Bars, viele Restaurants, die wenigen Geschäfte und natürlich die einzige Universität zu finden, deren Besucher:innen sich in den Semesterferien verflüchtigen. Dann liegt alles trostlos und verlassen da. Einen Block westlich von Linda's Bar beginnt die Columbia Street. Im Süden umrundet sie den Campus bis zur Kreuzung mit dem Manning Drive, wo sich die medizinischen und zahnmedizinischen Fakultäten sowie vier oder fünf Krankenhäuser befinden. Dort trifft die ethnische und intellektuelle Vielfalt der Hochschule auf das Beste, was North Carolina an (einheimischer?) Kultur zu bieten hat.
„Es kommt mir unglaublich vor, dass ich vor vier Jahren voller Angst genau an diesem Platz saß und mich fragte, ob ich hier meinen Doktor machen sollte ...!“, aber während ich mir an meinen Existenzialismus die Zähne ausbeiße, stutzt mir Murphys Law die Flügel. Ich beiße in „knochenloses“ Fleisch, höre ein Knacken, mein Kiefer verkrampft sich, und als ich auf meine Serviette spucke, tauchen Knochen- und Zahnstückchen in einer Blutlache auf.
Der dumpfe Schrei, der mir entweicht, durchdringt den Raum. Mitten in der Mittagszeit werde ich zum Mittelpunkt der Milchstraße. Die Leute starren mit vollem Mund und Entsetzen zu mir herüber. Die neben mir schneiden dank vielseitiger Gesichtsmuskeln kauend Grimassen. Der Barkeeper, der alles mitbekommt, geht schnell um die Bar herum, ein Glas in der Hand, und kommt herüber. Ich habe nur ihn vor mir, bin überwältigt und verwirrt: tolle Turnschuhe, sehnige Waden, kräftige Oberschenkel, rotes Haar, das durch die Brise, die hereinweht, wenn sich die Tür öffnet, vibriert, knackige Shorts, die – so vermute ich – ein Geheimnis von beträchtlicher Größe hüten, eine Taille mit betonten Bauchmuskeln und die große, haarige Klaue eines wilden Wolfes, die Rotkäppchen großzügig das Wasser reicht.
„Tot, ja. Aber ohne Zahnlücken“, ist meine Parole. Ich nuschle etwas, denn abgesehen von dem pochenden Schmerz in meinem Kiefer wird der blutige Rückstand, den ich nicht hinunterschlucken konnte, von Spucke umspült. In diesem Zustand zwischen Spucken und Schlucken umklammere ich ohne aufzublicken das Glas, rutsche von dem Hocker am Tisch und mache mich auf zur Toilette. Auf dem Weg dorthin höre ich, wie Bier gezapft wird, wie Besteck auf Tellern kratzt, das Wischen von Tischen, sogar den leichten Augenaufschlag der höflichen, professionellen, zurückhaltenden, makellosen Kundschaft.
Auf der Toilette verriegle ich die Tür. Handwaschbecken oder Klo? Ich entscheide mich für das Klo, weil Niederlagen, wenn sie akzeptiert werden, intensiv gelebt werden. Unversehens reaktiviere ich meine verschüttete Religiosität: „Herr, bitte lass nicht zu, dass ich mich vor den Gringos blamiere“. Ich könnte es ja auch nur denken, aber ich versuche, kniend zu beten, während ich mich in der roten Triefpfütze betrachte, als sei ich die Apotheose der Schande, denn Enten, die ohne den Mikrochip des Dramas geboren werden, sind ein Irrtum der Natur.
Ich sitze ein paar Minuten auf dem Boden. Ich entferne das Taschentuch und ziehe den Backenzahn heraus. Ich säubere ihn ein wenig, stecke ihn in meine Tasche. „Ich wasche ihn später noch“, denke ich, und werfe den Restabfall in die Toilettenschüssel. Ich rolle etwas Toilettenpapier ab, rolle es zusammen und lege es so aus, dass es so viel wie möglich aufsaugt, aber es löst sich auf und meine Mundhöhle füllt sich mit nassen, lästigen Fusseln. Krampfhaft versuche ich, sie mit der Zunge aufzusammeln; sie fährt an der Innenseite meines Zahnfleisches entlang und in die Zwischenräume, die es mit meinen Lippen verbinden, aber so viel Anstrengung ist nicht gerade gut für die betroffene Stelle und verstärkt die Blutung. Ich stehe auf, gehe zum Waschbecken, drehe den Wasserhahn auf, nehme Wasser in den Mund und spüle, bis das Bluten nachlässt. Mitten im Geschehen klopft es und jemand ruft mit einem unverwechselbaren, besorgten Südstaatenakzent:
– Are you alright?
Ich wische mir vorsichtig, aber schnell, mit dem Ärmel meines Pullovers über den Mund. Ich spüle die Toilette. Ich öffne die Tür. Die massive weiße Wand seines Körpers ragt vor mir auf. Ich bemerke seine bedauernde Geste, gleich einem Huhn auf dem Weg zur Schlachtung, die so sehr im Widerspruch zu den Pheromonen steht, die er verströmt und die in meine Nasenlöcher dringen. „So entthront, wie du bist, kannst du nicht auf Augenhöhe kämpfen“, denke ich und bin bereit, den Kopf zu senken, aber er fragt noch einmal, wie ich mich fühle, während er mein Gesicht mit seinen Pranken ergreift und sein Gesicht nahe an das meine bringt, um meine Kiefer zu erkunden, die, gleich einer Einladung zu einer unabwendbaren Katastrophe, offen stehen.
„Es tut mir wirklich leid!“, betont er, und sein Marihuana-Atem mit einem Hauch von halluzinogenen Pilzen umhüllt meine Sinne – die Verheißung eines exzessiven Lebens mit Sex und Substanzen, die mich vernichten werden.
Natürlich mache ich, was jeder ernstzunehmend Verrückte bei drohender Gefahr macht: von den Fersen ins Leere springen. Zahnlückig, entthront, hebe ich meine Hände, fühle subtil seine Backenzähne, schließe meine Augenlider, simuliere eine an Ohnmacht grenzende Benommenheit und stelle mir in Sekundenschnelle vor, wie ich meine Zähne mit dem Knochen, der in seinem knochenlosen Flügel steckt, ruiniere.
Ich bin erschrocken, als ich feststelle, dass wir uns fast in aller Öffentlichkeit umarmen. Langsam schiebe ich ihn zur Seite. Ich bahne mir einen Weg hinüber. Ich mache mich auf den Weg zu dem jetzt abgeräumten Tisch, um meine Sachen zu holen und zu gehen. Doch der Kellner kommt mir nach, besteht auf einer Entschuldigung und hält mir ein Stück Papier hin:
– Ehrlich, es tut mir wirklich leid! Bitte, ruf mich an oder schik mir eine SMS, wenn du etwas brauchst.
Ich lese den Zettel, in dem er mir sogar vorwirft, das Glas Wasser nicht angerührt zu haben. Ich beschließe sofort, ihn nicht anzurufen. Ein akademischer Schreiberling würde niemals seinen Ruf aufs Spiel setzen, indem er einen Typen kontaktiert, der Nachrichten mit Rechtschreibfehlern verschickt. Aber irgendetwas in diesem „etwas“ weckt in mir ein vegetarisches Verlangen nach Cannabis und Pilzen, das meine Apokalypse sein wird, und wenn es eine Sache gibt, die die echten Verrückten von den unechten unterscheidet, dann, dass erstere in Stilettos den Spagat auf der Schneide des Schwertes wagen. Letztere wurden also geboren, um uns zu applaudieren. Ich nehme also mein Telefon, wähle seine Nummer, während ich ihn verstohlen mustere, rufe ihn an und lege auf, damit er mich in sein Verzeichnis aufnehmen kann. Diese Verzeichnisse sind normalerweise starken Schwankungen unterworfen, aber da sich alles ändert, ist es nicht ungewöhnlich, dass auch ich mich ändere.
Ich stehe an der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite und warte auf den ersten Bus, der die Columbia Street hinunter in Richtung Manning Drive fährt. Der Bus ist fast leer. Ich gehe zum Platz ganz hinten, denn Dramen ohne Zuschauer sind einfacher zu meistern. Ein paar Meter von der Dental School entfernt verlangsame ich mein Tempo. Wie jede gute Schauspielerin schlüpfe ich Schritt für Schritt in meine Rolle, sodass der Assistent, der mich entdeckt, zwar nicht auf den üblichen Fragebogen verzichtet, mich aber ipso facto als Notfall einstuft. Um ehrlich zu sein: die Praxis ist leer. Offenbar gibt es im Süden eine gute Mundgesundheit. Ich ziehe mich auf die Toilette zurück, um das Stück Zahn zu säubern, das ich in meiner Tasche habe. Eine gewisse Zärtlichkeit, eine altbekannte Trauer schleicht sich in mein Herz: „Näher werde ich dem Baden eines eigenen Babys nie kommen“, denke ich, als ob ich der Welt die Zeugung eines Menschen schulde. In der Zwischenzeit kommuniziere ich schriftlich. „Ein falsches Wort und sie werden daraus schließen, dass es nicht dringend ist, aber ich muss nächste Woche eine Dissertation verteidigen“, rede ich mir ein. „Außerdem macht ein lädierter Kiefer jede Zweitsprache zu einer Drittsprache.“
Kurz darauf kommt der Arzt zu mir, führt mich zu einem Sessel, befiehlt mir, mich zu setzen und starrt mich wie versteinert an. Wie ein Höhlenforscher untersucht er die Höhle meines Wortschatzes mit Instrumenten. Er registriert die Stalaktiten, klopft die Stalagmiten ab, spürt die mikroskopische Flora und Fauna auf in der gelb-schwärzlichen Kartographie aus Zahnstein und Löchern. Er informiert mich über Dinge, die für mich unverständlich sind, denn je offener der Mund, desto enger sind die Gehörgänge. Der kleinste Schlag, den er auf den gebrochenen Zahn setzt, geht durch meinen Hals, meinen Oberkörper, meine Taille, bis über meine Hüfte und verankert sich im Stuhl. Er weist mich an, auf eine Masse zu pressen, mit der der Biss in Ordnung gebracht werden soll, und ich mach dies, indem ich die Tränen unterdrücke und im Geiste seine Chromosomen verfluche, aber als er die Plättchen herauszieht, reibt er fachmännisch fürsorglich mein Kinn, und ich verachte ihn, denn es ist lange her, dass meine Lippen durch die Finger eines Mannes aufzuplatzen drohten.
Kurzum, sowohl die Zahnärzte als auch die Operationssäle sind für den Rest der Woche ausgebucht. Anscheinend gibt es im Süden keine gute Mundhygiene, und da kommt dieser Typ aus Puerto Rico, um die Statistik in die Höhe zu treiben. Allerdings hat jemand vor ein paar Stunden seinen Termin für den morgigen Dienstag um zehn Uhr abgesagt, sodass ich seinen Termin übernehmen kann. Ich würde dann von einem anderen Spezialisten – einem ausgezeichneten, wie es heißt – und einem mit einem freien Termin erwartet. Bis dahin empfiehlt mir der Arzt drei Dinge: Aspirin, Flüssigkeit und viel, viel Geduld.
Seit ich die Praxis verlassen habe, geht meine Existenz durch den Dickdarm, ganz gemäß Murphys Gesetz. Ich vermeide den Stau, mache mich direkt auf den Weg zur Wohnung. Der blank liegende, verletzliche Nerv wird durch die unzuträglich temperierten Säfte, Kaffees, Suppen, schlichtweg von allem in Mitleidenschaft gezogen! Allein wenn das Metall eines Löffels den Zahnschmelz der zerbrochenen Krone berührt, surren mir die Ohren, lassen mich Nadelstiche erschauern und fährt mir ein eisiger Schmerz ins Mark. Ich knabbere ein halbes Sandwich mit meinen Schneide- und Eckzähnen, wälze den Inhalt auf die andere Seite meines Mundes, um das kunstvollste Häppchen auf diesem Planeten zu kreieren, aber immer wieder nistet sich irgendein unkontrollierbares Bröckchen in der Wunde ein. Um die Menschheit weiter zu erreichen, versuche ich zu summen oder zu sprechen – und beiße mir heftig in die Backe. Ich bürste mir die Zähne vor dem Schlafengehen, und die Borsten wetzen, dringen ein, verletzen, kratzen an diesem Fluch, der am nächsten Tag enden soll. Währenddessen erlebe ich die Folter als Ewigkeit. Die einzige Aufmunterung sind die zahlreichen Messages, die der rothaarige Gringo mir abends schickt, und auf die ich mit Selfies antworte, deren Winkel meinen Zustand noch verschlimmern. „Die Operation ist für morgen angesetzt“, antworte ich, weil Ziehen zu einfach klingt und Schuldgefühle nur gedeihen, wenn Angst auf fruchtbaren Boden fällt.
„Hast du gegessen? Schick mir deine Adresse, dann bringe ich dir was mit“, schreibt er.
„Ich hatte einen Portobello-Pilz-Salat. Danke!“ – Dankbarkeit garniert mit den Symbolen eines Pilzes, eines Smileys und der gewünschten Adresse ... nur für den Fall.
Ich erwidere das zwinkernde Emoji, ein trockenes Blatt, ein Lagerfeuer und eine Wolke, wohl aus Versehen. Ich lege mich hin und unterliege immer noch Murphys Gesetz, das mich jedes Mal aufweckt, wenn ich meine Haltung ändere und sich das Körpergewicht auf die wunde Stelle verlagert.
Ich vermeide es, die morgendliche Routine zu beschreiben, da sie vermutlich der vorhergehenden ähnelt und in ihr enthalten ist, und ich gehe auch nicht auf die Tücken des Transports zur Klinik oder die lebhafte Volkskultur von North Carolina ein, von der es in den Krankenhäusern nur so wimmelt, denn die Müdigkeit, die Abscheu, die Schwäche des Geistes und die Kröten und Schlangen, die mich würgen, könnten – wenn ich sie herauslasse – jemanden töten. Lieber behalte ich sie und lasse mich töten. Deshalb bevorzuge ich ... die Schönheit.
Starr auf dem Opferaltar sitzend, mich an die Sessellehnen klammernd, mit einem Brustlatz, den Kiefer bis zum Äußersten geöffnet, mit einem Sabbersauger darin beäuge ich den neuen Zahnarzt, der sich mir mit dem Betäubungsmittel nähert. Der Stich lässt mich zusammenzucken, was sich Minuten später wiederholt, als ich das unbehagliche Pieksen spüre, das ihn zwingt, die Dosis zu verdoppeln. Er wartet. Er ruft seinen Chef an, weil der Schmerz in mich eindringt als hätte mein letztes Stündchen geschlagen.
– Ich glaube, er hat Anästhesie-Bewusstsein.
Er ist nicht befugt, noch mehr zu verabreichen. Er fragt mich, ob ich mit der Extraktion fortfahren möchte, und bei dem Hass, der meine Seele erfüllt, blinzle ich natürlich bejahend, mit Tränen in den Augenwinkeln. Dann werde ich abgelenkt. Die perfekte, gleichmäßig schwarze Haut, die das Licht der Lampe reflektiert. Die dunklen Pupillen, dicht, konzentriert, durchdringend, die mir tief in den Schlund blicken, weil Gaben ... genutzt werden wollen. Die Unterarme – bereit, das defekte Teil zu ziehen. Der hormonelle Duft, der meine Riechzellen peitscht. Kurzum, ein edler, kostbarer Körper, der sich vor mir manifestiert, um mich zu umgarnen, der mich aber nie wollen wird, weil seine Hände unfehlbar sind.
Plötzlich ... Nein. Ich will ihn nicht verlieren. „Ich hatte noch nie eine Tätowierung. Ich wurde noch nie operiert. Dieser Zahn wurde mir von meiner Mutter geschenkt.“ In dieser Sekunde sprudeln die Erinnerungen an die Zeit hervor, in der sie mich gefüttert hat, an die Laute, die meinen Wortschatz formten, an das Gesangsbuch, in dem ihre hoffnungsvolle Liebe steckte, und an die Verhaltensweisen, die mir ein strahlendes Lächeln garantierten. Dank ihr war hinter meinen Zähnen meine Wortschatzkiste, mein Saatbeet aus Knochen und Wurzeln, das Vermächtnis, das mich – auf unbewusste Weise – mit meinem Ursprung verbindet. Bis heute. Sie werden ein Fragment meiner Mutter amputieren. Sie werden mein Volk verstümmeln. Sie werden mich meiner Heimat entwurzeln.
Ich will gerade den Mund schließen, da verdreht der Arzt seinen Oberkörper und mit ihm den Stuhl. Der vordere Teil seiner Hose reibt versehentlich an meiner rechten Hand, die sich windet, zuckt, zwischen Leid und Lust. Angesichts des Volumens dieses Testosteronspeichers kann ich meinen Schlund nur aufreißen, um das schreckliche Feuer darzubieten, das mich verzehrt, und er nutzt die Gelegenheit, um das zu entfernen, was einer Nabelschnur am nächsten kommt. Ich stoße einen Schrei aus, der dem einer Geburt gleicht, nur dass ich diesmal sterbe.
– Tut es weh?, fragt er ruhig. Aber ich werde nicht antworten.
„Ich habe Schmerzen“, denke ich nur, denn ich weiß, dass er es nicht verstehen wird.
Nach dem Eingriff und der erforderlichen Reinigung bekomme ich eine Tüte mit Mull, ein Rezept ohne Rechtschreibfehler und eine Karte mit dem nächsten Termin ausgehändigt. In Ermangelung von Freunden, die mir helfen könnten, gehe ich mit geschwollenem Mund zur Bushaltestelle, vollgepumpt mit einem Beruhigungsmittel, das mich zwar nicht betäubt, aber dessen physische Wirkung sich in einer herabhängenden Wange zeigt, die sich im Busfenster spiegelt. Ich antworte auf die sieben Nachrichten, die der rothaarige Barkeeper aus Schuldgefühlen heraus geschickt hat. Ich gestehe ihm, dass ich krank bin, dass ich mich abkapseln muss, dass ich mein Handy bis Freitagabend nicht anfassen werde. Ich schreibe meiner Vorgesetzten eine SMS und sage ihr die Wahrheit. Ab Freitag akzeptiere ich die Realität und werde wieder ein Mensch. Vorsichtig nehme ich feste Nahrung zu mir, putze das Haus, sonne mich auf dem Balkon und kümmere mich um mich selbst. Gegen sechs Uhr sitze ich auf dem Sofa vor dem Fernseher und schalte mein Telefon ein. Eine Flut an Nachrichten strömt mir durch die Hände. Ich lese sie mit Gleichgültigkeit, denn die Meisten interessieren sich mehr für mein Privatleben als für meine Gefühle.
Der Einzige, dem ich schreibe, ist der Kellner, denn sechzehn „Are you okay?“ sind übertrieben. Punkt für Punkt erkläre ich ihm, dass ich die Normalität erreicht habe, dass ich für ihn da bin, wann immer er will, und ich danke ihm für seine Sorge. Ich füge ein Foto bei, dessen Winkel mich besser zur Geltung bringt, als ich mich fühle, und sorge dafür, dass eine handgefertigte, wenig benutzte Pfeife gerade noch durch den Türspalt sichtbar ist. Nach einer Weile klopft es:
– Ich freue mich, dass es dir gut geht!, ruft er, als ich die Tür öffne. Sein Marihuana-Atem mit dem Hauch von halluzinogenen Pilzen schlägt mir entgegen, während die große, behaarte, böse Wolfspranke dem Rotkäppchen großzügig ein Geschenk reicht.
Ich entdecke grünen Salat und Zetas (Pilze) und mache eine Handbewegung. Die geheimnisbergend angeschwollenen, indiskreten Shorts überschreiten die Schwelle. „Mit einem Backenzahn fing es an, dass Mama mich verließ, mein Land verschwand allmählich, Puerto Rico entfernte sich von mir auf der Landkarte und mein Körper – bereits weit weg – war auf dem absteigenden Ast“, sinniere ich. „Nachdem ich die Krone und die Wurzeln verloren habe, bleibt mir nur noch die Selbstzerstörung“, und ich löse die unausweichliche Katastrophe aus, in der sich die Unentschlossenheit zwischen Spucken und Schlucken auflöst.