Macht und Unsichtbarkeit

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Macht und Unsichtbarkeit

Eine geschlechtergerechte Lesart des arabischen Booker-Preises
Ghizlan Touati

Ghazlan Touati ist eine algerische Schriftstellerin, die sich besonders für die Stellung der Frau im heutigen Algerien interessiert. Sie ist die Autorin von zwei Erzählbänden: „Frauen machen das nicht“, erschienen 2022  und "Eine üble Zeit, um Fisch zu kaufen", 2024 in Ägypten erschienen. Außerdem hat sie mehrere Artikel zu Frauenfragen- und Kultur veröffentlicht.

Vor einigen Tagen wurde der Gewinner des Booker-Preises für arabische Belletristik bekannt gegeben. Und wie jedes Jahr stellt sich mir vor allem eine Frage: Warum haben bisher nur so wenige Schriftstellerinnen diesen Preis gewonnen? Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser Text liefert keine Antwort und gibt auch nicht vor, eine solche zu suchen. Es handelt sich vielmehr um einen Versuch, das Phänomen  zu erkunden, warum es der Literatur von Frauen in den arabischen Ländern einfach nicht gelingt, sich aus ihrer marginalisierten Lage zu befreien.

Seit der Schaffung des Internationalen Arabischen Preises für Belletristik (allgemein bekannt als "Arabischer Booker-Preis") im Jahr 2007 und der Verleihung seines ersten Preises im Jahr 2008 wurden unter den Preisträgern nur zwei Frauen gekürt. Das erste Mal geschah dies 2011, als eine saudi-arabische und eine marokkanische Autorin ausnahmsweise ex aequo ausgezeichnet wurden - ein einzigartiger Fall in der Geschichte des Preises. Die zweite Auszeichnung für eine Frau erfolgte 2018, als eine libanesische Autorin den Preis erhielt. Da der Preis jedoch jährlich verliehen wird, zeigt diese Bilanz auch, dass in sechzehn Preisrunden siebzehn Männer und nur zwei Frauen ausgezeichnet wurden. Dieses offensichtliche Ungleichgewicht ist so bedenklich, das  es mich dazu veranlasst hat, über die bloße statistische Betrachtung hinauszugehen und nach den tieferen Ursachen  für dieses Ungleichgewicht zu suchen. Es gibt mehrere Hypothesen, die in Betracht gezogen werden könnten, um diese Unterrepräsentation von Frauen zu erklären. Vielleicht verzichten Autorinnen ja einfach aus Unsicherheit oder aus einem Gefühl der Illegitimität heraus auf die Teilnahme. Vielleicht geben die Verlage, wenn sie sich denn entscheiden müssen, ob sie einen männlichen oder weiblichen Autoren ins Rennen schicken, fast immer dem ersteren den Vorzug. Eine andere Möglichkeit - die ich allerdings für wenig überzeugend halte - wäre, dass Frauen seltener Werke produzieren, die in Bezug auf Stil, erzählerische Kühnheit, thematische Tiefe oder Originalität mit denen von Männern vergleichbar wären. Letzteres scheint jedoch angesichts der Existenz einer großen Zahl talentierter arabischsprachiger Schriftstellerinnen, deren literarische Qualität außer Frage steht, kaum haltbar.

Um dieses Ungleichgewicht näher zu beleuchten, habe ich die Shortlists der letzten Jahre untersucht, die in der Regel fünf bis sechs Romane umfassen. Seit 2008 finden sich dort fast durchgängig auch ein bis zwei Autorinnen. Nur in zwei Jahren schafften es drei Autorinnen auf die Shortlist, während in einem Jahr keine Autorin auf der Shortlist stand. Um diesen Befund zu relativieren, habe ich meine Analyse auf die Longlists ausgeweitet, in denen die Präsenz von Frauen markanter ist. Es ist nicht ungewöhnlich, dass vier bis fünf Romanautorinnen auf der Liste stehen, und in einigen Ausnahmefällen herrscht sogar Parität - acht Frauen stehen acht Männern gegenüber. Diese Daten deuten also durchaus auf eine aktive Beteiligung von Frauen an der Literaturszene hin und zeigen, dass die arabischsprachige Romanproduktion von Frauen quantitativ auf einem vergleichbaren, manchmal sogar höheren Niveau als die ihrer männlichen Kollegen liegt.

Doch diese anfänglich durchaus vorhandene Präsenz führt dennoch nur selten zu einer Anerkennung auf höchster Ebene. Diese Tatsache  hat mich dazu veranlasst, die Rolle der Jurys zu hinterfragen, die jedes Jahr neu besetzt werden und in der Regel aus fünf Mitgliedern bestehen. Von 2008 bis 2014 war in den Auswahlkommissionen jeweils nur eine Frau vertreten. Erst später gab es eine leichte Veränderung in den Jurys, die zwei, dann auch drei Frauen umfassten, aber nur in einem Jahr waren Frauen in der Überzahl (vier von fünf). Doch selbst in diesem Jahr erreichte nur eine Autorin die Endrunde, und der Preis ging erneut an einen Mann.

Die gesammelten Daten legen also nahe, dass weder die mangelnde Beteiligung von Frauen noch eine systematische Unterrepräsentation in den Auswahlgremien ausreichen, um die beobachtete Diskrepanz zu erklären. Das Problem scheint woanders zu liegen - vielleicht in den literarischen Bewertungskriterien selbst, in den impliziten Erwartungen des Verlagswesens oder auch in tief verwurzelten symbolischen Vorstellungen, die dazu neigen, bewusst oder unbewusst eine bestimmte männliche Vorstellung von Autor zu bevorzugen. Wo liegt also das Problem? Warum erhält so selten eine Schriftstellerin, die Anerkennung, die ihr gebührt?

Die aufgeworfene Frage kann leider nicht eindeutig beantwortet werden. Ihre Komplexität erfordert vielmehr einen nuancierten Ansatz, der sich jedem Versuch entziehen muss, sie auf nur einige unmittelbare oder scheinbare Ursachen zu beschränken. Der Versuch, die Analyse zu vereinfachen, würde bedeuten, die Dichte der Dynamiken zu verkennen und einem verfrühten Reduktionismus nachzugeben. Streng genommen erfordert ein solches Phänomen eine Haltung intellektueller Obacht, die Vorurteile vermeidet und vor allem um ein allgemeines Verstehen der Situation bemüht ist. Auf einer rein literarischen Ebene ist es wichtig, daran zu erinnern, dass die Entscheidungen der Jurys vor allem auf ästhetischen und stilistischen Bewertungskriterien beruhen, d. h. auf Geschmacksurteilen. Geschmack entzieht sich jedoch im Wesentlichen der Objektivität: Er ist persönlich, formbar und wird von individuellen und kollektiven Empfindungen beeinflusst. Geschmack entsteht nicht ex nihilo: Er bildet sich aus einer Melange von Einflüssen - sozialen Kontexten, dem vorherrschenden literarischen Kanon, den impliziten oder expliziten Erwartungen der Leserschaft sowie den Spannungen zwischen Konformität und Transgression.

Jedes Jurymitglied ist somit Träger eines symbolischen Universums, eines intellektuellen Hintergrunds und eines expliziten Wertesystems, die seine Lektüre beeinflussen. Diese zutiefst subjektiven Filter machen den Akt der Auswahl zu einem eminent persönlichen, also zutiefst undurchsichtigen Vorgang. Hinzu kommt, dass die Sitzungen der Jurys nur selten veröffentlicht werden und keiner externen Kontrolle unterliegen, was die Schwierigkeit einer fundierten Analyse noch erhöht. Dennoch lassen sich anhand der wenigen zugänglichen Informationen - durch Auszüge aus Berichten, Interviews oder Indiskretionen - einige wiederkehrende Kriterien identifizieren: dazu gehören künstlerische Originalität, kreative Sprache, thematische Dichte, narrative Meisterschaft, stilistische Ausarbeitung sowie eine kritische oder existentielle Tragweite des Themas.

Diese Anforderungen gelten, daran muss erinnert werden, ohne Unterschied des Geschlechts. Die von Frauen geschriebenen und in die Endauswahl aufgenommenen Texte erfüllen diese Anforderungen zweifellos. Sie zeigen dies durch ihre erzählerische Stärke, ihren formalen Reichtum und die Tiefe der behandelten Themen. Das bedeutet, dass sie mit denselben hohen Anforderungen bewertet wurden wie die Werke ihrer männlichen Kollegen und dass sie deren literarischer Qualität entsprechen. Die Erklärung für das Ungleichgewicht kann also weder inhaltlich noch technisch oder stilistisch gesucht werde.

Tatsächlich fanden viele dieser von Autorinnen verfassten Romane  auch ein starkes Echo, sowohl bei der Leserschaft als auch bei der Kritik, und zwar  weit über den Booker-Preis hinaus. Zu den wichtigsten Beispielen gehören Amira Ghenims Das Desaster im Haus der Ehrwürden, Mansoura Ez-Eldins Jenseits des Paradieses, Inaam Kachachis Die amerikanische Enkelin und Alia Mamdouhs Tanki - allesamt herausragende Werke, die die Ambitionen und den Reichtum des zeitgenössischen literarischen Schaffens von Frauen in arabischer Sprache voll und ganz verkörpern. Ich befinde mich also auch hier in einer Sackgasse, wenn ich versuche, diesen Rückstand mit rein objektiven Gründen zu erklären. Deshalb bleibt mir nicht anderes übrig,  es mit nicht-objektiven Ursachen zu versuchen, die nicht direkt mit dem Preis selbst zu tun haben, sondern mit dem allgemeinen, also gesellschaftlichen Verhältnis zur Frau, zur Schriftstellerin, zu ihrer Präsenz und ihrer Tätigkeit im öffentlichen Raum, ohne einem sozialen oder politischen Urteil unterworfen zu sein.

Es ist offensichtlich - und bedarf deshalb keiner Beweisführung -, dass Frauen heute weitgehend  ihre Freiheit genießen, dass sie Wagemut zeigen, dass sie reichlich schreiben und viel veröffentlichen, genauso viel oder sogar mehr als Männer, zumindest quantitativ gesehen. Dennoch bleibt die Haltung ihnen gegenüber unverändert: Von der Schriftstellerin wird erwartet, dass sie sich im Hintergrund hält und auf günstige Bedingungen - den Ort, die Zeit, die Gelegenheit - wartet. Selbst innerhalb der Auswahlkomitees ist diese Mentalität offensichtlich. Sie manifestiert sich nicht explizit, sondern drückt sich in Form von Verschleierungen aus oder wirkt auf einer unbewussten Ebene, die in einer kollektiven Vorstellungswelt verwurzelt ist, die durch tradierte soziale Normen strukturiert ist. Dies spiegelt dann auch die Stellung wider, die Frauen nach wie vor in unseren Gesellschaften einnehmen: Obwohl sie gebildet sind, arbeiten und in bestimmten Bereichen die Mehrheit stellen, sind Machtpositionen nach wie vor weitgehend männlich besetzt. Das literarische Feld ist von dieser Logik nicht ausgenommen: Die symbolische Macht bleibt in den Händen der Männer, und es scheint alles dafür getan zu werden, um ihr Monopol zu bewahren - nicht mehr mit direkten und brutalen Mitteln wie früher, sondern mit subtileren Methoden, die oft von den Frauen selbst akzeptiert oder sogar internalisiert werden.

Eine dieser Strategien besteht darin, eine überraschend große Anzahl von Romanen, die von Frauen geschrieben wurden, in die erste Auswahl  eines solchen Preises aufzunehmen. Diese Geste wird sowohl von den Schriftstellerinnen als auch von ihrem Umfeld als eine Form der Anerkennung wahrgenommen: als Bestätigung ihrer Arbeit,als Beweis für ihre Integration in die Szene. Doch die Anerkennung endet hier auch schon. Schriftstellerinnen dürfen nicht mehrmals hintereinander den Preis gewinnen und auch nicht die Mehrheit der Preisträger stellen, wie es derzeit bei den Männern der Fall ist. Dies erinnert in gewisser Weise an die Modellierung kolonialer Schulen: Sie erlaubten einheimischen Kindern, bis zu einem bestimmten Niveau zu lernen, bevor sie dann auf eine Berufsausbildung verwiesen wurden, um ihnen den Zugang zu Prestigepositionen zu verwehren, die der kolonialen Oberschicht vorbehalten waren - dem Inhaber eines höheren Status, der für die Einheimischen unerreichbar war.

Es scheint, ob bewusst oder unbewusst, dass alles getan wird, um eine ausreichende Distanz zwischen Frauen und den Sphären der symbolischen Macht aufrechtzuerhalten, insbesondere im Bereich der Literatur. Allein die Vorstellung, dass Schriftstellerinnen zu den Aushängeschildern der arabischen Literatur werden könnten, reicht aus, um in der Gesellschaft ein diffuses Unbehagen hervorzurufen. Dieses latente Unbehagen erklärt unter anderem, warum einige Frauen in Literaturjurys zögern, Autorinnen zu unterstützen, weil sie befürchten, der Geschlechtersolidarität beschuldigt zu werden. Diese Angst, parteiisch zu erscheinen, führt manchmal sogar dazu, dass auch sie die vorherrschenden Paradigmen übernehmen. Dies geht sogar soweit, dass sie andere Frauen ausschließen, um ihre eigene Position in einem Umfeld zu wahren, das noch immer von männlichem Denken bestimmt wird.

Ein weiteres, sehr häufiges Hindernis ist die Tendenz, das weibliche Schreiben auf sogenannte persönliche oder "weibliche" Themen zu reduzieren: den Körper, das Intime, die Sexualität, den Schmerz, die Liebe oder die Revolte. Diese Themen, die von männlichen Schriftstellern oft außen vor gehalten werden, werden als zweitrangig eingestuft, da sie dem traditionellen Rahmen der sogenannten "ernsten" oder "universellen" Literatur nicht genügen. Durch diese implizite Klassifizierung werden die Werke von Autorinnen in eine periphere Position gedrängt, als ob sie sich nur an einen Teil der Menschheit - die Frauen - und nicht an die Menschen in ihrer Gesamtheit richten würden. Dieser Blick auf das Schreiben von Frauen beruht auf einer künstlichen Hierarchie der Themen und auf einem hartnäckigen Vorurteil: dem, dass engagierte Literatur zwangsläufig weniger wert und weniger literarisch ist. Daher wird jedes Werk, das sich mit der Problematik der Stellung der Frau befasst, verdächtigt, es fehle ihm an Tiefe oder ästhetischem Ehrgeiz. Diese Argumentation, die oft ohne Begründung angeführt wird, dient in Wirklichkeit der Disqualifizierung. Dennoch weichen viele der heutigen Romanautorinnen diesen Erwartungshaltungen aua und erkunden durchaus ungewöhnliche Erzählformen und innovative Fragestellungen, und das mit großer Meisterschaft. Doch trotz dieses offensichtlichen kreativen Feuerwerks wird ihre Arbeit im Kulturbereich nur selten voll anerkannt.

Es ist daher kaum überraschend, sich wieder und wieder über das Fehlen großer weiblicher Figuren im literarischen oder philosophischen Feld der arabischen Welt wundern zu müssen. Zwar taucht diese Frage immer wieder mit Nachdruck auf,  doch ohne dass die auf der Hand liegenden Ausschlussmechanismen in Frage gestellt werden. Allzu oft wird vergessen, dass Frauen lange Zeit am Schreiben gehindert oder dazu gezwungen wurden, es im Verborgenen, unter prekären Bedingungen und ohne wirkliche Anerkennung zu tun. Und selbst wenn sie Werke schufen, wurden diese selten in den Geschichtsbüchern festgehalten, die ja meist von Männern verfasst wurden, und die weibliche Werke herunterspielten oder schlichtweg ignorierten.

Zum Abschluss dieser Überlegungen möchte ich noch eine letzte Bemerkung zum Preis selbst machen, genauer gesagt zu den wiederkehrenden Entscheidungen der Jurys hinsichtlich der bevorzugten Themen  für den Arabischen Booker-Preis. Die Themen verteilen sich nämlich im Großen und Ganzen wie folgt: An erster Stelle stehen historische Themen - das, was heute als "historischer Roman" bezeichnet wird -, sei es Kolonialgeschichte, Zeitgeschichte oder islamische Geschichte; an zweiter Stelle stehen historische Romane mit fantastischen Elementen; an dritter Stelle, wenn auch eher am Rande, stehen politische Romane; und schließlich tauchen gelegentlich, aber äußerst selten, Texte auf, die autobiografisch sind, etwa das Genre des Briefromans oder die sich mit gesellschaftlichen oder psychologischen Fragen beschäftigen. Diese thematische Ausrichtung ist zwar wahrscheinlich nicht beabsichtigt, aber dennoch problematisch - wenn nicht sogar besorgniserregend - in einem Kontext, in dem der Gewinn eines Preises oder auch nur die Erwähnung auf einer der Listen (sei sie lang oder kurz) für einen Schriftsteller oder eine Schriftstellerin oft die einzige Möglichkeit darstellt, im literarischen Raum eine Existenz aufzubauen. Manche gehen sogar so weit, dass sie auf dem Umschlag ihres Buches den Hinweis "Shortlist-Gewinner" anbringen. Ich weiß nicht, was das wirklich bedeutet - oder was es bedeuten soll -, aber sei es drum. Wenn es die einzige Möglichkeit ist, dass ein Name gewürdigt und ein Werk gelesen wird, dann sei es so.


Dieser Text wurde ursprünglich am 2. Mai 2025 in der libanesischen Zeitung Almodon veröffentlicht.