Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor

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Gilles Kepel | Le bouleversement du monde : Du 7 octobre au retour de Trump | Pocket | 338 Seiten | 9.30 EUR
Die Überschrift dieses Artikels besteht aus der fünften und sechsten Zeile des „Faust“, dem wohl bekanntesten Drama des klassischen deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe. Gesprochen wird der Satz von Faust selbst. Der Mann ist ein Magister, das heißt ein gebildeter Mann. Er spricht von seiner Lehrtätigkeit, die ihm beigebracht habe, dass wir nichts wissen können. Eine Tragödie. Sowohl als Drama als auch als Tatsache.
Gilles Kepel hat sich sein Leben lang mit dem Mittleren und Nahen Osten beschäftigt, als Universitätsprofessor darüber geforscht und unterrichtet und viele Bücher darüber geschrieben. 2024 erschien sein Buch „Le Bouleversement du Monde“ bei Plon. Jetzt hat er sein Buch noch einmal um die neuesten Entwicklungen erweitert und diesen Untertitel hinzugefügt: „Du 7 Octobre au Retour de Donald Trump“. Der Autor hat seinen ursprünglich sechs Kapiteln zwei weitere hinzugefügt. Einige der ersten sechs Kapitel waren auch schon im Buch „Holocaustes: Israel, Gaza et la guerre contre l’Orient“ erschienen. Die einzelnen Kapitel des aktualisierten Buches wirken wohl deshalb mitunter wie eine Zusammenstellung einzelner Essays, was einige unnötige Wiederholungen mit sich bringt.
Gilles Kepel betont, dass man über den Krieg zwischen der Hamas und Israel nur dann sinnvoll nachdenken und schreiben kann, wenn man fähig ist, diesen aus einer größeren Distanz zu betrachten. Allein dies stellt schon ein unüberwindliches Hindernis für nicht wenige dar. Bei allen Bemühungen um Objektivität kommt jedoch auch er um eine Positionierung nicht herum. Schon auf der ersten halben Seite stellt der Autor klar, dass der Überfall der Hamas vom 7. Oktober das größte Massaker, das größte Pogrom an Juden seit der Ermordung von etwa einem Drittel aller Juden weltweit durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg gewesen ist (durchgeführt mit viel freiwilliger Mithilfe aus den von den Deutschen eroberten Ländern). Zugleich betont er, dass die weltweite Solidarität, die Israel nach diesen brutalen Tötungen durch die Krieger der Hamas erfahren hat, sehr schnell einer weltweiten Verständnislosigkeit gewichen ist angesichts der militärischen Antwort, die zehntausende von Zivilisten das Leben gekostet hat.
Der Autor spricht im Buchtitel (Bouleversement du Monde) von einer grundlegenden Umwälzung / Veränderung / Erschütterung der Welt. Er zeigt sich überzeugt, dass der 7. Oktober die Welt in einem Punkt grundlegend verändert hat. Für ihn hat der Holocaust und seine Konsequenzen wesentliche Grundlagen der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg definiert. Diese Zeit sei nun beendet. Der Hamas sei es gelungen, den Globalen Süden in seiner Gesamtheit gegen einen globalen Norden zu positionieren, der vor allem für eines stehe: Kolonialismus. Israel sei demnach für die Hamas und ihre weltweiten Unterstützer (er nennt beispielhaft die Universitätsbesetzungen in den USA) die Speerspitze dieses Kolonialismus des Nordens. Damit habe sich ein völlig neues Narrativ etabliert und eine neue Epoche habe begonnen.
Gilles Kepel leistet eine hervorragende Arbeit in der historischen und aktuellen Darstellung der nackten Tatsachen und der internationalen Einmischungen in den Palästinakonflikt. Er hilft dem Leser von seiner eigenen emotionalen Verstrickung über das, was im Gazastreifen passiert, Abstand zu gewinnen. Er zeigt, dass Katar jahrelang mit ausdrücklicher Unterstützung durch Benjamin Netanyahu die Hamas unterstützt hat. Der israelische Ministerpräsident glaubte, die Organisation, deren Ziel immer (und bis heute) die Vernichtung des Staates Israel zum Ziel hatte, mit Wohlstand ruhig halten zu können. Deshalb ließ er die Grenze zu Gaza unbewacht und beorderte seine Soldaten ins Westjordanland, um dort die illegalen Siedler zu unterstützen. Diese illegale Besiedlung stellt die israelische Ursünde nach ihrem Sieg im Sechs-Tage-Krieg 1967 dar. Gilles Kepel lässt keinen Zweifel daran, dass Netanyahu den Krieg mit der Hamas nur deshalb so erbarmungslos führt, weil er damit die Diskussion seiner persönlichen Schuld am Erfolg des palästinensischen Überfalls ebenso verhindern kann wie die Weiterführung seiner Anklage wegen Korruption vor israelischen Gerichten. Gleichzeitig betont er immer wieder in seinem Buch, dass es der Hamas gelungen ist, für das von ihr geführte Volk eine um ein Vielfaches größere Katastrophe (Nakba) herbeigeführt zu haben, als es die Flucht und Vertreibung von circa 700.000 Menschen aus dem heutigen Staatsgebiet Israels gewesen ist.
Gilles Kepel führt uns vor Augen, was passiert ist und welche Konsequenzen daraus erwachsen (können). Eine Lösung kann auch er nicht anbieten. Die von ihm immer wieder genannte Zwei-Staaten-Lösung als Voraussetzung für saudi-arabische Hilfe beim Wiederaufbau des Gazastreifens ist so lange utopisch, wie die Palästinenser an ihrer Forderung „From the River to the Sea“ festhalten. Kein Staat dieser Welt hat jemals freiwillig seiner eigenen Vernichtung zugestimmt. Und auch die Israelis werden dies nicht tun. Das Buch von Gilles Kepel ist das Buch eines Mannes, der über die Thematik so viel versteht wie nur ganz wenige. Dennoch hat mich nicht wirklich überzeugt, dass das Massaker an über 1200 Israelis ein einmaliges, alles veränderndes Ereignis gewesen ist, wie es der Autor vertritt. Dafür gibt es heutzutage zu viele Konflikte, zu viele Kriege, von denen sich keiner mehr rein regional begrenzen lässt. Für mich ist es eher ein weiterer Kriegsschauplatz im schon begonnenen Dritten Weltkrieg. Und deshalb musste ich an Goethe und seinen „Faust“ denken, nachdem ich die letzte Seite gelesen hatte. Fassungslos vor dem, was in Gaza passiert. Und völlig ahnungslos, wie das alles zu einem guten Ende finden könnte.