Was bleibt?
Es beginnt mit schwarzen Seiten. Einer langsam sich entwickelnden Meditation über die Flüchtigkeit menschlichen Daseins im Angesicht der Entstehung des Universums. Und es geht um das menschliche Aufbegehren gegen das Vergessen, gegen die Nichtexistenz. Ein Name wird genannt: Antonia. Und unter dem biblischen Motto “Und es ward Licht” schält sich eine Situation am Strand von Valencia, Spanien, im Jahre 1946 heraus … eine Fotografie.
ReproduktPaco Roca | Rückkehr nach Eden | Reprodukt | 184 Seiten | 24 EUR
Paco Roca, 1969 in Valencia geboren, führt uns behutsam in eine Familiengeschichte ein, indem er Fotos zeigt, eine Personenübersicht zeichnet und den Leser buchstäblich durch das Schlüsselloch der Familie schauen lässt. Er springt durch die Zeiten, zeigt die alte Frau Antonia, die das Strandfoto von 1946 sucht, als sie umziehen muss. Als das Bild endlich gefunden wird, erfahren wir auch die Geschichte, die sich rund um die Aufnahme abgespielt hat und tauchen damit in das Nachkriegsspanien und die Sorgen der Familie der damals noch jugendlichen Antonia ein.
Unaufgeregt, aber nie langweilig, entfaltet sich nun der von Armut und Wohnraumenge geprägte Alltag in der Franco-Diktatur, in der Armut als selbstverschuldet galt und – fast mittelalterlich – als Gott gegebene Weltordnung hingenommen wird. Somit wird Hunger für die junge Antonia zu einem täglichen Begleiter. Auch wird die Entwicklung der Stadt Valencia bebildert, etwa das Verschwinden des Strandes des Nazaret-Viertels zugunsten des Hafenausbaus.
Mehr noch als das politische Unterdrückungssystem, das kurz skizziert wird, interessiert Paco Roca aber offensichtlich die Innenwelt Antonias. Nachdem er in „La Casa” seinen Vater zum Protagonisten machte, ist es jetzt seine Mutter, die wir hier kennenlernen. Das erinnert an die Filme Pedro Almodóvars, z. B. „Parallele Mütter”, der sich auch autobiografisch und auf einer sehr persönlichen Ebene der Geschichte Spaniens annähert.
Antonias kindlicher Horizont wird in einem wunderbaren kleinen Bild zusammengefasst, auf dem eine Karte zu sehen ist, auf der der biblische Garten Eden genauso verzeichnet ist wie der Strand in Valencia, Hollywood, China und King Kong. Alles ist für sie gleich real. So beansprucht auch die – in eigenen Farben erzählte - biblische Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies reale Gültigkeit im Bewusstsein Antonias. Wie auch die Erzählung ihrer Mutter von Don Milán, einem Seiltänzer und Sensationskünstler, der eines Tages mit einem Ballon davonfliegt und nie mehr wiederkehrt.
Aber auch die Geschichten der anderen Familienmitglieder werden erzählt, deutlich aus der Perspektive Antonias, die unter ihrem streng patriarchalischen Vater leidet und viel Sympathie für ihre „ungehorsame” Schwester Amparín aufbringt, welche früh unehelich schwanger wird.
Stilistisch aus einem Guss stehen die in gedämpften Braun-, Schwarz- und Sepiatönen gehaltenen Familienerzählungen mit einfach gezeichneten Figuren neben eingefügten Fotos. Roca orientiert sich an der frankobelgischen Schule mit Anleihen der Ligne Claire. Dazu passt auch die insgesamt sehr einfache, traditionelle Bildaufteilung, welche die Familiengeschichte “archiviert”. Allerdings wechseln ab und an die Realitätsebenen vom Alltäglichen übergangslos zu einer poetischen Metaphorik, wenn etwa der Tod als Sensenmann auftaucht oder der innere Aufruhr Antonias von einem Vulkan symbolisiert wird. Ebenfalls findet Roca ein eingängliches Bild, um den Gedächtnisverlust seiner Mutter darzustellen: Als sie als alte Frau an ihre eigene Mutter denkt, ist das Gesicht leer gelassen. Es ist entschwunden. Um so verständlicher wird dadurch ihr Wunsch, die Strandfotografie mit ihrer Mutter wiederzufinden, um ihr im Gedächtnis wieder ein Gesicht zu geben.
Wunderbar poetisch endet auch diese leise Graphic Novel, die so berührend ein menschliches Leben erzählt, in dem es immer, zumindest in der Fantasie, einen inneren Rückzugsort, einen Garten Eden gibt.