Midnight in Paris
Da steht sie. Blanche. Im schmalen Lichtstreifen, den eine Laterne auf das Kopfsteinpflaster einer Gasse des nächtlichen Paris 1930 wirft. Elegant gekleidet, Bubikopffrisur, aber mit aufgerissenen Augen, leicht zurückgelehnt, weil der große Koffer, den sie mit beiden Händen halten muss, so schwer ist. Ein wunderschönes, ganzseitiges thematisches Großbild als erste Seite der vierbändigen Gesamtausgabe – angedeutete dunkle Häuser, getuscht, mit leichtem Strich ausdrucksstark skizziert und bunt koloriert, die Protagonistin. Und auf geht’s in das schillernde Paris – in die Welt der Dienstmädchen, Tanzlokale und Bordelle – eine Achterbahnfahrt zwischen arm und reich, Glück und Verlust.
ReproduktHubert & Kerascoët | Fräulein Rühr-mich-nicht-an | Reprodukt | 224 Seiten | 39 EUR
Hinter dem Pseudonym Kerascoët verbergen sich die Zeichner:innen Marie Pommepuy und Sébastien Cosset, die auch beispielsweise an der Donjon-Serie mitgearbeitet haben. Hinter dem Pseudonym Hubert steht der 2020 verstorbene Autor Hubert Boulard, der auch als Kolorist arbeitete. (Ein letztes Interview mit ihm findet sich hier.)
Die Handlung, die mit dem Satz von Blanche „Ich mag es nicht, wenn Agathe abends ausgeht und mich allein lässt.” beginnt, zieht einen sofort in den Bann. Ein Serienmörder, der „Schlächter der Guinguettes”, treibt sein Unwesen vor den Toren von Paris, wo die Schwestern Blanche und Agathe in einer schäbigen Dachmansarde leben und als Dienstmädchen arbeiten. Als die lebenslustige Agathe in ihrem Zimmer erschossen wird, ist sich Blanche sicher, dass der Serienmörder derTäter ist. So macht sie sich an die Verfolgung und landet schnell in einem Luxusbordell, wo sie ihn als Kunden vermutet. Da Blanche ohne jegliche sexuelle Erfahrung ist, kommt die Bordellmutter auf die Idee, sie als Unschuldsengel „Rühr-mich-nicht-an” einzustellen. Erstaunlich schnell arbeitet sich das ehemalige Dienstmädchen in die Sadomaso-Spiele ihrer Kunden ein und steigt zum Star des Etablissements auf.
In den vier Bänden nimmt die Handlung dann überraschende Wendungen und der Leser lernt die Pariser feine Gesellschaft mit ihrer Doppelmoral, Brutalität und Korruption kennen, natürlich auch die schonungslose Innenwelt eines Luxusbordells, aber auch den Überlebenskampf der alleinstehenden Frauen, für die eine gute Partie fast den einzigen Ausstieg aus der Armut verspricht. Zusammengehalten wird alles durch die sympathisch-tragische Titelfigur, die in ihrer Naivität und Entschlossenheit Höhen und Tiefen durchlebt, aber auch durch interessante Nebenfiguren, wie etwa ihre Mutter, die mit ihrer egoistischen und rücksichtlslosen Haltung ein abstoßend erfolgreiches Gegenmodell zu Blanche darstellt.
Erotik, Spannung, abwechslungsreiche Farbgestaltung, detailliert gezeichnete historische Innen- und Außenräume und die leicht-schwungvolle Figurengestaltung, die immer wieder ins Groteske, Übertriebene wechselt, machen diese mehrteilige Graphic Novel zu einem Lese-/Schaugenuss.