Manchmal versperren Wolken die Sicht

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Manchmal versperren Wolken die Sicht

Fabian Lenthes Gedichtband „Streichhölzer“ ist ein so lesenswertes wie frisches Angebot zu etablierter und viel bepreister Gegenwartslyrik
Fabian Lenthe
Bildunterschrift
Fabian Lenthe

Galante Lügen: die Lyrikkolumne unter der Federführung von Alexandru Bulucz - frei nach Johann Christian Günther, dem Barockdichter auf der Schwelle zur Aufklärung, der Spötter mit den Worten wiedergab, Poeten seien "nur galante Lügner". Hier wird Dichtung reflektiert und präsentiert werden: in Rezensionen, Essays, Monatsgedichten und gelegentlich auch Bestenlisten.

Fabian Lenthe, 1985 geboren und Verfasser mehrere Gedichtbände, ist ein Solitär der deutschen Gegenwartslyrik. Darauf macht auch der Klappentext seines neuen Bandes „Streichhölzer“ aufmerksam: Der Dichter wird dort in der Tradition der poètes maudits und der beat poets verortet – zwei literarische Strömungen der Moderne mit Zentren in Frankreich und Amerika, die das „Verfemte“ in den Vordergrund rückten und für eigene, für antibourgeoise Lebenshaltungen, Weltanschauungen und Wertesysteme optierten. 

Lenthe vermittelt seine literarische Tradition über die Markierung sozialer Unterschiede (Zigarette und Bistro vs. Loft und Crème Brûlée; das Kontrollieren der Münzschlitze der Einkaufswagen usw.). Er lässt das lyrische Subjekt ambitionslos, untätig und bisweilen geistesabwesend, aber umso empfänglicher für innere Prozesse erscheinen. Er hält es im Bewusstsein über dessen Ausweglosigkeit und Bedeutungslosigkeit, und doch macht er es auch zu einem Glückssuchenden: „Meine Absicht/ Ein glücklicher Mensch zu werden/ Ist offensichtlich“.

Dabei zieht Lenthe das titel- wie interpunktionslose und von nur wenigen Strophen strukturierte Kurz- und Kürzestgedicht vor, das sich mit dem brasilianischen Avantgardisten Oswald de Andrade als „Sekundengedicht“ bezeichnen ließe. Hans-Jürgen Heise, ein inzwischen fast vergessener deutscher Schriftsteller, hat das Sekundengedicht als augenblicksverliebt und sensualistisch definiert. Es erfasst die punktuelle Wahrnehmung konkreten Lebens, bei Lenthe vor allem: Stadtlebens, seien es Brathähnchen von gestern, die vor dem Supermarkt verkauft werden, ein Kadaver am Straßenrand, ein im Sommer vom Himmel gefallener toter Spatz, Geräusche aus dem Abfluss oder in der Pfanne spritzendes Öl.

Streichhölzer, Lenthe

Fabian Lenthe | Streichhölzer. Gedichte | XS-Verlag | 96 Seiten | 18,00 EUR

Dass sich Lenthe angesichts seines Selbstverständnisses als subkultureller Literat mit Zeitkonzepten auseinandersetzen würde, war zu erwarten. Seine Dichtung setzt die Chronometrie außer Gebrauch. Das lyrische Subjekt denkt darüber nach, ob die Uhr tags oder nachts stehengeblieben war – sie muss seit Längerem kaputt sein. Dazu gehören sowohl die Auseinandersetzung mit dem Tod und der Vergänglichkeit, angedeutet im „Verblassen/ Meines Namens/ Auf dem Briefkastenschild“ oder der halbierten „Leuchtkraft der Glühbirne“, als auch Kindheitserinnerungen und das Festhalten eines gewissen Ennuis, der sich in der Ausmessung von scheinbar Unwichtigem zeigt: „Zwischen dem Blinken des Rauchmelders/ Vergehen vierundneunzig Sekunden“. Oder: „Die Dauer eines Vorbeifluges/ Eines durchschnittlichen Passagierflugzeuges/ Von einer Seite des Fensters/ Zur anderen/ Beträgt etwa fünfzehn Sekunden// Manchmal/ Versperren Wolken die Sicht/ Und ich zähle stattdessen/ Die Anzahl der Krähen/ Die sich auf den Dächern/ Der Nachbarhäuser befinden“.

Bemerkenswert ist zudem, wie es Lenthe mit sozusagen nur wenigen Pinselstrichen gelingt, Atmosphäre zu schaffen, indem er sich Farb- und Lichtverhältnisse zunutze macht: zum Beispiel eine Reklametafel gegenüber dem Hotel, die das Zimmer mit ihrem gelben, grünen und blauen Neonlicht färbt. Was wiederum nur möglich ist aufgrund einer Durchlässigkeit zwischen dem Innen und dem Außen, die das Außen befähigt, zum Innen zu werden: „Irgendwo ein Spalt/ Eine angelehnte Tür/ Ein halb geöffnetes Fenster/ Durch das ein Außen dringt/ Zum Innen wird“. Oder die Vorhänge eines Hotelzimmers.

Naturlyrik tritt bei Lenthe in äußerst dezenter Gestalt in Erscheinung, was als Kritik an allzu sophisticated daherkommender gegenwärtiger Nature Poetry verstanden werden kann. Das lyrische Subjekt und die Natur stören sich nicht aneinander, sie wird lyrisch nicht ausgebeutet: Der Fluss fließt, der Sonnenaufgang ist irrelevant, und die Krähen bekommen nichts mit von menschlicher Anteilnahme.

Der Gedichtband „Streichhölzer“ ist ein lesenswertes und frisches Angebot zu etablierter und viel bepreister Gegenwartslyrik, melancholisch und nachdenklich, von Popkultur beeinflusst und ein Rauchverbot strikt ablehnend.

Rezensiertes Buch